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Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das
Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten,
aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie
elektrischer Strom.
Als ich bei über hundert Kilometern pro Stunde einem BMW hinter uns auf die
Motorhaube pisse, spüre ich diese Macht. Als ich da im Dachfenster stehe,
die Hose bis zu den Oberschenkeln heruntergelassen, sehe ich das große
weiße Gesicht des Fahrers: Die Augen geweitet, vor Schreck, Entsetzen,
Empörung, bläht es sich auf wie ein Ballon, ich würde gern mit einer Nadel
hineinstechen.
Ich bin neunzehn, ich bin zehn Meter groß und acht Meter breit, ich bin
unverwundbar.
Als am 27. August 2018 Männer meiner Generation, so um die vierzig, in
Chemnitz einen „Trauermarsch“ veranstalten und einige ihre nackten Hintern
in die Kameras halten, wie man es bei YouTube sehen kann, denke ich an
meine Autobahnfahrt. Als schwere Männer Hitlergrüße zeigen und Menschen
angreifen, deren Hautfarbe ihnen nicht passt, als die Polizisten nicht
einschreiten, bin ich paralysiert, als würde etwas Dunkles hochkommen, von
dem ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich
auch an diesen Machtrausch, den Kick, wenn du jemandem klarmachst: Regeln?
Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?
Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit
euch?
## Die Sieger der Neunziger
Zum Tag der Deutschen Einheit wird es wieder die geben, die erzählen, warum
die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Schon das Wort
„Wiedervereinigung“ ist eine Lüge, werden die anderen sagen, die vor allem
sehen, was verloren ging: Betriebe, Selbstachtung, ganze Leben. Gerade sind
die besonders gut zu hören, die sagen: Erkennt endlich die Leistungen
derjenigen an, die sich eine neue Welt aufbauen mussten. Die auch oft
sagen: Lasst mich in Ruhe mit den Opfergeschichten, wir sind stolz auf das,
was wir geschafft haben, selbst wenn wir gescheitert sind.
Gerade, fast dreißig Jahre nach der Wende, erzählt die Generation meiner
Eltern und Großeltern ihre Geschichten. Nicht das erste Mal, aber es
scheint die richtige Zeit zu sein. Die sächsische Staatsministerin für
Integration, Petra Köpping, hat einige dieser Geschichten aufgeschrieben in
ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“ und sie füllt in Ostdeutschland
zur Zeit jedes Haus.
Es geht viel um verlorene Arbeitsplätze und ja, das klingt hübsch
technisch, wie ein leicht lösbares Problem. Aber in diesem preußischen
Vollbeschäftigungsstaat namens DDR, in dem Arbeit gleich Lebenssinn war und
die wenigen, die keine Jobs hatten, „Assis“ gerufen wurden, bedeutete das
eben auch: Kollegen, Brüder, Ehemänner, die sich erhängten, Geschwister und
Cousins, die sich langsam zu Tode soffen, Familien, in denen es erst heiß
aufwallte wie in einem Vulkan, weil einer jetzt mehr hatte als die anderen
und dann erstarrte alles zu einer toten Landschaft kalter Schlacke. Frauen,
die so sehr anpackten, um sich, ihre Männer und ihre Kinder durchzubringen,
bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als der Wille „es zu schaffen“.
Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht
derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der
Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die
Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen
aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?
„Mit den neunziger Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit
wieder hochkommen“, sagt Manja Präkels, „und wenn ich im Land unterwegs
bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als
Sieger der Kämpfe der neunziger Jahre begreifen.“
Präkels hat das Buch „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ geschrieben,
über die letzten Tage der DDR und das barbarische Jahrzehnt, das
Ostdeutschland danach erlebte. Präkels ist 1974 geboren und in Zehdenick
aufgewachsen, einer Stadt nördlich von Berlin. Ihr Buch ist neben „Oder
Florida“ von Christian Bangel der zweite Roman mit autobiografischen Zügen,
der im vergangenen Jahr erschienen ist und vom Ostdeutschland der neunziger
Jahre handelt.
Ich habe sie angerufen, um sie zu fragen, ob auch sie sich an damals
erinnert fühlt, wenn sie die Bilder aus Chemnitz und Köthen sieht. Sie
sagt, wenn sie auf Lesereisen unterwegs sei oder bei Tagungen, dann treffe
sie auf Rechtsextreme, die angetrieben sind von dem, was sie damals
erreicht haben in Rostock-Lichtenhagen und bei den vielen kleineren Feuern,
die kaum jemand sah. „Sie begreifen sich als Sieger dieser Kämpfe“, sagt
Präkels, „weil nichtweiße Menschen damals aus Ostdeutschland
abtransportiert worden sind. Das hat die Gewalt jener Jahre in ihren Augen
nachträglich legitimiert.“
Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es
nicht 1989. Für mich begann es in der DDR.
## Ein Hakenkreuz auf der Schulbank
In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die
Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht,
einmal an einem Junitag 1987, während ich in mein Diktatheft krakele:
„Heute kommt unsere Mutter spät nach Hause. Wir wollen helfen.“ Hakenkreuze
malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Jedes Mal brüllt
ein kleines Tier in meinem Brustkasten seine Freude darüber hinaus, nicht
erwischt worden zu sein. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder
ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht.
Aber Ricardo ist zu langsam gewesen oder vielleicht hat er vergessen, die
Striche weiter zu ziehen, ich sehe es, zwei Freunde sehen es, wir nehmen
ihn uns vor, als die Lehrerin nicht im Klassenzimmer ist. Es ihr zu sagen,
geht nicht. Eine Petze zu sein, war schlimmer als alles andere. Wir müssen
das unter uns regeln.
„Du weißt, dass das falsch war?“, frage ich.
Er heult. Er ist schwerer als ich und größer, aber er versucht nichts, zwei
andere Jungs aus der Klasse stehen neben ihm. „Nimm die Brille ab“, sage
ich. Ricardo heult noch ein bisschen mehr, er fleht mit großen Augen und
ja, na klar, wohnen wir im gleichen Block und ja, wir wollen uns am
Nachmittag wieder beim Sandkasten vor dem Haus treffen, aber erst einmal
muss das hier erledigt werden.
Der im sozialistischen Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila hat
dieses Verhalten von Jungen in seinem Buch „Tierchen Unlimited“ so
beschrieben: „Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei
spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein
kaltes, appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und
Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso,
der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand.“ Vielleicht blieb dieser
Torso übrig, als der Kopf mitsamt der DDR verging.
## Rechte Gewalt ist „Rowdytum“
Ums Kämpfen ging es in der DDR oft, die größten Kämpfer waren die, die
nicht mehr lebten: die kommunistischen Antifaschisten, die in den Lagern
gestorben waren, damit wir es besser hatten. Von Wandbildern und aus
unseren Schulbüchern blickten uns muskulöse weiße Männer an. Von den Juden
erzählten unsere Lehrerinnen nur, dass die Nationalsozialisten sie
umgebracht hatten. Gekämpft hatten sie jedenfalls nicht.
Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Zu
viert oder zu fünft laufen wir über Kopfsteinpflaster und schwarzen Sand
nach Hause, am Friedhof und an der Kneipe vorbei hin zu den vier
Neubaublöcken am Rande des Dorfes.
Einer fragt: „Was ist der Hauptgewinn in der KZ-Lotterie?“
Ich sage: „Kenn ich doch schon. Eine Platzkarte in der Gaskammer.“
Später habe ich unsere Witze in dem Buch „Das hat’s bei uns nicht gegeben!“
wiedergefunden. Veröffentlicht hat es vor einigen Jahren die Amadeu Antonio
Stiftung, benannt nach einem angolanischen Vertragsarbeiter, den junge
Männer 1990 in Eberswalde so lange schlugen, bis er ins Koma fiel und
später starb.
Woher wir unser Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht
geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt.
Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die
Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen
wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf
jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen,
„Rowdytum“ und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks
und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger
vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse
einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.
Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf,
eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und
Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und
wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom
unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch
zu funktionieren.
## Eine verstörende Untersuchung
War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer
kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen,
es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches
Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie „Holocaust“ nicht im Fernsehen,
die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen –
zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen,
sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist
es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber
zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst
andere jagen?
Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner
Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die
neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis
zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse
verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder
wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet
hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.
Wir lesen „Pawel“ in der vierten Klasse. Wir haben das grüne Schulbuch vor
uns auf dem Tisch liegen, wir lesen abwechselnd ein paar Sätze vor. Ein
Leutnant der Wehrmacht sitzt am Rande eines brennenden sowjetischen Dorfes
und sieht einen spielenden Jungen. Er denkt: „Worin besteht der Unterschied
zwischen diesem und einem deutschen Kind?“ Er rettet den Jungen vor dem
heranrasenden Auto eines Feldwebels, sie fliehen zusammen zu sowjetischen
Soldaten und der Leutnant kehrt an der Seite der Roten Armee nach
Deutschland zurück. Fünfeinhalb Seiten dauert die Transformation des
Nazi-Offiziers zum Kommunisten und sie beschreibt in ihrer kindgerechten
Kürze recht gut den antifaschistischen Mythos der DDR. Der Staat musste ein
paar Verführer bestrafen, den großen Teil seiner Bürger konnte er dann,
ohne groß über die Vergangenheit zu reden, zum Aufbau des neuen Staates
einsetzen.
Zugleich wussten wir wenig vom Fremden. Selbst unsere angeblichen Brüder
kannten wir nicht. „Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit
dem Sowjetvolk“, schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber
wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind.
Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem
Kindergarten vorbei und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach.
„Scheißrussen“, sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage warum, sagt
er: „Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte,
wären die jetzt nicht hier.“ Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt.
Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen
waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem
Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und
tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen, um
die als Beweis zu präsentieren. Als die Staatssicherheit 1960 im Bezirk
Rostock eine „Aufstellung über Hakenkreuzschmierereien“ mit über fünfzig
Delikten erstellte, sagte der Leiter der Bezirksverwaltung, diese seien
„Teil der Provokation aus Westdeutschland“. In „Käuzchenkuhle“, einem der
bekanntesten Jugendbücher der DDR, löst ein Junge zusammen mit seinen
Freunden einen Kriminalfall, bei dem „der Fremde“, ein ehemaliger SS-Mann
aus Westdeutschland, zurückkehrt, um alte Nazi-Raubkunst zu bergen. Noch
2006 erklärte mir der SPD-Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes vor
einem Interview, das Naziproblem käme aus dem Westen und, nein, in der DDR
habe es das nicht gegeben.
Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor
den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen
könnte.
## Ich wollte Krieg
Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und
sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule,
als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten,
war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkamen,
begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen
Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn
jetzt?
Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollte Tiananmen-Platz in Berlin
und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da
draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole
klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen
und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden
wir gewinnen.
Wir fuhren mit dem Begrüßungsgeld nach Berlin-Spandau. Bei Karstadt kaufte
ich mir ein Telespiel, einen kleinen blauen Computer, mit dem ich Eishockey
zocken konnte.
Mit jedem neuen Level wurde der Puck schneller und schwieriger zu
erreichen. Es fing mit Piep – piep – piep an und steigerte sich pieppiep
pieppiep pieppiep bis zu pipipipipipip. Wie hypnotisiert starrte ich auf
die kleine blinkende Scheibe, bis die Welt um mich herum nur noch gedämpft
zu hören war, wie hinter Watte. Die Erwachsenen hatten mich verraten, ich
hatte mich für ein Computerspiel verkauft. Ich war wütend, aber ich hatte
keine Ahnung auf wen.
„Du warst im HJ-Modus“, hat zwei Jahrzehnte später ein Freund zu mir
gesagt, „wie die Hitlerjungen beim Volkssturm“. Da wohnte ich schon lange
in Berlin. Er hatte in den Jugoslawien-Kriegen genügend Jungen gesehen, die
für Wut, Angst und Ohnmacht ähnlich der meinen gestorben waren.
## Eine Rakete mit Freund-Feind-Zielsystem
In der zweiten Klasse sangen wir: „Soldaten sind vorbeimarschiert, die
ganze Kompanie. Und wenn wir groß sind, wollen wir Soldat sein so wie sie.“
In unserem Musikbuch standen Lieder über den Frieden auf der Welt und „Ein
Männlein steht im Walde ganz still und stumm.“ Aber eben auch: „Mein Bruder
ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder
schützt den Staat.“
Vor wem der große Bruder uns schützte, war klar: Vor dem Westen. Aber
niemand schützte mich jetzt. Kämpfen wollte ich, aber gegen wen? Wohin
fliegt eine Rakete mit einem Freund-Feind-Zielsystem, wenn die eigenen
Eltern zum Gegner übergelaufen sind?
War ich der einzige, dem es so ging? Ich weiß es nicht, ich habe mich mit
Freunden nie darüber unterhalten.
Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre
Menschen, graue Menschen, meistens vor irgendwelchen Schornsteinen oder
Werktoren und immer macht irgendetwas zu. Dann zerfallen die Männer auf dem
Dorf. Wenn ich von der Schule komme, sitzen sie an den Garagen. Sie haben
früher Kräne gefahren, große russische Traktoren und Mähdrescher. Jetzt
erzählen sie sich Witze über ihre Frauen, die mit irgendwelchen Putzjobs
oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchen, die Familien über Wasser zu
halten. Sie sagen: „Die Alte nervt“. Dann trinken sie noch einen Schnaps.
Oft reden sie gar nicht.
In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, sehen und hören wir die
passenden Botschaften dazu. Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen
Welt zurecht zu finden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken.
Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt
beim Fliegen zu und noch später bin ich stolz darauf, dass „wir“ härter
sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als
Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund
und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend
sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste
erwartet wird. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger sehe ich das noch nicht,
ich sehe nur die Männer in ihren Garagen und ich sehe meine Zukunft.
## Die Polizei weicht zurück
Mein Vater trinkt dort nicht. Die Bundeswehr hat ihn übernommen. Im
Frühjahr 1992 werden sie bei der Kontrolle eines sowjetischen Stützpunkts
beschossen. Mein Vater verlässt die Armee und verkauft später
Versicherungen. So wie viele andere Männer aus der Polizei, dem Ministerium
für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee. Ein Abstieg war es,
aber er war nicht so hart.
Im Fernsehen sieht man Häuser brennen, in denen vietnamesische
Vertragsarbeiter leben. Man sieht Männer, die mit Gehwegplatten auf
Menschen werfen. Ich sehe, wie die Polizisten verloren vor der Meute
stehen. Ich sehe, wie sie zurückweichen.
„Offenbar ist vielen im Westen nicht klar, dass in Ostdeutschland zwei
Generationenkohorten existieren, deren kollektive politische Erfahrung sich
daraus speist, ein politisches System gestürzt und anschließend den neuen
Staat in Hoyerswerda und Rostock gezwungen zu haben, vor ihrem rassistisch
motivierten Willen zurückzuweichen.“ Das schreibt der
Rechtsextremismus-Experte David Begrich nach den Märschen von Chemnitz in
einem Text, den viele auf Facebook teilen. Begrich war damals in
Rostock-Lichtenhagen, er war einer derjenigen, auf den die grölenden Männer
Gehwegplatten warfen.
Bis Ende der neunziger Jahre weicht dieser neue Staat zurück – in den
Kleinstädten und Dörfern. Viele Menschen, die so alt sind wie ich, rechnen
nicht mehr mit ihm. Wir sehen alle dasselbe: Es kommen keine Polizisten,
wenn dreißig Kahlrasierte vor einem Jugendklub auftauchen und Leute
vermöbeln oder sie kommen nur zu zweit und bleiben dann in ihren Autos
sitzen. Was sollen sie machen? Selbst verdroschen werden? Das passiert
manchmal auch.
Die große Macht der Volkspolizisten ist ebenso gebrochen wie die unserer
Lehrerinnen. In der DDR konnten diese Autoritäten noch im Alleingang ganze
Biografien versauen – du darfst studieren und du nicht – und jetzt lachen
wir sie aus, wenn sie vor uns stehen. Wir lachen, bis sie heulen. Sie haben
Angst vor der neuen freien deutschen Jugend.
## Du kannst sterben, ganz leicht
Heute bin ich öfter in osteuropäischen Staaten unterwegs, die früher
ebenfalls sozialistisch waren. Wenn ich dort mit Leuten meines Alters über
die Brüche der Neunziger rede, die Barbarei, die Entgrenzungen, die sie oft
härter und krasser beschreiben, weil es dort härter und krasser war als in
Deutschland, dann finde ich bei ihnen ein Verhältnis zur Polizei, was mich
an meines damals erinnert: irgendetwas zwischen Furcht und Verachtung.
Und natürlich sind das heute nicht die Neunziger, der neue Staat hat sich
konsolidiert. Aber wenn wie in Chemnitz dann doch zu wenige Polizisten dort
stehen, wenn Beamte in Köthen eine rechtsextreme Rednerin bei ihren
Vergasungs- und Mordfantasien nur filmen, statt sofort in die Demo zu
gehen, dann bestärkt das Nazis wie ihre Gegner in dem, was sie gelernt
haben: Der Staat weicht zurück.
Nach dem Mauerfall lernte ich noch etwas, in den folgenden Jahren, als die
Liste der Toten immer länger wurde: Du kannst sterben, ganz leicht. Wenn in
einer Horde von Nazis nur ein Psycho dabei ist, nur einer, dem deine Fresse
nicht gefällt und der dann nicht aufhören kann, dann bist du tot. Manche
Bekannte bildeten sich ein, sicher zu sein, weil sie weiß waren. Sie
glaubten, sich verstecken zu können. Aber wer anders ist und wer nicht, das
legst nicht du selbst fest, sondern der Nazi. Es starben Mahmud Azhar und
Farid Guendoul ebenso wie Wolfgang Auch und Horst Hennersdorf.
Als ich dem Hass zum ersten Mal persönlich begegne, bin ich elf oder zwölf
Jahre alt. Meine Mutter arbeitet noch immer als Agrochemikerin, sie
berechnet, wie viel Dünger das gelbe Streuflugzeug auf die Felder um unser
Dorf herunterfallen lässt. Der Pilot dieses Flugzeuges sitzt eines Tages
bei uns im Wohnzimmer auf einem brauen Stoffsessel, er wartet auf meine
Mutter und ich frage ihn, weil ich ihn mag, weil ich ihn cool finde, ich
meine, er ist schließlich Pilot, jedenfalls frage ich ihn, wie es denn
jetzt für ihn weitergeht. Und er erzählt von den „Wallstreetjuden“, die das
alles zu verantworten hätten, er wird lauter, erregter, brennende Röte erst
am Hals, dann im Gesicht. Ich weiß das noch so genau, weil ich mit dem Wort
„Wallstreet“ nichts anfangen kann und Juden, denke ich, gibt es doch bei
uns gar keine. Der Mann überrollt mich mit einer Wut, von der ich weder die
Quelle kenne noch das Ziel.
## Die Söhne der Nazi-Clans
Neue Regeln. Ich hätte sie gerne gelernt, wenn ich denn welche begriffen
hätte. Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt,
wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad, aber dann bist du
zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen? Auch andere versuchten, die
neue Welt zu ordnen: Die Kreisstadt ist rechts, die Dörfer sind links. Aber
diese Ordnung zerbröselte sofort wieder, wenn fünfzehn, zwanzig, dreißig
Nazis ein Dorffest aufmischten.
Viele Glatzen kamen aus großen Familien, die lebten in ihren Häusern
inmitten von Hitlerbüsten und Reichskriegsflaggen. Die Clan-Söhne mit den
Namen, die man fürchten musste, waren vier bis acht Jahre älter als ich.
Mit ihren tiefergelegten Golfs oder zu Fuß patrouillierten sie durch die
Stadt. Wen sie verschonten und wen sie sich vornahmen, folgte einem Kodex,
den vor allem sie selbst verstanden. Wenn sie jemanden aus DDR-Zeiten
kannten, aus der Schule, konnte das gut sein. Oder eben besonders schlecht,
wenn sie ihn schon damals nicht mochten. Bunte Haare waren scheiße, lange
auch. Aber wer aus der Kreisstadt kam, die übrigens Mitte der Neunziger zur
Kleinstadt degradiert wurde, der war auch mit langen Haaren an einem Abend
okay, und man mischte lieber eine andere Nazi-Gang auf, weil die vom Dorf
nebenan war und „sich hier breit gemacht hatte“.
In den neunziger Jahren habe ich diese Zusammenhänge nur vage begriffen.
Vieles habe ich erst bei Gesprächen für diesen Text erfahren. Ich kannte
keinen der wichtigen Nazis, ich kam vom Dorf, ich war weit entfernt vom
Zentrum der Macht. Ich konnte nicht zwischen denen unterscheiden, gegen die
ich mich vielleicht hätte wehren können, ohne dass gleich fünf Mann auf die
Suche gingen, und denen, die Lebensgefahr bedeuteten.
Mir passierten einfach Dinge.
Ich sitze im Bus, drei Glatzen steigen ein, ohne zu bezahlen. Sie laufen
nach hinten durch, ich tue so, als würde ich lesen. Sie laufen an mir
vorbei, plötzlich ist es nass in meinem Gesicht. Einer hat mir ins Gesicht
gespuckt. Bevor ich das kapiere, drückt mir der kleinste der Typen seinen
Daumen in die linke Wange und reibt kräftig, bis mir die Zähne wehtun. „Du
musst dich doch saubermachen“, sagt er mit hoher Stimme. „Muss Mutti dir
erst bis in den Bus nachlaufen, hm?“ Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein
Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, die drei bepissen sich fast vor
Lachen. Die Hand des Kleinen riecht nach altem Tabak.
Als ich die drei Kilometer von der Schule mal nach Hause laufe, hält ein
Auto mit quietschenden Reifen neben mir. Ich renne sofort los, rein ins
Feld. Hinter mir höre ich es lachen. Ich laufe über zartes Frühlingsgrün,
schwere Brocken Matsch kleben an meinen Schuhen und fallen wieder ab. Sie
fahren auf der Straße nebenher, rauchen und schauen mir zu. Ein Kilometer
vor dem Dorf geben sie Gas und verschwinden.
Der Junge, der in der DDR auf die „Scheißrussen“ geschimpft hat, erklärt
mir die Bordbewaffnung seiner Karre. Er zeigt mir seinen Baseballschläger
und wo er die Schreckschusspistole unter dem Beifahrersitz versteckt hat.
„Ich fahr nicht mehr unbewaffnet raus“, sagt er, „ich bin doch nicht blöd.“
Wie durch die Milchglasscheibe eines Bahnhofsklos sehe ich die Zeit von
1991 bis 1998. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Es geht nicht nur mir
so. „Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich mir die ganzen Neunziger nur
eingebildet habe“, sagt Manja Präkels, als wir uns darüber unterhalten. Sie
sagt: „Selbst Freunde, die dabei waren, konnten oder wollten sich nicht
mehr erinnern.“
## Ich bin Beute
Als Kind war ich noch klein und dick, aber in der Pubertät schieße ich in
die Höhe. Genetisch bin ich Nazi, fast 1,90 Meter groß, blond, graublaue
Augen. Ich trainiere mit Hanteln. Aber mir fehlt das Schläger-Gen, die Lust
am Blut der anderen, ich sehe den Hunger in den Augen der Clan-Söhne und
ihrer Handlanger und ich weiß, ich bin Beute. Also versuche ich zu
verschwinden, ich trage grau, ich bin ein Mäuschen. Gott, wenn ich doch nur
kleiner wäre.
Hatte ich nicht erst gestern noch alles über Ernst Thälmann und seine
Genossen gelesen? Wie sie gestorben waren im Kampf gegen den Faschismus?
Ich will nicht sterben, ich will nur in Ruhe gelassen werden. Ich schäme
mich. Wir schämen uns alle. „Die neunziger Jahre sind in Ostdeutschland ein
großes Tabu“, sagt Manja Präkels. „Diese Zeit ist mit großer Scham
behaftet.“ Jeder hat seinen eigenen Grund dafür. Der eine wird gefeuert und
findet nie wieder Arbeit, der nächste steht hinter der Gardine und freut
sich heimlich, weil das Asylbewerberheim brennt und ich, ich bin eben ein
Feigling.
Es wäre durchaus anders gegangen. Es gab die aufrechten Antifaschisten, die
Punks, ich wusste von ihnen, ich sah sie allerdings nie auf der Straße.
Frauen, die mit mir zur Schule gingen und mit denen ich für diesen Text
gesprochen habe, sagten mir, sie hätten keine Angst gehabt. Eine erzählte
mir, die Glatzen aus ihrem Dorf hätten meist versucht, sie zu beeindrucken.
Sie sagt auch, sie wüsste nicht, ob die schlimmsten Schläger wirklich Nazis
waren. Es war und ist nicht ganz einfach, die Trennlinie zwischen denen zu
ziehen, die schlagen wollten und sich dafür eine Rechtfertigung in „Mein
Kampf“ suchten und denen, die schlugen, weil sie es politisch geboten
fanden. Gewalt war normal und in dieser Normalität schwammen die Nazis wie
Fische im Meer.
Meinen Eltern erzählte ich nichts. Das wäre petzen. Die Jungs haben die
Dinge früher unter sich ausgemacht und das sollen sie jetzt auch. Außerdem
war mir ja nichts passiert. Kein Zahn ausgeschlagen, alle Augen noch drin,
tot war ich auch nicht. Andere haben ihren Vätern und Müttern etwas
erzählt, Manja Präkels schreibt darüber in ihrem Buch und sie schreibt
auch, was viele Eltern geantwortet haben: Provozier doch nicht!
## Welche Realität ist richtig?
Die Erwachsenen konnten sich nicht vorstellen, dass die lieben kleinen
Ricardos, Michaels und Kais von früher zu Kampfmaschinen mutiert sein
sollten. Ich hätte es ihnen auch nicht erklären können. Also beschworen sie
eine Parallelwelt herauf. Es gibt kein Problem mit Rechtsextremismus,
sagten die Bürgermeister, wenn wieder mal einer verpocht wurde oder starb.
Ich fragte mich, wer verrückt ist, die oder ich?
„Über die Eltern brach die Katastrophe herein, die mussten überleben“, sagt
Manja Präkels dazu, „und dabei gingen ihnen die Kinder oft verloren.“ Und
wenn ständig nur geleugnet werde, wenn sich gegenseitig permanent bestätigt
werde, es sei normal, wenn bei den Spielen der A-Jugend das
Horst-Wessel-Lied gesungen werde, dann entstehe eine neue Normalität.
Und heute? Ein sächsischer Ministerpräsident, der erst einmal betonen
möchte, in Chemnitz sei alles nicht so schlimm gewesen. Ein
Verfassungsschutzchef, der in der Bild sagt, ein Video von einem Angriff
sei veröffentlicht worden, um von einem Mord abzulenken. Welche Realität
ist die richtige? Die meisten Menschen glauben einem Ministerpräsidenten
mehr als einem Mann, der nicht weiß ist und erzählt, wie er verfolgt wurde.
Ab der siebten Klasse, im Herbst 1991, gehe ich aufs Gymnasium. Meine
Freunde vom Dorf treffe ich nur noch selten, ich war jetzt etwas Besseres,
zumindest sehen sie das so oder ich denke, dass sie es denken. Ich ziehe
mich zurück. Ich habe früher schon gern gelesen, jetzt lese ich eben noch
mehr. Kurz vor der Wende sind wir in einen anderen Block gezogen, ich habe
ein eigenes Zimmer und muss nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter
in einem Bett schlafen. Das macht es einfacher, mich zu verstecken. Als ich
sechzehn Jahre alt bin, kaufen meine Eltern einen Computer und ich spiele
Eishockeymanager. Diese Welten sind vom Draußen unberührt und
kontrollierbar. Ab und an gehe ich raus, tauche auf wie ein U-Boot nach
langer Fahrt. Die Nachrichten von der Oberfläche sind über Jahre die
gleichen: Entweder es gibt Stress oder einer erzählt, wie es Stress gab.
„Der hat seine Freundin gezwungen, als Nutte zu arbeiten und die dann mit
dem Kabel erwürgt.“
„Neulich haben sie den einen an der Havel fast kaltgemacht.“
„Die sind mit der Axt in den Jugendklub rein. Die hinter der Tür hat es
gleich erwischt. Die Bullen waren wieder bloß zu zweit da.“
## Ich finde neue Freunde: Rechte
Freunde habe ich wenige. Ich bin ein Trottel vom Dorf. Meine Mutter hat mir
zwar nach langer Bettelei eine Levis gekauft, aber an meinem dicken Hintern
sieht die Jeans so aus, als versuchte jemand, meinen Arsch zu zwei dünnen
Würsten zu kneten. Tragen muss ich sie trotzdem, die Hose war teuer. Im
Schulbus lachen sie über mich. Ich bin oft alleine, also ein Ziel und
deshalb gehe ich noch weniger raus.
Nach drei Jahren am Gymnasium finde ich andere Freunde.
Dabei sind: Ein kleiner Dünner, der oft lächelt und der mich mit dem Auto
nach Hause fährt, wenn es spät wird. Er sagt: Schon mein Vater war ein
Rechter. Dafür hatte er Ärger mit den Scheißkommunisten.
Ein anderer aus der Clique schaut oft finster, aber kitzelt einen ab, wenn
es in der Schule scheiße gelaufen ist. Er findet die NPD gut und hat
Kontakte zu einem Fascho-Clan in einem größeren Dorf in der Nähe.
Außerdem: Der Sohn eines Polizisten, der immer laut ist, immer Faxen macht,
großzügig mit allen teilt und der Kanaken scheiße findet.
Dann einer, der immer ganz ruhig ist, obwohl ihm seine Mutter Stress macht,
er dürfe nicht absacken, nicht versagen, nicht untergehen in dieser neuen
Welt. Er hört zu Hause CDs von Bands wie Zyklon B und Zillertaler
Türkenjäger. Auf der Heckscheibe seines Autos prangt in Fraktur der
Schriftzug „Euthanasie“. Die Band heißt eigentlich „Oithanasie“, aber er
findet es damals ein lustiges Wortspiel, den Namen so zu schreiben.
Wir durchstreifen das Land im Konvoi. Zum nächsten McDonald’s an der
Autobahn, an die Ostsee, nach Tschechien, nach Dänemark. Je mehr wir sind,
desto mehr weitet sich unsere Landkarte.
Zwei Autos sind gut, vier Autos sind besser. Im Schwarm schrecken wir
andere ab. Ich entdecke, wie geil es sein kann, jemandem Schiss zu machen
statt selbst der Schisser zu sein. Ich pinkle einem Wessi auf die
Motorhaube.
## Der Soundtrack der Böhsen Onkelz
„Rechts“ und „links“, das ist eine Sache der Klamotten, der Frisur und der
„inneren Einstellung“, wie wir das damals nennen. Die Mode der harten Nazis
verbreitet sich in Molekülen auch an den Gymnasien, die grünen Bomberjacken
mit dem orangefarbenen Innenfutter tragen viele. Ich habe lange Haare, ich
habe „nichts gegen Ausländer“, ich finde es scheiße, sie zu jagen und zu
verprügeln. Das sage ich manchmal auch und dann streiten wir uns. Ich muss
vor Nazis wegrennen. Also bin ich links.
In der Nahrungskette der Jungsgruppen stehen wir nicht weit oben. Wenn die
Tighten aus der Muckibude anrücken, die tätowierten Riesenbrocken mit
Kampfsport oder Knast im Lebenslauf und keiner der anderen hat irgendeine
Beziehung zu jemandem, der jemanden kennt, dann machen wir uns klein oder
lösen uns in Luft auf.
Stress gibt es immer noch, natürlich. Wir wollen zum Herrentag, wie das bei
uns konsequent heißt, raus an einen See fahren. Zwei möchten da unbedingt
mit dem Fahrrad hin. Scheißidee, sagen wir anderen, da kommt ihr alleine
niemals an. Sie ziehen es durch. Wir sammeln sie später blutend von der
Landstraße und lachen sie aus.
Der Soundtrack dieser Zeit kam von den Böhsen Onkelz. Ich hasste diese
Band, bei ihren weinerlichen Liedern für gefallene Jungs dachte ich an die
saufenden Männer in den Garagen. Ein Lied der Onkelz ist allerdings bis
heute in meinem Kopf: „Wir waren mehr als Freunde/Wir war’n wie
Brüder/Viele Jahre sangen wir/Die gleichen Lieder.“ Es heißt „Nur die
Besten sterben jung“ und ich mochte es, vielleicht, weil ich die blöden
Jungpioniere vermisste, die Zeit, als wir lieber Papier und Flaschen
gesammelt haben, als uns gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und weil
ich dachte: Ja, sterben kannst du ja wirklich.
## Mein erfundener türkischer Freund
Sicher bin ich noch immer nicht. Eines Abends fahre ich zufälligerweise
nicht zu dem Parkplatz am Netto-Markt, wo wir uns immer treffen. Es sind
nur wenige da und sie sind leichte Beute für eine größere Gruppe Schläger,
die aus einem Nachbarort anrückt. Einen erwischt es besonders schlimm. Er
fährt noch mit dem Moped nach Hause, bekommt dann aber seinen Kopf nicht
mehr aus dem Helm, Tritte und Schläge haben ihn zu sehr anschwellen lassen.
Er landet auf der Intensivstation.
Manche Erinnerungen reißt man sich ein wie Splitter und sie schmerzen noch
Jahre danach. Der türkische Freund, den ich erfunden habe, ist so ein
Splitter. Wir sind nach Ungarn gefahren, das letzte Mal zusammen. Wir
liegen am Balaton, spielen Fußball. Wir reißen die Türen unserer Klos auf
und fotografieren uns gegenseitig beim Kacken, wir rasieren einander die
Brusthaare. Und dann, wir sitzen in einem Café, ich lese Zeitung,
vielleicht habe ich da etwas über einen Überfall gelesen, ich weiß es nicht
mehr. Ein Freund sagt irgendetwas über „blöde Kanaken“ und dass sie es
verdient hätten und ich bin sofort auf hundertachtzig. Ich schreie, ich
hätte einen türkischen Freund und der läge in Berlin im Krankenhaus, „wegen
Leuten wie dir“. Es ist ein kurzer Moment, wenige Sekunden nur und sofort
fühle ich mich mies.
Weil ich gelogen habe, ich habe keine türkischen Freunde und auch keine mit
türkischen Namen, woher auch? Es gab an unserer Schule den Sohn eines
Ingenieurs aus Angola oder Mosambik, der war nicht weiß. Selbst die
Dönerfrauen, die ich kannte, waren in der Kreisstadt oder in einem der
Dörfer geboren. Ich schäme mich auch, weil ich weiß: Es gibt Menschen, die
sind wirklich verbrannt oder wurden zu Tode getreten. Und ich erfinde
einen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass jetzt unsere Freundschaft vorbei
ist.
Das gehört auch zur Wahrheit jener Jahre, viele kannten die Rechten, die
Rechtsradikalen, die Neonazis nicht nur von Weitem. Wir waren mit ihnen
befreundet, wir mochten manche von ihnen, wir profitierten von ihrem
Schutz. Im Buch von Manja Präkels hat der Obernazi der Protagonistin
vielleicht das Leben gerettet. „Dass die Nazis oft unsere früheren Freunde
aus der Schule waren, unsere Brüder, unsere Cousinen, das machte die
Auseinandersetzung damals so schwierig“, sagt Manja Präkels. „Und das macht
sie auch heute schwierig.“
Sie sagt auch, sie habe damals manchmal das Gefühl gehabt, jemand halte
eine schützende Hand über sie. „Vielleicht aus der Zärtlichkeit der
kindlichen Erinnerungen aneinander. Aber derlei Zärtlichkeit gibt es für
Fremde, für Menschen anderer Hautfarbe nicht.“
Heute haben dieses Dilemma nicht mehr nur Ostdeutsche, die AfD ist auch im
Westen erfolgreich. Wenn man sich mit seinem Bruder oder einem Freund
streiten muss, dann lässt sich der Nazi nicht mehr nach Sachsen auslagern,
dann ist man mitten in einer deutschen Identitätskrise. Präkels sagt, das
sei doch die große Frage: „Sitzen wir lieber mit einem uns vertrauten
Rechtsextremen am Tisch und tun so, als wäre alles normal oder stellen wir
ihn und damit auch uns selbst infrage, indem wir uns für die einsetzen, die
für uns Fremde sind?“
„Hm, scheiße, ist der schwer verletzt?“, sagt der Freund. Ich murmle
irgendwas von nicht ganz so schlimm, ich lüge weiter, wer damit einmal
angefangen hat, kann nicht einfach aufhören. „Tut mir leid, habe ich nicht
so gemeint“, sagt er.
Für meinen Zivildienst gehe ich nach Berlin. Ab 1999 studiere ich in
Leipzig. Ich habe Glück und treffe gute Leute aus dem Westen und dem Osten.
Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Männer
mit Glatzen. Nur ab und an höre ich Echos aus der Vergangenheit. Anfang der
Nullerjahre findet ein Freund ein Loch in der Heckscheibe seines Autos, das
Kind der Familie über ihm hat eine Vase aus dem Fenster geworfen. Der Vater
des Kindes, eine Glatze mit Glatzenkumpels, hat keinen Bock, für den
Schaden aufzukommen und das macht er meinem Freund klar. Ich überlege, ob
ich meine Leute in Brandenburg anrufen soll, aber der Nazi ist aus Leipzig
und muss nicht 200 Kilometer weit fahren, um mit mehr Leuten
zurückzuschlagen.
In der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging, leben heute auch Frauen mit
Kopftüchern, die ihren Söhnen auf Russisch hinterherbrüllen, sie sollen
gefälligst auf sie warten. In den Kneipen und Cafés bedienen Menschen,
deren Eltern aus Vietnam und der Türkei kamen. Der Freund, der damals
„Euthanasie“ auf seiner Heckscheibe stehen hatte, und den ich für diesem
Text wiedergetroffen habe, sagt, er sei mit „Kurden, Türken, Russen,
Vietnamesen“ befreundet. Er findet aber, man solle doch die Leute
verstehen, die lieber nicht mit so vielen Ausländern zusammenleben wollen.
Als ich ihn frage, ob er auch so leben will, sagt er: „Ach, ich weiß es
doch auch nicht.“
Ich habe nicht gekämpft und schon gar nicht gewonnen. Ich bin einfach
gegangen.
1 Oct 2018
## AUTOREN
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