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„Und woher kommen Sie?“ – „Hoyerswerda.“ Es gibt zwei mögliche Reaktionen
auf diese Antwort. Die erste besteht in einem nachdenklichen Blick, der
nach einer geografischen Lage sucht. „Im Osten Sachsens, zwischen Dresden
und Cottbus“, ergänze ich dann. Die zweite äußert sich als verhaltenes
Stöhnen. Wem die Stadt ein Begriff ist, der kennt sie entweder als
sozialistische Vorzeigestadt, als Tagebaustandort mit gewaltigem Wachstum,
der durch schnell hochgezogene Plattenbauten kompensiert wurde. Oder er
kennt sie als Ort rassistischer Ausschreitungen, als 1991 Anwohner und
zugereiste Neonazis ein Wohnheim attackierten, in dem 120 Vertragsarbeiter
aus Mosambik und Vietnam lebten.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Bevölkerungsschwund längst begonnen. Einst
lebten 65.000 Menschen in Hoyerswerda, heute sind es kaum mehr als 33.000.
Auch ich habe dazu beigetragen: Zwecks Studium zog ich vor neun Jahren ins
200 Kilometer entfernte Leipzig – von der Schwarzen an die Weiße Elster
also.
Immer wieder erregen jedoch Nachrichten aus der Heimat meine
Aufmerksamkeit. So wie kürzlich, als ich von einer neuen CD-Kompilation
erfahre, die den Namen der Stadt trägt: „Die Hoyerswerdaer Platte“. Was
zunächst unspektakulär wirkte, bekam bald persönliche Bedeutung für mich.
Denn für den wortspielreichen Titel zeichnete ein gewisser Martin Rattke
verantwortlich – ein Klassenkamerad aus Grundschulzeiten.
Unser erstes Wiedersehen seit 18 Jahren fällt auf einen trist-grauen
Sonntagnachmittag im November. Im Altstadtzentrum steht die neue alte
Kulturfabrik, in der die „Platte“ entstand. Hier soll auch unser Treffen
stattfinden. Das Café im Obergeschoss empfängt uns mit warmen Farben – nur
an Gästen mangelt es. Gähnende Leere von der Theke bis zur Bühne. Letztere
ist für Martin keine Unbekannte: Mehrfach stand er schon dort oben, sowohl
allein wie auch mit seiner Band.
## „Ist das noch Hip-Hop?“
Von Beginn an ist die Stimmung freundschaftlich und offenherzig, ganz so,
als hätten sich unsere Wege nie getrennt. Was uns einte, war die
Leidenschaft für die Musik von Michael Jackson. Einer der wenigen konkreten
Momente, die mir von damals im Gedächtnis geblieben sind, spielt sich im
Haus von Martins Familie am Rande der Stadt ab, wo wir auf dem Boden sitzen
und das Jackson-Videospiel „Moonwalker“ auf dem Sega Saturn spielen. Er
erinnert sich nicht daran, weiß aber noch genau, dass er bei mir das erste
Mal „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ sah. Daran wiederum erinnere ich mich
nicht. Es ist nicht der einzige Unterschied zwischen uns.
Seinen Kurzlebenslauf hatte mir Martin bereits bei meiner Kontaktaufnahme
mitgeteilt: Nach dem Abitur Ausbildung zum Kameramann und Fotografen,
erfolglose Jobsuche in Hoyerswerda, dann Quereinstieg in der
Behindertenwerkstatt, jetzt Heilpädagogikstudium in Görlitz. „Ich hab ’ne
Band namens ‚Ist das noch Hip-Hop?‘, meine längste Beziehung hat zwei Jahre
gehalten, und ich bin der Letzte an meiner Hochschule, der sich weigert,
WhatsApp zu installieren“, berichtete er.
Obwohl ich ihn als extrovertierte Persönlichkeit in Erinnerung habe – als
denjenigen, der mit seiner Michael-Jackson-Performance einen städtischen
Talentwettbewerb gewann –, überraschte mich diese Offenheit. Im
persönlichen Gespräch ist das kein bisschen anders: Martin ist um keine
Antwort verlegen, berichtet freimütig von Problemen mit seinem Arbeitgeber
und finanziellen Sorgen, springt von Thema zu Thema und pausiert nur, wenn
er einen Bissen von dem Flammkuchen nimmt, den er zuvor geordert hat.
Als ich Martin anschrieb, stachen für mich diese fünf Worte aus seiner
Antwort hervor: „Ich wollte in Hoyerswerda bleiben.“ Er ist der Erste aus
meiner Generation, von dem ich etwas Derartiges höre. Hoywoy, wie die Stadt
auch genannt wird, ist wie viele ostdeutsche Kleinstädte von einem Problem
existenziell bedroht: Das Ende der Schulzeit besiegelt den Abzug eines
ganzen Jahrgangs. Ziele sind die großen Ballungszentren – Dresden, Berlin,
Leipzig –, wo es Universitäten und ein breiteres Jobangebot gibt.
## Freundeskreis in der Kulturfabrik
Zurück bleiben die Älteren, die wenigen Jüngeren, die sich für eine
Ausbildung vor Ort begeistern lassen, und natürlich die Familien. Die
Mütter, Väter und Großeltern, die gelegentlich besucht werden wollen.
Einige Weggezogene zieht es nach erfolgreicher Ausbildung sogar dauerhaft
hierher zurück. Für den Rest ist Hoyerswerda aber nicht mehr Teil ihrer
unmittelbaren Identität – nur noch der Ort ihrer Herkunft. So auch für
mich.
Bei Martin war das anders. Zwar wollte er zunächst ebenfalls „einfach nur
weg“, wusste jedoch nicht, wohin. Die Zwischenlösung war ein Freiwilliges
Soziales Jahr an der Körperbehindertenschule. Es folgte die Ausbildung in
Cottbus, verbunden mit täglichem Pendeln. Was ihn in Hoywoy hielt, ihn
sogar noch fester an die Stadt schweißte, war nicht etwa plötzlich
aufkeimender Lokalpatriotismus (den soll es ja in Sachsen geben), sondern
ein neuer Freundeskreis. Den fand Martin in der Kulturfabrik.
Unter anderem über das Projekt „Malplatte“, als ein Plattenbau kurz vor dem
Abriss zeitweise zur öffentlichen Kunstfläche erklärt wurde. „Wir haben
dort literweise Farbe verbraucht“, erzählt er. Aus Grau wurde Bunt. Aus
Bunt schließlich ein riesiger Haufen Schutt. Der Wohnkomplex am Stadtrand,
wo das Gebäude stand, wurde in den vergangenen zehn Jahren gänzlich dem
Erdboden gleichgemacht.
Der Neuanfang in Hoyerswerda ist ein Vorhaben, das kein Ende findet. Die
von Plattenbauten dominierte Neustadt wird seit Jahren sukzessive saniert
und ausgedünnt. An einigen Stellen entstehen Stadtvillen und moderne
Flachbauten, die Arzt- oder Anwaltspraxen beheimaten. Das Altstadtzentrum
hat sich ebenfalls verändert: Auf einer Fläche gegenüber dem Tierpark wurde
ein moderner Supermarkt aus dem Boden gestampft, der nicht recht zum
historischen Stadtkern passen will. Ähnliches gilt für die neue alte
Kulturfabrik.
## Die KuFa als kultureller Monopolist
Einst am Markt beheimatet, musste sie aus baulichen Gründen 1999 an den
Stadtrand ziehen. Jahrelang kämpften die Verantwortlichen um eine Rückkehr,
2015 wurden diese Rufe erhört. Das Gebäude am Markt wurde zwischenzeitlich
saniert und bekam einen modernen Anbau spendiert, dessen Design dem nahe
gelegenen Supermarkt in nichts nachsteht. Der Komplex nennt sich jetzt
Bürgerzentrum: Auch das „Naturwissenschaftlich-Technische Kinder- und
Jugendzentrum“ sowie die Stadtinformation sind hier untergekommen.
Der Zurückzug der Kulturfabrik hat nicht jedem gefallen. Ich erinnere mich
an zahlreiche Partys im Jugendkeller des Flachbaus am Stadtrand. Dort hatte
man seine Ruhe, konnte trinken, feiern, laut sein. „Die Älteren haben ihre
KuFa zurückbekommen, die Jüngeren haben ihre verloren“, sagt Martin. Auch
die anderen Jugendtreffs sind verschwunden. Nun herrsche Gleichklang – die
KuFa als kultureller Monopolist. Kein Platz mehr für Subkulturen, keine
Kellerpartys, keine Punkkonzerte. „Ziehen die Leute weg, weil die
Subkulturen verschwinden, oder verschwinden die Subkulturen, weil die Leute
wegziehen?“, fragt sich Martin. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Eine
sich selbst verstärkende Spirale.
Für Martin war die KuFa am Stadtrand vor allem deshalb so prägend, weil er
dort wieder zur Musik fand. Mit 18 Jahren sei er unglücklich verliebt
gewesen. „Die beste Gelegenheit, schmachtende Songtexte zu schreiben“, sagt
er. Die Möglichkeit dazu bot sich „an einem einsamen Klavier, das in der
KuFa herumstand“. 2013, auf einer Autofahrt nach Berlin, wurde schließlich
die Band geboren. Aus einer Laune heraus, wie er sagt. Die fünf Mitglieder
nennen sich „Ist das noch Hip-Hop?“, machen aber Rockmusik.
## Ambivalentes Verhältnis zur Stadt
Das Quintett plant eine Live-CD. Bisher ist eine EP erschienen, einer der
Songs heißt „Schlaganfall“. Auf dem hat Martin seine Zerrissenheit nach dem
Abitur und sein ambivalentes Verhältnis zur Stadt verarbeitet: „Mit dem
rechten Fuß will ich schon lange gehen / will die Welt, das Leben und die
Sterne sehen. / Doch der linke wurzelt nach so vielen Jahren, / wo zuvor
nur abgebrochene Triebe waren“, heißt es da. Oder: „Reiß ich die junge
Wurzel raus und lass alles hinter mir? / Oder pfeif ich auf die Welt und
bleibe einfach hier? / Ich hab das Scheißding nie gegossen und grade jetzt
blüht es auf, / hält mich fest am Boden und hält mich tierisch auf.“
Womit wir endlich beim eigentlichen Thema unseres Treffens angekommen sind:
der „Hoyerswerdaer Platte“, auf der sich auch „Schlaganfall“ findet. Es sei
ein Sampler aus der Stadt, über die Stadt und für die Stadt. 17
Interpreten, 20 Songs, 77 Minuten Laufzeit. Die Genres erstrecken sich von
Pop über Folk und Rap bis hin zu Punk. Diese Vielfalt spiegelt sich auch
inhaltlich wider.
2017 suchte die Verwaltung kreative Initiativen zum 750. Stadtgeburtstag
im folgenden Jahr. Martin kam auf die Idee mit der „Platte“, fragte bei
befreundeten Musikern an. Die ersten Reaktionen fielen positiv aus. „Da
wusste ich, dass das klappen kann.“ Naiv, wie er sei, habe er einfach beim
Rathaus angeklopft und um Förderung geworben. „Wir haben mit sechstausend
Euro kalkuliert, die Stadt gab die Hälfte dazu.“ Ein weiteres Viertel der
Summe wollte man durch Crowdfunding zusammenkratzen. 2.200 kamen dabei
zusammen.
Da Fördergelder aber nur an Institutionen vergeben werden, holte Martin die
KuFa ins Boot, die fortan zum zentralen Ort der Produktion wurde. Die
meisten Songs existierten bereits, wurden für die Platte jedoch neu
aufgenommen. Alle Songs sollten einen Bezug zur Stadt haben. Eine weitere
Maßgabe war: „Es sollte keine SED-Feierplatte werden.“ Also kein
Heile-Welt-Einerlei. Die „Platte“ sollte ein breites Stimmungsbild
vereinen, die positiven wie die negativen Seiten der Stadt beleuchten. Nur
Bands, die offen rechts sind oder diesen Anschein erweckten, mussten
draußen bleiben.
## „Haltet’s Maul!“ von Pisse
In der Tat ist die Kompilation von einer Vielfalt geprägt, die selbst auf
derartigen Samplern selten ist. So berichtet Konstanze Niemz zu
melancholischen Klavierklängen von wohligen Kindheitserinnerungen, die sie
mit ihrer Heimat, der „Straße des Friedens“, verbindet. Einen Song später
schreddert die Punkband Pisse harte Riffs ins Mikrofon und schimpft dazu
auf unkonventionelle Weise über die Ereignisse von 1991: Statt eines
klassischen Textes gibt es Sprachfetzen der Anwohner zu hören,
zusammengetragen aus Berichten über die Ausschreitungen. Die meisten davon
fallen relativierend aus – was den Titel „Haltet’s Maul!“ erklärt.
Rapper Nelson rekurriert in „977“ HipHop-typisch auf seine Postleitzahl,
zeichnet in der vermeintlichen Lokalpatriotismushymne aber ein ambivalentes
Bild der Plattenbaustadt. Im „Manifest“ wiederum lässt Liedermacher Hanno
Busch seine Fantasie spielen, liefert kreative bis absurde Vorschläge für
eine gesunde Zukunft der Stadt, in der doch beispielsweise wieder die
Birnensorte „Grüne Hoyerswerdaer“ angebaut werden könnte.
Einige Künstler auf der Platte, die Punker von Plattenbauromantik
beispielsweise, sind längst nicht mehr aktiv. Auf der „Platte“ ist also
auch ein Teil von Hoyerswerdas kultureller Vergangenheit konserviert.
Ähnliches lässt sich über den letzten Song, „Hoywoy II“, sagen, die
Coverversion eines Liedes von Gerhard Gundermann, dessen Leben Regisseur
Andreas Dresen kürzlich [1][für das Kino aufgearbeitet] hat.
Als wir über den Film sprechen, beginnt Martin zu schwärmen und erzählt,
dass ihn einige befreundete Musiker schon als „Gundermann 2.0“ bezeichnet
haben. Er sollte sogar die Hauptrolle in einem Gundermann-Musical
übernehmen, lehnte aber ab. Es wäre zumindest keine schlechte Wahl gewesen:
Mit seinen kinnlangen Haaren, seiner schmalen Statur und seiner Brille
weist Martin mehr als nur ein paar Ähnlichkeiten mit dem 1998 verstorbenen
Musiker auf.
## Eine selten gewordene Tugend
Dresen brachte den Liedermacher durch seinen Film auch Außenstehenden nahe.
Könnte der „Platte“ dasselbe gelingen? Oder braucht es einen Lokalbezug,
eine Verbundenheit mit der Stadt, um die Musik zu verstehen und genießen zu
können? „Wir haben uns ehrlich gesagt keine Gedanken gemacht, wie sie auf
Nicht-Hoyerswerdaer wirkt“, gibt Martin zu. „Man hat auf jeden Fall
siebenundsiebzig Minuten Zeit, sich eine Meinung zu bilden.“
Ambivalenz schaffen, die hellen Seiten ebenso wie die dunklen benennen:
eine selten gewordene Tugend. Glaubt man der Meinung lautstarker Anwohner,
in Hoyerswerda wie in Leipzig, ist ihre Stadt entweder die schönste der
Region, wenn nicht gar der Welt – oder dem baldigen Niedergang geweiht.
Wessen Meinung in der abwägenden Mitte liegt, der spricht sie nur leise
aus.
Martin ist eine Ausnahme. Er ist jemand, der sich an seine Stadt gebunden
fühlt, persönlich wie kulturell. Jemand, der sie zu schätzen weiß, um die
guten wie auch die schlechten Dinge weiß und sie offen anspricht. Vor allem
in Hinsicht auf die Jugendkultur, in deren Natur es liegt, nicht von
Erwachsenen verstanden zu werden, weshalb ihre Organisation immer öfter den
Jüngeren überantwortet wird. „Die Jugendlichen sollten zwar eingebunden,
aber alles Organisatorische sollte von Profis übernommen werden“, sagt
Martin. Vor einigen Jahren kamen sogar die Band Madsen und Rap-Überflieger
Casper in die Stadt. Heute scheint das undenkbar geworden zu sein.
Wenn Martin über die Zukunft spricht, wird aber selbst er pessimistisch.
Hoyerswerda, sagt er, werde wohl bald so aussehen wie das nahe gelegenen
Weißwasser: Durchschnittsalter 50,1 Jahre, mehr als 20 Prozent
Arbeitslosenquote, Jugendkultur kaum vorhanden. Selbst die Engagiertesten
brauchen wohl einen solchen gesunden Pessimismus. Einen, der sie vor
Enttäuschungen bewahrt und sie antreibt, weiterzumachen. Um der Stadt und
ihren Bewohnern etwas Neues, einen Mehrwert bieten zu können. Dass der
Neuanfang in Hoyerswerda kein Ende findet, liegt vielleicht auch daran,
dass ein solcher Prozess niemals enden sollte, dass der Kampf für eine
bessere Zukunft ein Dauerzustand ist. Global ebenso wie in einer
ostsächsischen Kleinstadt.
9 Jan 2019
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