# taz.de -- Rechte Gewalt in Deutschland: Gibt es einen Chemnitz-Effekt?

> Seit den Ausschreitungen in Chemnitz hat es in Deutschland mindestens 93
> Fälle rechter Gewalt gegeben. Für Opfervereine ein bedrohlicher Anstieg.
Berlin taz | Auf den Tag genau einen Monat ist es her, dass [1][in Chemnitz
800, einen Tag später sogar 8.000 Rechte und Rechtsextreme durch die
Straßen zogen]. Seitdem hat es in Deutschland mindestens 93 Fälle rechter,
rassistischer und antisemitisch motivierter Gewalt gegeben. Das hat der
VBRG, der Bundesverband unabhängiger Beratungsstellen für Betroffene
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, ermittelt. Zu den 93
Fällen zählt er einfache und schwere Körperverletzung, Nötigung,
Bedrohungen, Brandstiftung und versuchte Tötung.

Einen Teil der Fälle hat der Verband detailliert dokumentiert. Die
Auswertung liegt der taz vor. In der langen Liste finden sich Angriffe mit
Messern, Baseballschlägern, Teleskopschlagstöcken, Schlagringen, einer
Eisenkette und einem Sprengsatz.

[2][Die Opfer sind zumeist Geflüchtete], darunter auch Jugendliche und
Kinder, aber auch Menschen aus der LGBTIQ-Community, Linksalternative und
ein Mann, der in München in der U-Bahn dazwischen ging, als zwei andere
Männer rassistisch pöbelten. Viele der Opfer trugen Verletzungen davon,
einige mussten schwerverletzt im Krankenhaus behandelt werden.

Es sind die ersten Zahlen zu rassistischer Gewalt nach Chemnitz. Das
Bundesinnenministerium (BMI) legte auf taz-Anfrage für diesen Zeitraum
keine Zahlen vor. Die, die der VBRG erhoben hat, beziehen sich auf
Polizeimeldungen, Medien- und Betroffenenberichte.

## Gewalt im besorgniserregenden Maß

Zeigen diese Zahlen einen Anstieg rechter Gewalt seit Chemnitz? Ja, meint
der VBRG. „Das ohnehin schon viel zu hohe Niveau rassistischer und rechter
Gewalt der vergangenen zwei Jahre steigt in einem besorgniserregenden Maß
weiter“, sagt Vorstands-Mitglied Judith Porath.

Eindeutig belegen lässt sich das allerdings noch nicht. Das
Bundesinnenministerium (BMI) gab kürzlich bekannt, dass es in der ersten
Jahreshälfte 2018 704 politisch motivierte Angriffe auf Asylsuchende und
ihre Unterkünfte gegeben hat – im Schnitt also 117 im Monat. Allerdings
zählt das BMI in diese Definition auch Sachbeschädigung, Volksverhetzung
und Verstöße gegen das Waffengesetz hinein, die der Opferverband VBRG nicht
mitzählt.

Für das vergangene Jahr 2017 dokumentierte der VBRG durchschnittlich drei
rechte Gewalttaten am Tag, das entspräche in etwa den nach Chemnitz
erhobenen Zahlen. Allerdings geht der VBRG davon aus, dass zu den bisher
registrierten 93 Fällen seit Chemnitz im Laufe der nächsten Wochen noch
Nachmeldungen hinzukommen. Damit wäre ein Anstieg rechter Gewalt bewiesen.

Spricht man mit den Beratungsstellen in den einzelnen Bundesländern, ergibt
sich ein differenzierterer Blick. Am stärksten zeigt sich der
Chemnitz-Effekt in Sachsen und vor allem in Chemnitz selbst. Mindestens 34
Übergriffe habe es dort seit den Ausschreitungen vor einem Monat gegeben,
hat die Opferberatungsstelle RAA Sachsen gezählt.

## Nicht mehr nur Alltagrassismus

„Die Gewalt ist seit den Demos eskaliert“, sagt André Löscher vom RAA
Sachsen. Im ganzen Jahr 2017 habe es insgesamt 20 Fälle gegeben, jetzt 34
in vier Wochen. „Chemnitz war vor den Demos kein Schwerpunkt rechter
Gewalt. Es gibt hier zwar starke rechte Strukturen, aber die meisten
gewalttätigen Vorfälle, die wir vor Ende August registriert haben, waren
eher Alltagsrassismus geschuldet.“

Das habe sich verändert. Mittlerweile registrieren Löscher und seine
Kollegen öfters Angriffe, bei denen Neonazis sich verabredeten, um
gemeinsam anderen Menschen Gewalt anzutun. Wie etwa am 17. September, als
eine Gruppe von 15 Rechten die unter linksalternativen Chemnitzern beliebte
Schlossteichinsel stürmte, sich als Bürgerwehr ausgab, Ausweise
kontrollierte und eine Gruppe von Iranern und Pakistanis attackierte.

Auch in Bayern und Brandenburg haben OpferberaterInnen in den vergangenen
vier Wochen mehr Fälle rechter Gewalt gezählt als sonst in einem solchen
Zeitraum üblich sei. Anne Brügmann vom Verein Opferperspektive in
Brandenburg sagt, ihr Team recherchiere gerade die Hintergründe von zehn
Fällen, die allein im Norden Brandenburgs nach Chemnitz passiert seien und
bei denen der Verdacht nahe liege, dass sie rechts motiviert waren. „Das
sind ungewöhnlich viele für eine so kurze Zeit“, sagt Brügmann.

In anderen Bundesländern sind OpferberaterInnen zurückhaltender, von einem
Chemnitz-Effekt zu sprechen. In Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen,
Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfahlen haben die Verbände in den
vergangenen vier Wochen keinen oder kaum einen Anstieg oder eine
Veränderung rechter Gewalt erlebt – verweisen aber darauf, dass der
Zeitraum zu klein sei, um verlässliche Aussagen zu treffen.

## Mehr Übergriffe als in den Vorjahren

Allerdings beobachten alle, dass die Zahl der Übergriffe seit dem Sommer
2015 viel höher ist als in den Jahren zuvor. Zudem beobachten Verbände,
dass die Brutalität der Übergriffe zugenommen hat. Statt einfacher
Körperverletzung passierten heute häufiger gefährliche Körperverletzungen
als noch vor 2015, berichten sowohl OpferberaterInnen in der Mecklenburger
Beratungsstelle Lobbi als auch bei dem Thüringer Verein Ezra. Die
rassistische Mobilisierung sei nach dem Flüchtlingssommer 2015 so hoch
gewesen wie seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr.

Sozialwissenschaftler haben in der Vergangenheit immer wieder festgestellt,
dass rechte Gewalt nach rechten „Großereignissen“ zunimmt. Am deutlichsten
war das nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 und kurz nach denen in
Rostock-Lichtenhagen 1992. Aus Sicht rechter Gewalttäter seien solche
Ereignisse Erfolge, an denen sich Nachahmer orientieren, [3][meint
beispielsweise der Antisemitismusforscher Michael Kohlstruck].

26 Sep 2018

## LINKS
[1] /Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5529389
[2] /Neue-Zahlen-zu-rechten-Gewalttaten/!5519023
[3] http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/270811/rechte-gewalt-in-ost-und-west
## AUTOREN
Anne Fromm
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