# taz.de -- Historiker Herf über Antisemitismus: „Genau das Gegenteil war der Fall“

> Der US-amerikanische Historiker Jeffrey Herf forscht zu Antisemitismus.
> Er spricht darüber, wie historische Ignoranz zur Ablehnung Israels
> beiträgt.
wochentaz: Herr Herf, in Ihrem neuesten Buch geht es um die „Drei Gesichter
des Antisemitismus“ – um Islamisten, Rechte und Linke. Die stehen oft im
Gegensatz zueinander. Wie kommen Sie auf diese unheilige Allianz? 

Jeffrey Herf: Nach dem 7. Oktober gab es in Europa und den USA Menschen,
die die Massaker der Hamas in einen historischen Kontext stellten: den der
israelischen Unterdrückung der Palästinenser. Mit dem Wesen der Hamas
wollten sie sich nicht befassen. Dies hat zu einer sehr merkwürdigen
Situation geführt: Menschen, die sich selbst als links oder liberal
betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in
einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem
Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der
extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch,
ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über
die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch
für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat.
Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen.

Aber hat diese Einordnung nicht vielmehr mit der humanitären Katastrophe zu
tun, zu der Gaza durch die israelische Gegenoffensive geworden ist? 

Lassen Sie mich eines sagen: Dies ist ein furchtbarer Krieg! Wir alle
sollten entsetzt sein über Tausende von Menschen, die in diesem Krieg
gestorben sind. Sowohl israelische Soldaten als auch Zivilisten in Gaza.
Als Historiker stelle ich mir aber die Frage: Warum findet dieser Krieg
statt? Ich denke, der Hauptgrund für diesen Krieg sind nicht die Fehler der
israelischen Regierung – ich und alle meine Freunde in Israel haben das
Netanjahu-Regime stets kritisiert. Der Grund, warum dieser Krieg
stattfindet, ist die fundamentalistische Überzeugung der Hamas. Gäbe es die
Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot. Die Hamas hat 40 Jahre lang
klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen
Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie
verdienten. Manche tun es bis heute nicht. Das frustriert mich als
Historiker.

Die Hamas gibt es erst seit 1987. Das von den Kritikern Israels beklagte
Leid der Palästinenser aber gibt es seit der Staatsgründung Israels im Jahr
1948. Sparen Sie diesen historischen Kontext nicht aus? 

Wenn wir „die Amerikaner“ oder „die Deutschen“ sagen, wissen wir, dass wir
verallgemeinerte Aussagen über komplexe Gesellschaften treffen und dass es
viele Deutsche und viele Amerikaner mit unterschiedlichen Meinungen gibt.
Dasselbe sollte auch für die Palästinenser gelten. Die Hamas ist eine
eigenständige Organisation mit einer eigenständigen Ideologie, die nur
behauptet, für die Palästinenser zu sprechen. In Wirklichkeit spricht sie
zugunsten ihrer Führer. Ein großer Teil dieses Missverständnisses besteht
darin, dass viele die Geschichte einfach nicht kennen. Während des Kalten
Krieges betrachteten der Sowjetblock und Teile der westlichen Linken die
Sache „der Palästinenser“, vertreten durch die PLO, als ein Sonderanliegen
der globalen Linken. In einer Art magischem Denken hat die Hamas, eine
Organisation der extremen Rechten, von diesen ideologischen Gewohnheiten
profitiert. Es ist absurd, wie [1][Judith Butler zu behaupten, die Hamas
sei Teil der globalen Linken]. Aber die Propagandabemühungen der
Sowjetunion waren sehr erfolgreich darin, Israel als rassistisch und
kolonial darzustellen.

Propalästinensische Aktivisten sagen immer wieder: Israel sei 1948 nur
durch die Unterstützung ehemaliger Kolonialmächte wie Großbritannien oder
von Imperien wie den USA, die Israel als Satellitenstaat nutzen, ermöglicht
worden. [2][In Ihrem Buch „Israel’s Moment“] widersprechen Sie dieser
These. Warum? 

In den entscheidenden Jahren von 1947-49 waren die Sowjetunion, Polen,
Ungarn und die Tschechoslowakei sehr wichtig für die Gründung des Staates
Israel. Sowohl durch ihre politische und diplomatische Unterstützung bei
den Vereinten Nationen als auch, was die Tschechen betrifft, durch die
Lieferung von Waffen an die Zionisten in Palästina. Dies stand in krassem
Gegensatz zu der Opposition gegen die Gründung des Staates Israel im
britischen Außenministerium und im Außenministerium in Washington, D.C.
Deren Argument war ein zweifaches: Erstens dachten sie, dass der Staat
Israel ein Verbündeter der Sowjetunion sein würde, da Juden als
Sympathisanten der Kommunisten galten. Und zweitens würde der Staat Israel
den westeuropäischen und amerikanischen Zugang zum arabischen Öl
untergraben. Aus Sicht amerikanischer Linker war der Staat Israel 1948 ein
antiimperialistisches Projekt, ein Projekt gegen den britischen
Imperialismus und die Kolonialmächte.

Und wann änderte sich diese Sichtweise? 

Als Stalin erkannte, dass der neue Staat Israel eher einer
sozialdemokratischen Tradition folgte und kein Verbündeter der Sowjetunion
sein würde. Zu diesem Zeitpunkt, während der anti-kosmopolitischen
Säuberungen in den frühen 1950er Jahren, begann Stalins Propagandaapparat,
Israel als ein Produkt des westlichen Imperialismus darzustellen. Diese
Geschichte von Zionismus und Imperialismus, von Israel und den USA,
entsprach überhaupt nicht den Ereignissen von 1948. Genau das Gegenteil war
der Fall. Aber diese Geschichte wurde jahrzehntelang gebetsmühlenartig
wiederholt. Jetzt ist sie bei Teilen der westlichen Linken fest verankert,
aber es ist nicht das, was passiert ist. Israels wichtigster Verbündeter
von 1948 bis 1967 war Frankreich. Und diese Unterstützung kam von
französischen Sozialisten, französischen Liberalen und Veteranen der
Résistance.

Radikale Stimmen der Gegenwart sagen, Israel sei seit seiner Gründung ein
genozidaler Staat, der darauf abzielt, die Palästinenser zu vernichten.
Tatsächlich steigt die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen gerade
bedrohlich. Als Historiker, der seit Jahren zu Israels Geschichte forscht:
Wie reagieren Sie auf aktuelle Annahmen, dass für das Entstehen und die
Popularität der Hamas die Staatsgründung Israels und infolge die sogenannte
Nakba, die Vertreibung von geschätzt 750.000 Palästinensern, verantwortlich
ist? 

Im Jahr 1947 hatte das Arabische Hochkomitee die Möglichkeit, als Ergebnis
des UN-Teilungsplans einen eigenen Staat zu bilden. [3][Mohammed Amin
al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, ein Nazikollaborateur] und
damaliger Führer des Arabischen Hochkomitees, traf die schreckliche
Entscheidung, stattdessen in den Krieg zu ziehen. Wenn man einen Krieg
beginnt und ihn verliert, ist das eine Katastrophe. In diesem Sinne ist der
Begriff Nakba, die Katastrophe, anwendbar. Insbesondere nach dem Ende des
Kalten Krieges gab es immer wieder Möglichkeiten, einen arabischen Staat im
Westjordanland und im Gazastreifen zu gründen. Hamas und PLO haben das
stets verhindert. Den Grund dafür findet man in der Hamas-Charta von 1988:
Ein jüdischer Staat in Palästina ist in keiner Form akzeptabel. Wenn man
alle Kompromisse ausschlägt, muss man die Verantwortung dafür übernehmen,
dass die Konsequenz auch der schreckliche Zustand der Gegenwart ist. Ich
denke übrigens auch, dass die Hamas eine große Verantwortung für die
Existenz von rechten Regierungen in Israel trägt.

Warum? 

Was Israel braucht, ist eine zentristische Regierung links der Mitte. Es
braucht nicht die Regierung, die es jetzt hat. Aber die Angst, die die
Hamas seit Jahrzehnten verbreitet, hat Netanjahu stets zur Wiederwahl
verholfen. Frieden wird es nur geben mit einer Generation von
Palästinensern, die die Verantwortung für die Fehler ihrer eigenen Führung
nicht auf Israel abwälzt. In Israel gibt es viele Menschen, die die
Verantwortung für Fehler ihrer Regierung übernehmen. Sie protestieren jeden
Tag gegen Netanjahu und haben auch nach dem 7. Oktober nicht damit
aufgehört. Dieser Konflikt hat aber noch immer zwei Seiten.

4 May 2024

## LINKS
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## AUTOREN
Jonathan Guggenberger
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