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taz: Herr Keret, wir treffen Sie im Rahmen einer Lesereihe an den Münchner
Kammerspielen, die sich der Situation in Israel nach dem 7. Oktober
zuwendet. Wie stellt sich Ihnen die Lage heute dar?
Etgar Keret: Die Situation erinnert immer noch an „Täglich grüßt das
Murmeltier“. Wir Israelis scheinen denselben Tag immer wieder aufs Neue zu
erleben. Der 7. Oktober ist ein beispielloses Trauma. Das liegt daran, dass
es das Ziel der Staatsgründung, die Raison d’Être unseres Landes war, einen
sicheren Ort für Juden zu schaffen – und dann geschah hier das größte
Pogrom. Die Diaspora schien plötzlich hier, in Israel selbst zu sein. Es
fühlt sich wie das Ende eines Traumes an, der 75 Jahre dauerte und aus dem
wir gerade erwachen. Gleichzeitig machten wir die Erfahrung, dass die Welt
uns den Rücken zuzukehren scheint.
taz: Woher rührt diese Abkehr aus Ihrer Sicht?
Keret: Ich kann mir das damit erklären, dass der Krieg in Gaza mit seinen
vielen toten Zivilisten dazu geführt hat, dass weltweit Leute wütend auf
die israelische Regierung sind. Man sollte allerdings dazu sagen, dass die
Reaktionen vieler in der Welt, etwa auch von führendem Personal der
Vereinten Nationen von Anfang an nicht empathisch mit Israel war, und das
Rückenzuwenden nicht erst mit Beginn des Krieges einsetzte. Das fehlende
Mitgefühl in der Welt in Kombination mit unserer rechtsextremen Regierung
ist eine gefährliche Mischung.
taz: Erfahren Sie diese fehlende Empathie auch auf persönlicher Ebene?
Keret: Ich kann Ihnen so viel verraten: Dies hier ist erst das zweite Mal
seit Kriegsbeginn, dass ich außerhalb Israels spreche. Für gewöhnlich
bekomme ich pro Jahr 15 bis 20 Einladungen aus Ländern in Europa.
taz: Seit dem 7. Oktober werden Sie kaum mehr eingeladen?
Keret: Ja, so ist es, ich bekomme einfach keine Einladungen mehr. Vor
Kurzem wurde sogar eine Veranstaltung mit mir gecancelt, bei der ich
gemeinsam mit einem weltbekannten Autor auf einem Podium hätte sitzen
sollen.
taz: Hatten die Veranstalter „Bedenken“?
Keret: Nein, mein weltbekannter Kollege hat die Veranstaltung mit mir
abgesagt.
taz: Sie wollen uns vermutlich nicht verraten, wer dieser Kollege ist?
Keret: Nein, das mache ich natürlich nicht.
taz: Was war die Begründung für die Absage?
Keret: Wenn ich den Namen nicht verrate, dann tue ich das, weil es sich um
eine Person handelt, die ich als Schriftsteller und auch als Mensch überaus
schätze. Die Antwort auf meine Frage, warum wir nicht gemeinsam auftreten
könnten, war: ‚Ich habe keinen Zweifel daran, dass unser gemeinsames
Gespräch auf der Bühne in jeder Hinsicht interessant wäre, gerade in der
Erörterung moralischer Fragen. Und es könnte auf konstruktive, Sinn
stiftende Weise zur allgemeinen Verwirrung beitragen. Das wissen aber nur
wir zwei. Für den Rest der Welt bliebe der Fakt stehen, dass ich mit einem
Israeli auf der Bühne säße, während Israel den Gazastreifen bombardiert.‘
taz: Puh, von viel Integrität zeugt das nicht. Wie gehen Sie mit so einer
Aussage um?
Keret: Wissen Sie, als Schriftsteller habe ich gelernt, mich mit dem
Verhalten eines jeden Charakters identifizieren zu können, auch wenn mir
dieses Verhalten nicht gefällt.
taz: Ärgert Sie diese Verdruckstheit nicht?
Keret: Es ist in der Tat ein sehr ängstliches Verhalten. Schauen Sie, wir
erleben derzeit auch den durch Sally Rooney und andere voran gebrachten
Boykott …
taz: Sie sprechen von einem offenen Brief vieler prominenter
Schriftsteller, die dazu aufrufen, israelische kulturelle Einrichtungen und
Institutionen zu boykottieren, weil sie sich „mitschuldig“ an der
„erschütternden Unterdrückung der Palästinenser“ gemacht hätten.
Keret: [1][Was Sally Rooney, Rachel Kushner und Co machen, liegt nicht so
weit entfernt von der Kollaterallogik eines Benjamin Netanjahu.] Weil die
Hamas am 7. Oktober Israel angriff, lässt er Unschuldige bombardieren,
darunter Frauen und Kinder. Die Logik der Sally Rooneys und Rachel Kushners
dieser Welt lautet: Beenden wir den Krieg in Gaza, indem wir den Verleger
von David Grossman boykottieren! Wenn David Grossman nicht mehr publiziert
wird, wird der Krieg enden und wir retten die Bevölkerung von Gaza.
taz: Eine Logik, die der Aufmerksamkeitsökonomie sozialer Netzwerke
entspricht.
Keret: Ich will damit sagen, dass diese Logik einer Faulheit entspringt,
sich das eigentliche Ziel vorzunehmen. Man könnte stattdessen zum Boykott
von Waffenexporteuren aufrufen. Weil man aber an sein eigentliches Ziel
nicht herankommt, nimmt man sich ein naheliegendes vor und den
Kollateralschaden bewusst in Kauf. Wir erleben gerade eine Dummheit, durch
die Bank, quer durch alle politischen Zugehörigkeiten. Das sage ich als
jemand, der 57 Jahre alt und ziemlich viel in der Welt herumgekommen ist.
In der Vergangenheit war das anders. Angesichts bestimmter politischer
Lagen schien immer eine Seite der Menschen glücklich und die andere
unglücklich.
taz: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Keret: Nehmen Sie die Wiederwahlen Netanjahus in der Vergangenheit oder
meinetwegen auch die erste Wahl Trumps. Sie stürzten das linke und liberale
Lager in den USA und Israel jeweils in Trauer. In jüngster Zeit aber hat
sich etwas verändert, wir sehen eine Zuspitzung: Heute leben wir in einer
Welt, in der jeder, egal aus welchem politischen Lager er stammt oder
welche Geschichte ihn leitet, permanent das Gefühl hat, verarscht zu
werden, den Kürzeren zu ziehen und zu verlieren. Befeuert wird dieses
Gefühl durch die Algorithmen in den sozialen Netzwerken. Sie führen zu
einer verzerrten Darstellung, bei der alle immer noch extremer und
aggressiver werden. Heute wähnen sich viele permanent im Überlebenskampf,
im letzten Gefecht, als wäre es gerade die Schlacht von Alamo oder Masada.
taz: Als linksliberaler und dezidierter Kritiker der israelischen Regierung
verorten Sie sich selbst eindeutig auf einer bestimmten Seite des
politischen Spektrums.
Keret: Früher fühlte ich mich Menschen näher, die meine politischen
Ansichten teilten, heute fühle ich mich jenen nahe, die sich – unabhängig
von ihrer Parteipräferenz – ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Wenn ich
sehe, dass Menschen, die dieselben politischen Ansichten wie ich vertreten,
Angehörige des anderen politischen Lagers auf der Straße bespucken, dann
gehöre ich lieber den Menschen an, die nicht auf andere spucken. Werde ich
heute als Israeli angegriffen, weiß ich nicht, was das bedeuten soll.
Leute, die das tun, interessiert es nicht, ob ich ein Siedler bin, der
Palästina am liebsten brennen sehen würde oder ob ich – was der Fall ist –
mein Leben lang gegen die Regierung demonstriert habe. Bereits als junger
Mann in der israelischen Armee habe ich in den Ferien meine Uniform
ausgezogen und bin gegen die Besatzung demonstrieren gegangen. Das würde
ich heute ganz genauso machen.
taz: Welche Gefahren sehen Sie im Augenblick, besonders für Ihre Heimat?
Was wird die Zukunft bringen?
Keret: Ich sehe in Israel den Beginn von etwas, das mich an die politische
Lage in Iran erinnert. Ich sage bewusst nicht an europäische Länder wie
Polen und Ungarn, auch wenn Netanjahu gerne mit Viktor Orbán zusammensitzt.
Die Kräfte, die Israel zerstören wollen, sind religiös, messianisch,
fundamentalistisch. Sie sind daher den iranischen Verhältnissen viel näher
als sie es den europäischen je sein könnten. Wir haben eine Regierung, die
versucht, jede demokratische Bindung des Staates zu demontieren.
taz: Die Kulturboykotte, über die wir sprachen, werden die missliche Lage
im Land sicher nicht ändern. Was schlagen Sie als Alternative vor?
Keret: Jede Organisation oder Partei, die sich als tatsächlicher Freund
Israels oder der Palästinenser versteht, sollte die Regierung Netanjahu
zwingen, das zu tun, was jede demokratisch gewählte Partei längst getan
hätte – eine Untersuchungskommission zuzulassen. Und damit verbunden,
Neuwahlen. Sie wären nach dem Massaker vom 7. Oktober und mit dem
politischen Versagen, das zu ihm geführt hat, das einzig Konsequente.
Anstelle der deutschen Regierung würde ich gegenüber Netanjahu sagen: Wir
unterstützen euch keine Sekunde mehr, ehe ihr nicht eine
Untersuchungskommission gegründet habt, denn das sieht die israelische
Gesetzgebung vor. Die Idee, israelische Schriftsteller oder Filmemacher
daran zu hindern, international aufzutreten, entspricht dagegen der Logik
von Erstklässlern.
17 Nov 2024
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