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Die Arbeiten von Sarah Entwistle haben Titel, die gleich ganze Geschichten
versprechen: „So, you and I have come full circle. Do you accept the
unending?“ (2023) bezeichnet eine Installation aus einem an einer
Eisenschiene aufgehängten bedruckten Baumwolltuch und davor am Boden
platzierten Bronzeskulpturen von rätselhafter Form. Eigentlich handelt es
sich um objets trouvés. Es sind als überschüssig entsorgte
Bronzeguss-Armaturen aus Gießereien, die die Künstlerin bei ihren
Streifzügen über die Müllkippen genauso gefunden hat wie den Eisenschrott
aus Abbruchhäusern, den sie in ihren Arbeiten einsetzt.
„When we first met we had such a good time together. Why are you still so
afraid?“ (2023) zeigt wiederum ein bedrucktes Baumwolltuch an einer
Eisenschiene. Dieses Mal ist es gerafft, und daneben hat die Künstlerin ein
schlaffes, in sich geknicktes Schlauchstück über eine dünne Eisenstange
gehängt. Der Schlauch ist jedoch nicht, wie man erwarten könnte, aus Gummi
oder ein zerdrücktes Eisenrohr, sondern aus Keramik. Ein weiteres kurzes
Stück Schlauch liegt auf dem Boden über einem T-förmigen Eisen. Neben dem
Spiel mit den Titeln, die – ein bisschen versponnen, dabei gleichermaßen
ironisch wie poetisch – die Installationen auf anregende Weise sprachlich
widerspiegeln, fällt das Spiel mit den Materialien auf.
Sarah Entwistle beherrscht es mit so raffiniert, dass man oft kaum zu
entscheiden vermag, ob eine Form aus Bronze, Eisen oder Keramik ist, auch
und gerade weil die Form an andere Materialien denken lässt, sei es an
Holz, weil ein dünnes Bronzerohr zunächst als Ast gesehen wird, sei es an
Kautschuk, weil die schlaffe lange Hohlform eben an einen dicken
Gummischlauch erinnert.
Die Tücher als Wandarbeiten lassen an die Bilder der kameralosen Fotografie
denken, an Fotogramme von Man Ray oder Laszlo Moholy-Nagy. Tatsächlich
stammen die Muster von Entwistles Textil-Collagen teils von bereits
benutzten Transferbögen wie man sie in der Architektur verwendet. Die
Assoziation liegt nahe.
Sarah Entwistle stammt aus einer Künstlerfamilie seit mehreren
Generationen. Den Titel ihrer jetzt zweiten Ausstellung bei [1][Barbara
Thumm] „What was I aiming for? In my next life to be a great singer, and
the life after to be a writer, and so on and so on …“ fand sie in Briefen,
die ihre Urgroßmutter an ihren Sohn, also Sarah Entwistles Großvater,
schrieb.
Die Urgroßmutter Florence Vivienne Entwistle war tatsächlich ausgebildete
Sängerin, arbeitete aber nach ihrer Heirat mit dem Künstler Ernest
Entwistle als Miniaturmalerin und Fotografin. Ihr Sohn Clive arbeitete
schon mit 21 Jahren mit Le Corbusier zusammen, später ging er in die USA,
wo ein eigenes Architekturbüro unterhielt und an der University of
Pennsylvania unterrichtete. Sein Nachlass ging an Sarah Entwistle, die
selbst Architektur studierte und als Architektin arbeitete, bevor sie sich
als Künstlerin etablierte.
Entwistle nutzt das Archiv ihres Großvaters, dem sie nie begegnet ist, als
Ressource, dessen haptische, materielle Qualitäten sie als Referenz oder
als Rohmaterial ebenso verwendet wie seine immateriellen Intentionen,
Ideologien und geschlechtsspezifischen Narrative, mit denen sie sich
kritisch auseinandersetzt, wobei ihr Interesse – wie bei Barbara Thumm so
überzeugend zu sehen – konträr zur architektonischen Regelhaftigkeit und
Ordnung ganz offensichtlich Fragmentierung, Abstraktion, Farbe,
Transparenz, Undurchsichtigkeit und offenen Formen gilt.
## Nur keine Heiligkeit
Mit dem Material spielt auch Madeleine Roger-Lacan in ihrer ersten
Ausstellung bei [2][Eigen + Art]. Die 1993 geborene Künstlerin,
Meisterschülerin von Tim Eitel an der Ecole Nationale des Beaux Arts in
Paris, schneidet auch mal aus dem 150 mal 200 Zentimeter messenden „Pink
bedroom“ (2023) ein Rechteck heraus, so dass die metallene Halterung der
Leinwand sichtbar wird, um dahinter das Bild eines sich küssenden Paares zu
platzieren.
Ist ihr hier etwas missraten, das sie, anstatt es zu übermalen, einfach
ausgeschnitten hat? Oder wollte sie den Eindruck eines Fensters, einer Art
Bildschirm oder eines Plakats an der Wand erwecken? Vielleicht ist der
Ausschnitt auch nur ein Spiegel, in dem sich das Paar sieht? Denn das ist
der Blick in den Raum, den uns Madeleine Roger-Lacan zeigt: Im Bett liegend
schaut sie über den eigenen Körper, der unter der Bettdecke zu erahnen ist,
ihre Füße und eine Reihe von Stofftieren hinweg auf die Wand. Doch wo ist
der Körper des männlichen Parts?
Überhaupt liebt die Künstlerin nicht nur Bilder im Bild, sondern eben auch
echte oder auch nur gemalte Risse und Einschnitte, mit Blick auf die
darunter liegende Ebene. So etwa in „The horny studio“ (2023), wo sich die
Tapete runterwellt und dahinter ein Gesicht und eine Katze sichtbar werden.
Das große Gemälde an der Studiowand begegnet einem dann in echt, sobald man
die Treppe bei Eigen + Art heruntergeht, es hängt links an der Wand und
heißt dem Motiv entsprechend „Hand in mouth“ (2023).
Manchmal klebt Roger-Lacan auch Dinge auf die Leinwand wie bei „Girl and
death“ (2023) an der Stirnwand. Sie tut es eher zurückhaltend, aber mit der
deutlichen Absicht, die Leinwand nicht als sakrosankt zu verklären. Sie ist
Arbeitsfläche, auf der sich die Künstlerin ausprobiert und es sich erlaubt,
Stil und Duktus zu wechseln. Mal findet sie ihr Motiv nur mit Farbe und
Pinselstrich, dann arbeitet sie wieder mehr zeichnerisch, und man glaubt
ein wenig Matisse, vor allem aber Cocteau zu erkennen, in den griechischen
Profilen und den kreisrunden roten Wangen, die sie ihren Protagonisten
unter die Augen setzt.
Und weil die Leinwand nur Arbeitsfläche ist, kann Madeleine Roger-Lacan
auch einfach auf die Wand malen, die taugt genauso. Als Wandmalerei ist das
Bild „Lay down with me“ (2024, das der Ausstellung ihren Titel gibt, eine
weitere Referenz an die Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Als Szene ist es
freilich ganz im Hier und Jetzt angesiedelt, mit dem TGV, der durch das
Bild rast und der darunter geschriebenen Frage, „Where should we get
married? At church? Or at the synagoge?“ Die Antwort lautet „neither? Can I
be a polygamist?“. Ja, Madeleine Roger-Lacan sollte, was die Bildende Kunst
betrifft, noch eine Weile polygam leben, Stile, Medien und Materialien
ausproben und wechseln. Sie macht das schon sehr gut, es wird interessant
bleiben.
## Im analogen Blickwinkel
Die Fotos scheinen Klassiker zu sein. Man müsste sie eigentlich kennen,
diese Schwarz-Weiß-Aufnahmen, mit dem Blick von unten auf die
Eisenkonstruktion einer Brücke, mit der endlosen Reihe von Thonet-Stühlen,
die gestapelt an der Wand hängen, mit dem Muster der ineinander gelegten
Kehrbleche. Doch man kann sie nicht kennen. Klaus Ewering hat sie in den
Jahren 2021 und 2022 fotografiert. Offensichtlich kennt er die Fotografie
der Neuen Sachlichkeit und des Neues Sehens aus dem Effeff. Nicht nur
motivisch, sondern auch technisch.
„blende auf!“, seine Ausstellung bei [3][Streulicht], einer vor acht
Monaten neu eröffneten Fotogalerie in Schöneberg, legt im Untertitel Wert
darauf, dass es um „analoge Fotografie in s/w“ geht. Und damit um die Wahl
des Films mit seiner jeweils spezifischen Lichtempfindlichkeit. Deren
Einsatzmöglichkeiten muss man kennen, nicht jedes Motiv lässt sich mit
jedem Film adäquat fotografieren. Das gilt auch für die Kamera, auch sie
kann der Situation mal mehr mal weniger geeignet sein, je nachdem, ob sie
auf ein Stativ gestellt und eingestellt werden muss oder ob sie klein und
handlich für den genialen Schnappschuss taugt.
Wie der analoge Fotograf dann das Motiv fokussiert, wie sich die
unterschiedliche Entfernung, der unterschiedliche Blickwinkel und der
variierende Bildausschnitt dann auf die Aufnahme auswirken, das kann er
nicht auf dem Display sehen, das es nicht gibt, er muss es sich vorstellen.
Und dann sollte der Fotograf, der analog in s/w arbeitet auch das Handwerk
der Dunkelkammer beherrschen, die Entwicklung der Filme und die Herstellung
der Abzüge.
Das hat Klaus Ewering im zweiten Semester seines Kunststudiums gelernt wie
er im Text zur Ausstellung schreibt. Denn er selbst ist der Kurator seiner
Schau. Streulicht ist so etwas wie eine Anti-Galerie. Denn ihre Betreiber,
die freiberuflichen Fotografen Thilo Hertwig und Bodo Mertoglu, haben für
den kleinen Ausstellungsraum ein interessantes, aber auch etwas aufsässiges
und entsprechend riskantes Konzept: Sie vermieten den Raum und halten sich
ansonsten aus allem heraus.
Wer also meint, Arbeiten zu haben, die die Kosten einer Ausstellung wert
sind, kann sie hier präsentieren. Im Gegensatz zum üblichen Galeriekonzept
möchten Hertwig und Mertoglu mit Streulicht eben eine Galerie für jedermann
sein, oder fast für jedermann. Denn natürlich werden auch Anfragen
abgelehnt. Trotzdem, die Qualität der Ausstellungen variiert. Man muss
nicht, aber man kann Entdeckungen stoßen. Klaus Ewering macht mit seinen
Bildern unbedingt Freude, etwa mit der Aufnahme eines Stromabnehmers in der
Rue des Braves in Marseille, die an das Spätwerk von Graciela Iturbide
erinnert.
20 Jan 2024
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