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BERLIN taz | Es ist ein ungewohnter Anblick in der Karriere von Christian
Lindner: [1][Der FDP-Chef ringt am Donnerstag in der Berliner
Parteizentrale vor den Kameras nach Worten]. Eine Regierung wäge und suche
stets politische Lösungen. „Dabei kommt es manchmal zu politischen und
menschlichen Enttäuschungen“, sagt der geschasste Finanzminister. Lindner,
der vor einer Woche noch zu einer radikalen Wende in der Wirtschaftspolitik
aufgerufen hatte, gewährt nun einen Einblick in die tiefen
Auseinandersetzungen der Regierung – Auseinandersetzungen, die auch die
internen Gräben bei der FDP offenbaren.
Lindner berichtet von Bürgergesprächen, in denen es um die wirtschaftliche
Lage gegangen sei, und wie er sich mit FDP-Positionen nicht ausreichend
habe durchsetzen können. „Mich hat das menschlich aufgerieben, deshalb ist
es auch gut, dass es jetzt eine neue Richtung für unser Land gibt“, so der
Parteichef. Wie am Vorabend im Bundestag, als Lindner sichtlich angefasst
zu seiner Entlassung Stellung bezog, wirft er Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) vor, den Weg zu Neuwahlen nicht gemeinsam eingeleitet zu haben. „Das
Richtige für unser Land wäre die sofortige Vertrauensfrage und Neuwahlen.“
Ein alter Streitpunkt führte am Mittwochabend zum Showdown in der Ampel:
Scholz forderte zusätzliche Investitionen von 15 Milliarden Euro, für die
Lindner die [2][Schuldenbremse] hätte aussetzen sollen. Er sollte die
haushaltspolitische Notlage mit dem Ukrainekrieg begründen. Lindner nannte
dies einen fahrlässigen Umgang mit der im Grundgesetz verankerten
Schuldenbremse, den er mit seinem Amtseid nicht vereinbaren könnte.
Um 14.30 Uhr händigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) Lindner
die Entlassungsurkunde aus. Die FDP-Minister*innen Bettina Stark-Watzinger
(Bildung) und Marco Buschmann (Justiz) stehen zu Lindner und baten
ebenfalls um ihre Entlassung. Doch für den Parteichef stehen anstrengende
Tage bevor, denn innerhalb seiner Gefolgschaft sind nicht alle mit dem Gang
in die Opposition einverstanden.
## Wissing bleibt lieber
Überraschend trat Bundesverkehrsminister Volker Wissing nicht zurück. Er
erklärte am Donnerstagmorgen, dass er im Kabinett von Scholz im Amt bleibe.
Aus der FDP trete er aus. „Ich distanziere mich damit nicht von Grundwerten
meiner Partei und möchte auch nicht in eine andere Partei eintreten“, sagte
Wissing.
Drei Staatssekretäre von Wissing, die ebenfalls FDP-Mitglieder sind,
erklärten dagegen ihren Rücktritt. „Wir haben nach seiner einsamen
Entscheidung kein Vertrauen mehr in Volker Wissing“, hieß es in einer
gemeinsamen Erklärung.
Wissing gilt als Architekt der Ampel. Der promovierte Jurist hat bereits
2016 in Rheinland-Pfalz die Bildung einer Regierung aus SPD, Grünen und FDP
forciert. Bis heute regiert in Mainz die Ampel – und will trotz der
Berliner Ereignisse weitermachen. Als Bundesverkehrsminister ist Wissing
mit einem Fokus auf Autofreundlichkeit ein klassischer Freidemokrat. Für
Ärger in der Ampelregierung sorgte er, als er im vergangenen Jahr das Ende
der Verbrenner auf EU-Ebene blockierte, um Ausnahmen für Fahrzeuge mit
synthetischen Kraftstoffen durchzusetzen.
Er weigerte sich, ein Sofortprogramm aufzulegen, nachdem klar war, dass der
Verkehrssektor die Klimaziele reißt. Das Ergebnis: Die Ampel schaffte die
Klimaziele für einzelne Sektoren wie den Verkehr einfach ab. Wissing
initiierte aber auch das [3][dreimonatige 9-Euro-Ticket] für den
bundesweiten Nahverkehr, aus dem das heutige 49-Euro-Ticket hervorging. Das
durchzusetzen, beweist angesichts der Hunderten von Verkehrsverbänden in
Deutschland großes politisches Geschick.
Bei seinen Kabinettskollegen ist Wissing dennoch beliebt. Auch bei harten
Auseinandersetzungen betonten viele immer wieder, wie sehr sie Wissing
persönlich schätzen. Lindner sagte zu der Entscheidung Wissings lediglich,
er habe diese zur Kenntnis genommen.
7 Nov 2024
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