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Ungefähr 300.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen
wurden während der NS-Zeit ermordet. Zu diesen „Euthanasie“-Opfern kommen
noch 400.000 Menschen hinzu, die in Krankenhäusern oder Psychiatrien
zwangssterilisiert wurden. Zur Tötung ausgewählte Patient:innen wurden
meist vergast, mittels Hungerkost langsam ausgezehrt oder erhielten
überdosierte Medikamente.
Wirklich anerkannt sind diese Opfer auch heute noch nicht, das
Bundesentschädigungsgesetz von 1956 schließt die Opfer von „Euthanasie“ und
Zwangssterilisation weiter aus. Die Grüne Bundestagsfraktion will das nun
ändern und [1][hat einen entsprechenden Antrag im Bundestag gestellt] und
das Thema bei einem Online-Fachgespräch erläutert.
Die Anerkennung käme nun 76 Jahre nach Kriegsende reichlich spät. [2][2019
starb etwa mit Dorothea Buck eine selbst zwangssterilisierte
Psychiatrie-Aktivistin im Alter von 102 Jahren.] Doch die jüngsten
Entwicklungen stimmen optimistisch: Im letzten Jahr wurden die von den
Nazis als [3][„Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer des
NS-Regimes offiziell anerkannt.]
Ein Gesetz, das die Euthanasie von Behinderten und psychisch Kranken zur
Pflicht machte, gab es übrigens nicht. Die Ärzt:innen bewegten sich
weitgehend im rechtsfreien Raum, konnten sich jedoch auf das 1934 in Kraft
getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ berufen. „Erst 2007
wurde es vom Deutschen Bundestag geächtet, für nichtig erklärt wurde es
aber bis heute nicht“, sagt Erhard Grundl, Bundestagsabgeordneter und
kulturpolitischer Sprecher der Grünen.
## Betroffenen wurde nicht geglaubt
Medizin und Psychiatrie hätten nach dem Krieg die Deutungshoheit darüber
behalten, was während der Nazi-Jahre in ihren Kliniken passiert ist. Obwohl
hunderte von Betroffenen von ihren Erlebnissen in den Psychiatrien
erzählten, sei ihnen oft nicht geglaubt worden, sagt Ulrika Mientus, die an
der Philipps-Universität Marburg über die Handlungsmacht der
Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten promoviert.
Nachdem Betroffene ihre aus der Behandlung resultierenden Folgeleiden
schilderten, seien von ihren früheren Ärzt:innen mitunter Gutachten
erstellt worden, die die beschriebenen Leiden als unwahrscheinlich
darstellten.
Zwangssterilisation von geistig Behinderten galt lange nicht als
NS-Verbrechen, vielen Jurist:innen und Ärzt:innen sei der Schritt in
den 1930er und 1940er Jahren rechtens vorgekommen. Für Mediziner:innen
habe die Mitwirkung an der „Euthanasie“ in der Nachkriegszeit kein
Karrierehindernis dargestellt, sagt Winfried Süß, Leiter der Abteilung
„Regime des Sozialen“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung.
Dabei markiere die „Euthanasie“ einen Umschlagpunkt zwischen der Verfolgung
und der Vernichtung von unerwünschten Personengruppen. Oft sind noch nicht
mal die Gräber der Opfer bekannt und Krankenakten schon während der
Nazijahre spurlos verschwunden.
## Belastende Akten noch in den 90ern vernichtet
Dass das Vernichten von Akten auch noch viele Jahre später Methode hatte,
erläutert Gerhard Schneider. Schneider ist Krankenhausdirektor des
Bezirksklinikums Mainkofen und hat die mehr als hundertjährige Geschichte
des Krankenhauses gründlich erforscht. Bereits 1945 habe man angefangen,
die Krankenakten zu bereinigen. Meistens wurden die Gewichtstabellen
entfernt, um zu vertuschen, dass hier Patient:innen systematisch
verhungern lassen wurden, sagt Schneider.
1982 erst wurde schließlich die Vernichtung aller Akten, die
Sterilisationsverfahren bezeugen, beschlossen. Angehörigen und auch dem
Bayerischen Hauptstaatsarchiv sagte man schon damals, dass keine Akten mehr
vorhanden seien. Ab ca. 1990 sei die Vernichtung aller Krankenakten von
1869 und 1945 geplant worden, ein großer Teil davon konnte jedoch in den
Kellerräumen der Kirche, ja, versteckt werden, sagt Schneider.
Damit diese systematische Geschichtstilgung nicht ungestraft bleibt, setzen
sich die Grünen ferner für ein Kassationsverbot ein, das die Vernichtung
von Dokumenten untersagt. Damit sei es jedoch nicht getan, meint Sibylle
von Tiedemann, Koordinatorin der Gedenkinitiative für die
„Euthanasie“-Opfer.
Man müsse Akten nicht nur erhalten, sondern auch kritisch hinterfragen und
zu deuten wissen. Oft sei den Angehörigen nämlich mitgeteilt worden, ihre
Verwandten seien an einer Lungenentzündung gestorben. Das könne auch
stimmen, nur sei die Lungenentzündung eben durch überdosierte Medikamente
künstlich herbeigeführt worden.
11 May 2021
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