|
Vor ein paar Wochen war ich in Paris, kurz [1][nach Olympia.] Ich war
gerade beim Friseur und habe neue Schuhe gekauft. Viel zu große Sneaker,
schwer wie Öltanker. Sie halten den Boden unter meinen Füßen auf eine
seltsame Distanz. Meine Frisur ist eine Mischung aus Straßenköter und
Top-Gun-Pilot. Irgendwie cringe, aber es entfremdet mich ein bisschen von
mir selbst, indem es mir eine Rolle als Träger eines modischen Kompromisses
zuweist. Eine allgemeine Form als Tarnung?
Falls ja, sie hat nicht funktioniert. Bei meiner Ankunft am Bahnhof Gare du
Nord stoppen mich schwer bewaffnete Polizisten. Während sie mich
durchsuchen, bewundere ich die aggressive Geschwungenheit des
Maschinengewehrs. Nach einigen Minuten lassen sie mich gehen und ich denke
so: eigentlich auch eine Lektion in [2][kritischer Männlichkeit]:
Sicherheit besteht auch darin, sich selbst als allgemeine Form zu sehen,
die eine potentielle Gefahr darstellt.
Daran musste ich denken, als ein kleiner Mann zum US-Präsidenten gewählt
wurde. Ich fühle alles und nichts. Ich bringe die Gefühle um mit Worten und
kehre sie unter den Teppich. So wie der kleine Mann sich die Haare
zurechtkämmt, um die kahlen Stellen zu verbergen. So wie ich mit meinem
modischen Kompromiss.
Versuchen wir nicht alle ständig, die Lücke zu füllen zwischen dem, was wir
denken, was sein soll, statt was ist? Wird die Wirklichkeit nicht stetig
mit negativen Emotionen bombardiert – sodass sich alle aus den Trümmern
eigene basteln? 8 Milliarden Wirklichkeiten – und die mit dem lautesten
[3][Twitter-Account] oder größten Marketing-Etat triumphieren am Ende doch.
Was Massen überzeugt, sind keine Fakten, sondern die Konsistenz der
Erzählung – egal wie gelogen sie ist, schrieb die Philosophin Hannah Arendt
in den 60er Jahren. Ha, klingt wie 2024.
## Das harmlosere Äquivalent
Auch das Seine-Ufer hat eine neue Erzählung, es wurde ebenfalls aufgeräumt
wie der Bahnhof. Statt den Zelten der Unbehausten stehen Bars und sitzen
Menschen vor Picknickdecken. Sie trinken Wein aus echten Gläsern. Vögel
kreischen hämisch wie hoch gepitchte Beyoncé-Vocals, die Leute ownen ihre
eigene Schönheit auf ihre diversen Weisen. Später schaltet die Sonne beim
Untergehen auf das deepste Orange um, das ich je gefühlt habe, und alles
glänzt. Die Stadt grinst mich an und ich grinse zurück, als wüsste ich
nicht, dass sie mich verarscht.
Wie korrumpierbar ich bin, abseits der Wirklichkeit unter dem Teppich. Wie
easy ich meine Komplizenschaft in der Verdrängung Marginalisierter
ignoriere. Aber so ist das: Vielleicht heißt Macht heute auch, die Realität
zu pervertieren. Die Politikvorhaben des kleinen Mannes, der seinen
Haarausfall versteckt, und die Olympia-Doktrin sind sich ähnlich.
Könnte es sein, [4][dass das Great-America-Projekt] hier sein, wenn auch
ungleich harmloseres Äquivalent am Seine-Ufer findet, wo ich auf den
unsichtbaren Ruinen der sozialen Missstände flaniere und denken wollen
soll: hach, Paris 2024.
Aber Moment, die Story geht noch weiter. Beim Verlassen des Ufers trete ich
auf einen Wurm. Die Sohlen der Sneaker verhindern jedes Gefühl zum Boden,
wie die SUVs, die vorbeirauschen. Scheiße, der ist jetzt tot, einfach so,
umgebracht von einem achtlosen Säugetier.
Und jetzt? Fuck, ich weiß doch auch nicht. Aber eins auf jeden: Jeder
zertretene Wurm ist ein Stern – es ist das unsichtbare Leid, das ihn
scheinen lässt.
12 Nov 2024
## LINKS
|