# taz.de -- Kult-Schuhe Doc Martens: Immer da, wenn man sie braucht

> Punk ist tot, aber die Dr. Martens sind noch da. Ob auf dem Laufsteg oder
> im Club, auch heute bleibt der Schuh vor allem wandelbar. Eine Hommage.
Vor 21 Jahren verabschiedete sich eine kleine Website von ihrem Publikum:
„Wir bedanken uns bei allen unseren Kunden für das langjährige Vertrauen
auf die Vorteile der Original Dr. Maertens Luftpolster-Sohle.“

Bis 2003 hatte es noch einen Hausverkauf am Starnberger See gegeben, direkt
am Wohnhaus des Erfinders Dr. med. Klaus Maertens, damit war nun Schluss.
Im selben Jahr endete auch vorerst die Produktion am Traditionsstandort in
der Cobbs Lane Factory in Northamptonshire. 1.200 Arbeiter*innen
schauten in eine ungewisse Zukunft. Aufgrund Verlagerung der Produktion
nach Asien.

Es wäre ein großer Verlust gewesen, wäre die Geschichte hier zu Ende, denn
die [1][Schuhe], besonders das Urmodell, der 1460, gehören in den
[2][kulturellen Kanon] des 20. Jahrhunderts wie das T-Shirt und die
Colaflasche. Auch die 1460er waren Massenprodukte.

Nachdem der englische Schuhhersteller R. Griggs & Co. die Rechte am Schuh
von Klaus Maertens und seinem Partner Herbert Funck erworben hatte, kam der
1460 am 1. April 1960 als Arbeitsstiefel auf den Markt.

Kirschrotes Leder, Gummisohle, acht Ösen, zum Preis von zwei Pfund: ein
Derby-Stiefel, also ein legerer Schuh mit offener Schnürung, in dem man
bequem lange stehen und laufen konnte. Die ersten Gruppen, die sich den
Schuh aneigneten, waren Fabrikarbeiter*innen und die Briefträger von
Royal Mail. Für rund zehn Jahre sickerte das Design ins kollektive
Bewusstsein ein.

Dr. Martens laufen durch alle Straßen, stehen regelmäßig mit der Post an
der Haustür. Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie ein erschöpfter
Postbote abends in sein Back-to-Back-Haus zurückkehrt und dankbar seine
eingelatschten Docs tätschelt, weil sie seine Füße einen weiteren Tag vor
Regennässe bewahrt haben.

## Für Mods und Skinheads

Wenn es das richtige Paar ist, sind Schuhe wahrhaftige Gefährten.
Jugendliche aus der Arbeiterklasse, die gerne einen draufmachen, können
solche Gefährten gut gebrauchen. Mods und Skinheads geben den Schuhen ihre
nächste Bedeutungsschicht. Sie tragen den Arbeiterschuh und treffen damit
eine modische Entscheidung, die nicht nach „oben“ greift, sondern
selbstbewusst von ihrer Klassenzugehörigkeit Auskunft gibt.

Nachdem die „British Invasion“ mit Beatles, Stones und Kinks in den 1960ern
schon klargemacht hatte, woher der heiße Wind weht, eröffnet 1970 in
Düsseldorf ein langhaariger Junge, Heiner Hoppe, Kölner, Stones-Fan, gerade
18 Jahre alt, einen Laden.

Er nennt ihn BBC: Best British Clothing. Zu dieser Entscheidung
radikalisiert hat ihn womöglich das Begleiten einer Rolling Stones Tour
noch als Schüler. Direkt auf der Ratinger Straße, zwischen Studierenden der
Kunstakademie und dem Ratinger Hof, der späteren Keimzelle des deutschen
Punk, bietet Heiner an, was er mit seinem Renault R4 aus England
rangeschafft hat: Jeans, Lederjacken, Patches, Nieten, Gürtel, Schuhe.

Bis zur Cobbs Lane Factory soll Heiner mit seiner Gurke damals gefahren
sein – um sich dort vom Dr. Martens Chef Bill Griggs höchstselbst beim
Beladen seines Wagens helfen zu lassen. Heiners Nachfolger Christian Werner
meint: „Damals war die Marke Dr. Martens erst zehn Jahre alt. Es kann schon
sein, dass Griggs da selbst noch mit angepackt hat.“

Zu diesem Zeitpunkt sind die Schuhe mindestens etwas Cooles, Britisches,
sie haben den Nimbus von Arbeiterklasse, sind praktisch und günstig.
Heiners Laden heißt heute Pick Up und behauptet, der erste in Deutschland
gewesen zu sein, der Doc Martens im Sortiment hatte und bis heute hat.

Der nächste Schritt in der Biografie des ehemaligen Gartenschuhs von Dr.
Klaus Maertens ist seine massenmedial gestützte Aufladung mit Rebellion,
Aggression, Konzertgestank und Freiheitsdrang.

Am harten Ende der „British Invasion“ zertrümmern The Who Musikinstrumente
und Hotelzimmer. Der Kopf der Band, Pete Townshend, trägt Dr. Martens auf
der Bühne und läutet damit die popkulturelle Wende für die Schuhe ein. Die
musikversessene Jugend zieht die günstigen Stiefel an und nimmt sie fortan
mit, in immer weiter verästelte subkulturelle Gruppen – von den
klassenbewussten Skinheads zu Ska, Punk, New Wave, Goth, Metal, in
feministische Zirkel, zum Grunge in den 1990ern und zu den HipHop-Zecken
der 1990er Jahre in Hamburg.

Bevor „alles sehr uniformiert wurde“, wie ein Augenzeuge berichtet, gab es
das: Dr. Martens mit Baggypants im Publikum einer noch unbekannten Band
namens „Absolute Beginner“. Natürlich sind die kulturell aufgeschlossenen
jungen Menschen auch unter denen, die demonstrieren gehen. Dr. Martens
waren bei so vielen subkulturell bedeutsamen Reisen dabei, dass die
Bedeutungs-Pantina des Schuhs inzwischen meterdick ist.

Im Nachhinein drängt sich die Frage auf, warum die durchaus diversen
subkulturellen Gruppen kein stärkeres Bedürfnis nach Distinktion
untereinander hatten. Ob es ihnen gereicht hat, mit Personalisierungen wie
bunten Schnürsenkeln oder Bemalungen der Stiefel ihre Gruppenzugehörigkeit
auszudrücken.

Ach, überhaupt: die Sache mit den Schnürsenkeln. Weil sich die Neonaziszene
immer wieder am Kulturgut anderer Szenen bedient, hat auch der Stiefel zu
ihnen gefunden, aber ein Nazistiefel ist er nicht. Regeln für die Schnürung
können durchaus Auskunft über die Einstellung des Trägers geben, aber: Die
Unterschiede sind schon regional so unterschiedlich, dass, so empfiehlt es
auch Christian Werner, der betrachtende Blick lieber auf das gesamte
Outfit, den Kontext, in dem die Schuhe stattfinden, gelegt werden sollte.

## Von „Copkiller“ bis Gay Pride

Einige Beispiele: Rote Schnürsenkel können Punk andeuten, aber auch
National Front. Weiße Schnürsenkel können „White Pride“, aber auch „Black
and White united“ bedeuten. Lila Schnürsenkel können für die emanzipierte
Frau stehen, aber auch Gay Pride – hier ist wenigstens mal kein totaler
Gegensatz vorhanden. Blaue Senkel sollen mancherorts einen „Copkiller“
anzeigen, könnte woanders aber auch „I love Schalke 04“ bedeuten.

So dürfte es sich auch mit der Toleranz subkultureller Gruppen ihrem
liebsten Allerweltschuh gegenüber verhalten: Er entfaltet seine Bedeutung
erst im Kontext, den zu lesen, Insiderkenntnisse erfordert. Das genügt.

„Freunde, ihr wisst, es gibt viel Trouble in der Welt. Wir brauchen etwas,
das uns vereint. Was ist die eine Sache, die wir alle teilen, die uns
vereint?“ An Weihnachten 1982 gibt der englische Künstler Alexei Sayle die
Antwort: Es ist nicht „class or ideology“, sondern die Sache ist
„classless, genderless, waterproof“ und kostet nur 19 Pfund und 99 Pence.

Wenn die Gesellschaft noch einen Minimalkonsens zustande bringen kann, dann
den: Dr. Martens passen. Sogar [3][die Polizei] hat sie an. Heute ist die
Gesellschaft wieder zerrissen, der Preis für ein Paar Stiefel liegt
allerdings inzwischen eher bei rund 200 Eiern. 11,5 Millionen Paar hat Dr.
Martens im letzten Geschäftsjahrs weltweit verkauft.

Weil sie in der Regel länger halten als ein Geschäftsjahr, sehen wir sie
überall. Es gibt seit 2007 wieder „Made in England“-Schuhe, die im Werk an
der Cobb Lane hergestellt werden. Aficionados meinen häufig, deren Qualität
sei besser. Für den Verkäufer Christian Werner haben aber alle Dr. Martens
Ehre verdient: „Die Maschinen sind gleich. Und es ist immer noch alles
Handarbeit, egal wo die Hände sind. Man muss die Schuhe halt auch pflegen,
mit Lederpflege und Ruhetagen.“ So vermeidet man nach seiner Empfehlung die
Tragefalten, die zu Tragerissen werden können am besten.

Durch die Aufladung des Schuhs mit über 60 Jahren Geschichte kann man sich
heute freimütig aus der in die Schuhe eingeschriebene Referenzmenge
bedienen. Dr. Martens kombiniert mit Kleid oder Anzug, als Arbeitsschuh,
militaristisch-erotisch oder öko-nachhaltig: Theoretisch kann man immer den
gleichen Schuh tragen und sich dennoch jeden Tag, wenn es denn sein muss,
anders inszenieren.

Wann haben wir genug davon? Das Design des 1460 ist fast 65 Jahre alt.
Eigentlich Zeit für Rente, aber er ist stattdessen im Berghain. Ist das
vielleicht einfach so gutes Design, dass es bis heute kein besseres gibt?

„Natürlich gibt es besseres“, sagt Antonelle Giannone der taz. Sie ist
Professorin für Modetheorie, Modegeschichte und Bekleidungssoziologie an
der Kunsthochschule Weißensee. Jedoch hielten wir Menschen affektiv an
Objekten fest. „Wir suchen Kontinuität, nicht nur Neues, Besseres.
Besonders daran, was als Klassisches bezeichnet wird, halten wir gerne fest
– man denke nur an den Trenchcoat.

Es gibt einen Bedarf an Erinnerungskultur; Geschichte, die über unser Leben
hinausgeht. Wir brauchen das anscheinend.“ Eventuell liege das daran, dass
ein Teil unseres Gedächtnisses an digitale Utensilien ausgelagert wurde.
Das Gedächtnis ist ins Mobiltelefon gewandert – und an die Füße.

13 Nov 2024

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## AUTOREN
Donata Künßberg
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