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Im Café de la Roquette in Arles sind an diesem Sommerabend alle Tische
besetzt. Es ist der erste Wahltag der vorgezogenen Parlamentswahlen in
Frankreich. Noch plaudern die jungen Arlésiens und Arlésiennes entspannt
bei Bier und Ricard. Dann, um 20 Uhr, die ersten Hochrechnungen: Die
rechten Lepenisten liegen mit großem Abstand vorne, in Arles selbst erhielt
der RN-Kandidat Emmanuel Tache sogar 47,8 Prozent der Wählerstimmen.
Das sind beinahe 20 Prozentpunkte mehr als der Kandidat der kommunistischen
Partei, Nicolas Koukas, erhalten hat, gegen den Tache am kommenden Sonntag
in die Stichwahl gehen wird. Auf einmal ist die Atmosphäre auf dem Platz
gedrückt, die Stimmen sind leiser geworden.
Von dem immer weiter zunehmenden Rechtsruck in Frankreich ist jedoch bei
den jetzt beginnenden Rencontres d’Arles nicht viel zu merken. Der Etat des
wichtigen, internationalen Fotografiefestivals sei zwar gesunken, aber dank
privater Förderer sei man nicht nur auf staatliche Gelder angewiesen, so
Christoph Wiesner. Der Museologe Wiesner aus Gemünden am Main leitet seit
2020 [1][die Rencontres]. Die 55. Ausgabe des 1970 gegründeten Festivals
trägt den Titel „Beneath The Surface“. Wiesner spricht von den sich
„überlagernden Erzählungen unter einer gerade immer poröser werdenden
Oberfläche der Selbstverortung und Identitätssuche“.
An vielen Stellen der diesjährigen Rencontres geht es um die Bewältigung
gegenwärtiger Krisen. Es geht um Migration, um die Geschichte des
Kolonialismus oder um die Folgen des Klimawandels. Viele Künstler:innen
nutzen Humor als Strategie, um den schweren Themen zu begegnen.
## Der Blick zurück auf eine verlorene Heimat
Wie die 1975 in Spanien geborene Fotografin Cristina de Middel. In ihrer
Installation „Journey to the Center“, in der Kirche der Frères Prêcheurs
aus dem 15. Jahrhundert zeichnet die in Mexiko und Brasilien lebende
Fotografin die Migrationsroute von dem Ort Tapachula im Süden Mexikos nach
Felicity nach, einer kleinen Stadt in Kalifornien. Geografisch gilt
Felicity als „Zentrum der Welt“. Mit ironischen Einblicken auf beiden
Seiten der Mauer zeigt de Middel, wie absurd es doch ist, den Ort mit solch
einem Slogan auch für den Tourismus zu bewerben.
Dafür kombiniert sie Dokumentarfotografie und Archivmaterial, arbeitet
visuell mit Stereotypen, die sie dann ironisierend wieder dekonstruiert:
Eine [2][junge Mexikanerin steht vor dem Grenzzaun] in einem T-Shirt mit
übergroßem rosafarbenen Trump-Gesicht, ein Mann mit verwischten
Gesichtszügen trägt ein Superman-Kostüm mit der Trump-Parole „Mexico Will
Pay“. Oder eine meterhohe Madonnenfigur wird auf dem Dach eines Kleinwagens
samt verschiedener Habseligkeiten transportiert. Auf der anderen Seite ist
die Leuchtreklame einer US-amerikanischen Kirche zu sehen, mit der
Erklärung „The Door to New Life Is Open“.
Das diesjährige Festivalplakat zeigt de Middels Arbeit „An Obstacle in the
Way“ (Una Piedra en el Camino): eine Frau mit grauem Haar in einem lang
geflochtenen Zopf, die bis zu den Knien in einem See steht. Den Blick
zurück gerichtet auf eine verlorene Heimat. Sie wirkt in Erinnerungen
versunken. Es ist ein sehnsuchtsvolles, sehr intimes Bild, zärtlich und
verletzlich.
## Eine Variante europäischer Gartenzwerge
Kurios kommt in Arles die erstmals 2016 in Neu-Delhi ausgestellte Serie
„Everyday Baroque“ des 1954 geborenen indischen Fotografen Rajesh Vora
daher. Sie dokumentiert Ferienhaussiedlungen von „Non-Resident-Indians“
(NRI) in Punjab. Die in der Diaspora lebenden Inder kommen nur in den
Ferien dorthin und haben auf ihren Häusern in stolzer Pose
überdimensionierte Gipsfiguren aufgestellt, in aberwitzigen Formen von
Maruti-Pkws, Traktoren, Panzern, Schiffen mit amerikanischer Flagge,
Boeings oder einer meterhohen Whiskeyflasche. Eine Variante europäischer
Gartenzwerge. Das wirkt bizarr, surreal und humorvoll.
Als absurde Monumente des Unwiederbringlichen wirken dagegen die nur noch
als Reste aus dem Wasser ragenden Bauwerke in der Serie „A Fates Brief
Memoir“ des 1982 in Indien geborenen Fotografen Paribartana Mohanty, der in
Lentikularbildern Orte dokumentiert, die durch den Klimawandel im Meer
versunken sind.
Der 1984 in Berlin geborene Fotograf Bruce Eesly montiert in seiner Serie
„New Farmer“ Werbefotografien für Landwirtschaftsmagazine aus den 1960er
Jahren, die mit der „Green Revolution“ mit genmanipuliertem Gemüse für
bessere Ernten warben, mit KI-Bildern mit ins Monströse vergrößerten
Brokkoli oder Gurken.
Befremdlich wirken auch die Modeaufnahmen für US-amerikanische Uniformen
des Archivs des Natick Soldier Systems Center von 1960 bis 1990. Sie
bewerben stilvolle Ausrüstungen für Kriegsgebiete, Mondlandungen oder
Atomkatastrophen. Die [3][kathartische Theorie des Humors] vertrat schon
Sigmund Freud. Ob sie auch hilft, der Sorge vor einer Regierungsbeteiligung
des RN im französischen Parlament zu begegnen?
2 Jul 2024
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