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Ein feiner Dunst hängt über der zweitausendjährigen Altstadt von Arles. Es
wird wieder ein sehr warmer Tag werden in dem südfranzösischen,
provenzalischen Ort, der als Paradebeispiel dafür herhalten kann, wie sehr
die gesellschaftliche Schere in Frankreich auseinanderklafft.
In den pittoresken Gässchen, gesäumt von Cafés, Restaurants und kleinen
Geschäften, ist nichts von der hohen Arbeitslosigkeit, der Feindseligkeit
gegen Einwanderungsfamilien aus Nordwestafrika und der wachsenden
politischen Unzufriedenheit zu spüren. Im vergangenen Jahr holte Emmanuel
Taché für den rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen bei
den Parlamentswahlen die meisten Stimmen, bei den letzten
Präsidentschaftswahlen lag Le Pen in Arles weit vor Emmanuel Macron.
Während die ersten Touristengruppen über den Forumsplatz in Richtung
Kolosseum geführt werden, vorbei an den Orten, an denen Van Gogh einige
seiner bekanntesten Bilder gemalt hat, wie die „Sternennacht“ oder „Die
Brücke von Langlois“, sind auch andere Gruppen unterwegs. Die würde man
eher auf Vernissagen in New York, London oder Paris verorten.
Wie in jedem Jahr kommen sie zur Eröffnung der jährlichen „Rencontres de la
Photographie d’Arles“, des international bedeutendsten Fotofestivals. In
diesem Jahr findet es zum 54. Mal statt. Gegründet 1970 von [1][Lucien
Clergue], wird es seit drei Jahren von Christoph Wiesner geleitet, vorher
Direktor der weltgrößten Fotomesse „Paris Photo“.
## Generationsübergreifende Fotografinnen
Die Ausstellungen sind als Begegnungen, als rencontres, konzipiert. An 27
historischen Orten treten die Fotografien in Kontakt mit Umgebung und
Architektur. Wie im ehemaligen Benediktinerorden von St. Trophime aus dem
12. Jahrhundert. Dort sind frühe Fotografien und Filmausschnitte [2][der
1928 geborenen und 2019 verstorbenen, einflussreichen französischen
Fotografin, Filmemacherin und Künstlerin Agnès Varda] zu sehen Mit ihren
sensiblen filmischen Gesellschaftsporträts gilt sie als Vorläuferin der
Nouvelle Vague.
Es sind Rolleiflex-Aufnahmen des Mittelmeerortes Sète, wohin sie von Mitte
der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre jedes Jahr zurückkehrte. Auch der
französische [3][Fotograf und Street Artist JR] ist im Publikum und geht,
sichtlich ergriffen, von Bild zu Bild. Er hatte Varda für ihren, 2018 für
einen Oscar nominierten, Dokumentarfilm „Visages Villages“ begleitet.
Direkt gegenüber, in der gotisch überwölbten, ehemaligen Kirche
Sainte-Anne, ist die Ausstellung „Søsterskap“ (Schwesternschaft) zu sehen,
mit generationenübergreifenden Fotografinnen aus fünf nordischen Ländern.
Darunter die 1993 geborene finnische Fotografin Emma Sarpaniemi, die
Definitionen von Weiblichkeit mithilfe von performativen Selbst- und
Gemeinschaftsporträts hinterfragt. Den direkten Bezug zu Cindy Sherman, wie
in „Self-portrait as Cindy“, Titelbild der diesjährigen „Rencontres“, löst
Sarpaniemi in ihrer Selbstportät-Serie „Two Ways to Carry a Cauliflower“
spielerisch auf.
## Eigene visuelle Identität
Beeindruckend sind in dieser gelungenen Gruppenschau auch die Arbeiten der
1952 geborenen, norwegisch-samischen Fotografin und Musikerin Bente Geving.
Ihre ausgestellte frühe Serie „Anna, Inga und Ellen“ von 1988 zeigt auf
spielerisch-zärtlichen Schwarzweißaufnahmen das häusliche Leben ihrer
Großmutter und Tanten. Darauf beobachtet sie die Beziehung zwischen den
drei Schwestern, aber auch, wie sie ihre samische Kultur leben und langsam
verlieren. [4][Durch die „Nordifizierungspolitik“ wurden die Sami ihrer
kulturellen Praktiken beraubt], zwangschristianisiert und häufig
stigmatisiert.
Nahe dem Rathaus, in der Salle Henri-Compte, sind Arbeiten der 1981 in
Teheran geborenen und in Paris lebenden Fotografin Hannah Darabi zu sehen.
Sie dokumentiert in ihrer Serie „Soleil of Persian Square“ das Leben der
iranischen Diaspora in Los Angeles. Etwa eine halbe Million Menschen
gehören dieser großen, persischen Auslandsgemeinde um den Westwood
Boulevard, genannt „Tehrangeles“, an.
Sie haben eigene persischsprachige Zeitungen und Radiosender, und wie man
auf den Fotos sieht: Sie haben eine eigene visuelle Identität. Für Darabi
bedeuten diese Fotografien eine Reise vom realen in den imaginären Raum,
sie dokumentieren eine Lebensweise und Popkultur in der Diaspora, die ein
Gegenmodell zum derzeitigen Regime im Iran bildet. Dazu gehört auch eine
Musik, die wir „lieben, um zu hassen“, so Darabi in einem Statement zu
ihrer Fotoserie aus „Tehrangeles“. Sie hat „nie ihren Platz im Herzen einer
verstreuten Nation verloren, hat nie aufgehört, unsere Körper zu bewegen,
ob in [5][einem Taxi in Teheran], unter Freunden in Paris oder bei einem
Konzert in Toronto“.
## Ausdruck einer Gemeinschaft, die Ausgrenzung erfährt
Auf eine Spurensuche begibt sich auch die Ausstellung „Light of Saints. A
Photographic Pilgrimage“ in der Kapelle des Museons Arlaten aus dem 17.
Jahrhundert. Sie zeigt mitunter frühe Fotografien von Rencontres-Gründer
Lucien Clergue. Clergue begleitet darauf Gitanos, Roma und Sinti bei ihrer
jährlichen Pilgerreise zu der nahe gelegenen Kirche Notre-Dame-de-la-Mer
mit der heiligen Statue der Schwarzen Sara.
Die Wallfahrt bietet Raum für den sozialen, religiösen und
[6][künstlerischen Ausdruck einer in Arles seit Generationen beheimateten
Gemeinschaft], die sonst viel Ausgrenzung und Antiziganismus erfährt. Auch
auf [7][der letzten Berlin Biennale] dokumentierte der französische
Fotograf Mathieu Pernot das Leben einer Rom*nja-Familie aus Arles, und dass
sie nie in der Stadtgesellschaft angekommen ist. Wieder aus der Kapelle in
die Sonne hinaustretend, scheint dann sehr weit weg zu sein, was direkt
hinter der Altstadtmauer Alltag ist.
6 Jul 2023
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