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Die Banlieue, die Bannmeile, die sich wie ein Gürtel um den noblen
Stadtkern von Paris legt, ist ein düsterer Ort. Wohntürme schrauben sich in
den Himmel. 2005 war sie Schauplatz der schlimmsten Krawalle in Europa:
Waschmaschinen wurden aus Fenstern auf Polizisten geworfen, Autos gingen in
Flammen auf, Jugendliche trafen sich mit Schusswaffen, Fahrradketten und
Küchenmessern zu organisierten Keilereien.
Wenn es hoch herging in der Banlieue, so berichtete ein französischer
Polizist der Autorin dieses Texts damals, wurden die Wohnviertel nur noch
von außen abgeriegelt, damit der Ärger nicht in die Stadt schwappte. Man
überließ das Chaos und die Gewalt im Inneren sich selbst.
Das ist die Welt, aus der der 1983 geborene Street-Art-Künstler JR kommt.
Sein Akronym JR steht für Jean-René – oder für „Juste ridicul“ („einfach
lächerlich“). Als Teenager mitten im brodelnden Dampfkessel von Montfermeil
beginnt JR mit seinen reduzierten Graffiti: Er kombiniert Tags, also
Signatur-Schriftzüge, mit aufgeklebten Fotografien.
Ihm hat die Hypokunsthalle in München nun – nach New York, Paris, London –
eine große Einzelschau gewidmet. „JR: CHRONICLES“ ist die eindrucksvolle
Ausstellung überschrieben. Die Hängung ist düster und drückend. JRs
übergroße, oft fratzenhaft verzogene Porträts überwachen die Besucher.
Zitate illustrieren sein Kunstverständnis: JR will nicht die Welt verändern
– aber die Wahrnehmung der Welt.
## Dort, wo der gesellschaftliche Unfall passiert
Klar wird das auf den ersten Metern: JR ist Augenzeuge – einer, der sich
aktiv dahin begibt, wo unter Billigung von Autoritäten ein
gesellschaftlicher Unfall passiert, und wo das routinierte Wegblicken
gleichzeitig zur Gewohnheit und zum Kollektivverbrechen wird. Er reist in
die Favelas, nach Israel, an den Zaun, der die USA vor Einwanderern
schützen soll.
Schon der junge JR sorgt dafür, dass seine Lebenswelt sichtbar wird, dass
[1][die Gesichter der Banlieue das Pariser Stadtbild] erobern, dass ihre
Geschichten eben doch in die Stadt schwappen. Großformatige Fotografien
seiner Freunde hängt er in die Champs-Élysées und versieht sie mit
gesprayten Rahmen. Wenn die Staatsmacht die Bilder herunterreißen lässt,
bleibt so zumindest eine Leerstelle – die über Tage Menschen zeigt, dass
hier etwas nicht gesehen werden sollte.
2006 erlangt er internationale Bekanntheit mit einem Mural: „Portrait of a
Generation“. Krawall-Jugendliche aus Montfermeil kopiert er neben andere
Figuren der Kommune: Feuerwehr, Helfer, den Bürgermeister sogar. Inspiriert
hätten ihn die Murales von Diego Rivera, sagt er – und trifft damit eher
eine politische als eine künstlerische Aussage: Die Tafelbilder des
überzeugten Kommunisten Rivera brachten das einfache Volk mit den Mitteln
der Kunst in die Räume der Bourgeoisie. Sie erhoben die, denen die
Gesellschaft kaum eine Existenzberechtigung zubilligen wollte, über den
Umweg der Kunst zum Wandschmuck – und ironischerweise zum Statussymbol.
Seine Nachbarschaft wird JR schnell zu eng. Im israelischen Grenzgebiet
kombiniert er wandhohe Porträts von Isralis und Palästinensern. Die
übereinander montierten Gesichter wohnen auf verschiedenen Seiten der
Grenze, haben aber denselben Job: Friseur, Taxifahrer, Bäcker. Und keiner
der Betrachter dies- oder jenseits des Grenzzauns kann zwischen Gegner und
Bruder unterscheiden. JR porträtiert Frauen in den Slums von Nairobi. Er
lässt ein Kindergesicht über den mexikanischen Grenzzaun linsen.
## Die Wohntürme von Montfermeil
Als vor zehn Jahren in Montfermeil Wohntürme abgebrochen werden, tapeziert
er mit seinem Team riesige Porträts seiner Kindheitsfreunde in die Räume –
sodass die Bagger, Hieb um Hieb, die Vergangenheit enthüllen.
Und in München rollt er auf dem Odeonsplatz eine 45 Quadratmeter große
Plane mit dem Gesicht des ukrainischen Kindes Valeriia auf – so, wie er es
schon Mitte März in Lwiw getan hatte, um russischen Kampfbombern zu zeigen,
[2][auf wen sie ihre Geschosse donnern].
Auch die Kamera, mit der JR die ersten Fotos geschossen haben will, hat es
in eine Vitrine geschafft. Der Künstler hat sie in der Pariser Metro
gefunden, sagt er. Technisch versiert war er damals nicht, aber der Blitz
ermöglichte ihm spontane Nachtaufnahmen mit krassen Kontrasten – die er zu
seinem visuellen wie inhaltlichen Statement macht.
Unverwechselbar – und damit breit verkäuflich – werden seine Arbeiten durch
sein starkes Plotting und die Konsistenz seiner Erzählung, die sich in der
Geschichte mit der Kamera schon andeutet und durch seinen Auftritt zieht.
JR verbirgt nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Augen. Er inszeniert
seine Halb-Anonymität und Halb-Legalität mit Hut und Sonnenbrille – und
wird so zum perfekten Epitome eines Underground-Künstlers, der es
eigentlich längst geschafft hat. JR ist mehr Banksy als [3][Basquiat]. Aber
macht der Erfolg, vielleicht Hype, seine Arbeiten weniger packend?
JR ist mit 39 Jahren ein perfekter Bote seiner Zeit. Er nutzt
allgegenwärtige Medien – Film und Fotografie – und hinterlegt sie mit einer
Idee, die so stark und plakativ ist, dass man sich der emotionalen
Strahlkraft nicht entziehen kann.
30 Aug 2022
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