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Der Beginn bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Schon in den ersten
Tagen des Wahlkampfs für die Europa- und Kommunalwahlen gab es Angriffe auf
Politiker:innen. Am Freitag voriger Woche wurde der
[1][SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke] beim Aufhängen von Wahlplakaten
brutal zusammengeschlagen. Er erlitt einen Jochbeinbruch, Hämatome und
Schnittverletzungen.
Mit blauem Auge und Pflaster zeigte er sich später bei X. Tatverdächtig
sind vier Jugendliche zwischen 17 und 18 Jahren, die Kontakte zur
rechtsextremen Szene gehabt haben sollen. Es gibt Hinweise auf Verbindungen
zur rechtsextremen Gruppierung „Elblandrevolte“.
Am Dienstag, vier Tage nach dem Angriff auf Ecke, wurden in Dresden die
[2][Grünen-Kommunalpolitiker:innen Yvonne Mosler und Cornelius
Sternkopf attackiert,] auch dieser Angriff geschah beim Aufhängen von
Wahlplakaten. Tatverdächtig sind ein Mann und eine Frau. Der Mann soll die
Politikerin beiseite gestoßen und bedroht haben, die Frau bespuckte sie.
Am selben Tag schlug ein Mann in einer Berliner Bibliothek der
Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey einen Beutel mit hartem Inhalt auf
den Kopf. Der Tatverdächtige könnte laut Polizei eine psychische Erkrankung
haben. Die grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Katrin
[3][Göring-Eckardt, wurde nach einer Parteiveranstaltung in
brandenburgischen Lunow-Stolzenhagen] bedrängt.
## Entkultivierung in den Debatten
Deutschland 2024, ganz normal? Festellen lässt sich eine Entkultivierung
in den Debatten. Sie ist schon lange offensichtlich, bei Themen wie der
Flüchtlingspolitik, bei Subventionskürzungen für die Agrarwirtschaft und
dem Heizungsgesetz. Den Worten folgen Taten.
Verbale Entgleisungen kamen und kommen nicht nur aus dem Milieu der AfD.
Politische Gegner:innen werden als politische Feinde markiert – das ist
eine semantische Differenz, der die Option innewohnt, entweder miteinander
zu reden oder zuzuschlagen. Diese Differenz mag bei den Attacken auf die
rot-grün-gelbe Bundesregierung aus der Opposition als auch aus den Medien
nicht so bewusst zu sein.
Bei der Analyse der Sprache des Nationalsozialismus warnte Victor Klemperer
in „LTI“ aber gleich nach 1945: „Worte können sein wie winzige Arsendosen:
Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und
nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Die permanente Wiederholung
von verbalen Angriffen treibt die Entkultivierung voran.
So berechtigt die Kritik an der Bundesregierung sein mag, so auffällig ist
eine Reduzierung. Die FDP wird weniger angefeindet. Der Hass und die Hetze
[4][fokussieren sich vor allem auf die Grünen.] Bei den Bauernprotesten in
diesem Winter fiel das besonders auf. Die Proteste offenbarten auch, dass
die Enthemmung nicht bloß im Osten der Republik zunimmt. Im
schleswig-holsteinischen Schlüttsiel verhinderten im Januar aufgebrachte
Landwirt:innen, dass Robert Habeck eine Fähre verlassen konnte. Im
baden-württembergischen Biberach mussten die Grünen wegen massiver Proteste
ihren traditionellen Aschermittwoch absagen.
## Verharmlosung, Verdrängung, Vergessen
Die Drohkulisse hat sich aber schon lange vor den Angriffen der vergangenen
Tage aufgebaut. Die Taten passieren nicht im luftleeren Raum. Doch die
Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik ist auch immer eine
Geschichte der Verdrängung, Verharmlosung und des Vergessens. Eine
Ignoranz, die auch mit ermöglichte, dass der NSU unerkannt zehn Menschen
ermorden konnte.
Die alltäglichen Angriffe in den Jahren nach der Wende von Rechtsextremen
gegen alle, die als Feinde markiert waren, wurden erst fast 30 Jahre später
unter dem Hashtag [5][„Baseballschlägerjahre“] breiter thematisiert. Die
Brandanschläge in den 1990er Jahren, bei denen mindestens 32 Menschen
starben, erinnert sich die weiße Mehrheitsgesellschaft kaum. Und wenn, dann
zu den Jahrestagen von Mölln und Solingen, an denen an ein rituelles „Nie
wieder“ gemahnt wird.
Könnte einer der Gründe sein, was die Anwälte von Semiya Şimşek vor Beginn
des NSU-Verfahren zum Umgang mit den Opfern fragten? „Liegt es daran, dass
es eine schwache Bevölkerungsgruppe trifft, die Migranten?“ Der Vater von
Şimşek, Enver Şimşek, war der Erste, der vom NSU ermordet wurde.
Das Kaum-Erinnern fällt jetzt ebenso bei den Bedrohungen der
Politiker:innen auf. Die Ermordung Walter Lübckes durch einen
Rechtsextremen, der der AfD Geld spendete und an deren Kundgebungen
teilnahm, wird bei der Bedrohung von Politiker:innen kaum bis gar
nicht erwähnt. 2019 erschoss der Täter den Regierungspräsidenten, weil der
CDU-Politiker sich für Geflüchtete einsetzte. Einer schoss, doch mehrere
hatten lange zuvor den Ton gesetzt.
## Eingebettet in eine Hass-Community
Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber warf denn auch Erika Steinbach
via Twitter vor, eine „Mitschuld“ an dem Mord zu haben, da die Vorsitzende
der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung „auf ihren Social-Media-Kanälen“
Hass gegen Lübcke verbreitet habe.
Schnell werden die Täter – überwiegend männlich – zu Einzeltätern erklärt.
Sie alle sind jedoch, wie der Attentäter aus Halle und in Hanau, in eine
Hass-Community eingebettet, die zur Tat antreibt. Ein Vorbild dieser
internationalen „White Supremacy“-Szene ist der Attentäter, der in
Neuseeland 51 Menschen hinrichtete.
Das Morden konnte live auf einem Portal für Computerspiel-Videos verfolgt
werden. Eine Gamefizierung des rechten Terrors, bei dem das Publikum im
Livestream weltweit zusehen kann.
Vor Jahren warnten bereits Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter
Sitzer vor neuen „Bedrohungsallianzen“. Diese Bedrohungen beginnen mit
Verschiebungen auf der Einstellungsebene, schrieben sie 2020. Diese
Verschiebungen bemühten sich aber manche Politikwissenschaftler:innen,
Politiker:innen und Journalist:innen schon bei Pegida zu
verharmlosen.
Enttäuschte „Wutbürger“ seien da bloß auf der Straße, Galgen mit
Politiker:innenfiguren irritierten allerdings schon ein wenig.
Dieses Ausbrechen einer „rohen Bürgerlichkeit“ aus der gesellschaftlichen
Mitte mahnte Heitmeyer früh an. Die Rohheit trifft
Kommunalpolitiker:innen seit der Krise der Flüchtlingspolitik 2015
und den Pandemiemaßnahmen 2020 verstärkt.
## Das autoritär-nationalradikale Milieu
Die Bedrohungsallianz umfasst Einzelpersonen, die Einstellungen der
gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit teilen, sowie ein Milieu von
Bewegungen und Parteien, die „autoritär-nationalradikal“ ausgerichtet sind,
als auch Zellen und Unterstützende, die terroristisch und klandestin
agieren, schreiben Heitmeyer, Freiheit und Sitzer.
Im Februar dieses Jahres offenbarte das kommunale Monitoring, dass 38
Prozent der befragten Oberbürgermeister:innen und Landrät:innen
Anfeindungen erleben mussten. Die rechtsextremen Straftaten sind 2023
erneut gestiegen, auf 28.945. Die Gewalttaten auf 1.270. Insgesamt sind es
über 41.640 Straf- und Gewalttaten.
Statistisch werden pro Tag in Deutschland 117 rechtsextreme Taten verübt.
Ein Terror, der bisher kaum aufschreckt. Der rechte Terror beginnt aber
nicht erst, wenn geschlagen oder geschossen wird, er beginnt, wenn Menschen
ihr Leben aus Angst umstellen. Und Wahlkämpfende sich überlegen müssen, wie
sie sich schützen.
11 May 2024
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