|
Bremen/Berlin taz | Als Michael Högt zum hoffentlich letzten Mal in seinem
Leben Geld auf den Ausgang eines Sportereignisses setzt, weiß er noch nicht
einmal, auf wen er da eigentlich wettet. Es ist der 24. Oktober 2020, ein
Samstag. Högt blickt auf sein Handy. Er entscheidet sich für das Spiel
Tapioan Honka gegen Torpan Pojat. Basketball, Frauen.
Woher die Teams kommen? Heute lacht Högt darüber, wenn er sich an den Tag
erinnert. „Taiwan vielleicht?“ Er tippt die Namen in die Suchmaschine ein.
„Nee, Finnland.“
Tapioan Honka, das eine Team aus dem Großraum Helsinki, schlägt an diesem
Tag Torpan Pojat, das andere Team aus dem Großraum Helsinki. 99 zu 73. Högt
verliert seine Wette. Damals ist ihm gar nicht zum Lachen zumute, denn er
weiß: Er hat ein Problem. Ein großes.
Michael Högt ist einer von Tausenden in Deutschland, die auf Sport wetten.
Auf den Ausgang von Fußball- oder Basketballspielen, auf Tennismatches.
Darauf, wie viele Körbe fallen oder welche Mannschaft die meisten Tore
schießt.
Högt war süchtig. Über sieben Jahre hat er gewettet, mit Freunden in der
Wettbude und heimlich zu Hause am Handy auf dem Klo. Er hat viel Geld
verloren, Freunde belogen, seine Familie beklaut. Damit ist er nicht
allein. Offizielle Zahlen, wie viele Menschen süchtig nach Sportwetten
sind, gibt es nicht, Schätzungen zufolge sind es Zehn-, vielleicht
Hunderttausende. Jeder Dritte, der*die wettet, zeigt laut des
[1][Jahresbericht 2022 der Deutschen Suchthilfe] Anzeichen einer
Glücksspielstörung.
Wenn Michael Högt von damals erzählt, wandern seine Augenbrauen nach oben,
als sei er selbst überrascht von den Worten, die seinen Mund verlassen. Und
von dem, was er getan hat. „Vieles habe ich auch einfach verdrängt.“ Er ist
27 Jahre alt, trainiert, trägt ein weißes Hemd. Högt verdient heute gut,
aber muss noch mehrere tausend Euro Schulden abbezahlen. Eigentlich heißt
er anders. Damit er im Job keine Probleme bekommt, wurde sein Name in
diesem Text geändert.
In Deutschland gibt es [2][31 Anbieter für legale Sportwetten]. Sie heißen
Betway, Bwin, Chillybets oder Tipico. Ihre Logos prangen auf den Trikots
der Sportler*innen und flackern in den Halbzeiten über die Bildschirme.
Die Branche boomt: [3][Seit 2014 hat sich ihr Umsatz] laut dem Deutschen
Sportwettenverband fast verdoppelt und lag [4][2022 bei 8,2 Milliarden
Euro].
Wer möchte, kann zu jeder Uhrzeit Geld auf Teams, Ergebnisse, Tore oder
Körbe setzen. Das geht übers Internet und in der App. Falls die Wette
aufgeht, zahlt der Anbieter das Geld mit einer Quote zurück, die er vorher
festgelegt hat. Je unwahrscheinlicher ein Ereignis, desto höher die Quote
und der Gewinn. Dass zum Beispiel im Bundesliga-Spiel am kommenden Samstag
Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund kein Team den Sieg holt, ist
möglich, gilt aber nicht als sehr wahrscheinlich und hat deshalb bei bwin
eine recht hohe Quote von 4,0. Wer also 1 Euro darauf wettet, bekommt bei
bwin 4 Euro zurück, falls das Spiel unentschieden ausgeht. Ein Sieg für
Frankfurt gilt als noch unwahrscheinlicher und lukrativer (Quote 5,0). Geht
die Wette nicht auf, behält der Anbieter das Geld. Ein einfaches Geschäft,
das für viele den Sport spannender macht.
Menschen, die süchtig nach Sportwetten sind, sieht man ihr Problem nicht
an: keine gelben Fingernägel, keine roten Augen, keine Fahne. Viele schämen
sich für ihre Sucht und leiden im Stillen. Sie setzen immer höhere Beträge,
um ein Glücksgefühl zu erhalten und um ihre Verluste auszugleichen. Das
Wetten wird zum Zwang. „Pathologisches Glücksspiel“ ist seit 2022 im
internationalen [5][Klassifikationssystem von Krankheiten der
Weltgesundheitsorganisation] gelistet.
Wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, lässt sich nicht genau
sagen. Laut einer [6][Studie der Universität Bremen aus dem Jahr 2021]
leiden etwa 2 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bis 70 Jahre unter der
Glücksspielsucht. Das entspräche etwa 1,25 Millionen Menschen.
Aber Glücksspiel ist ein weiter Begriff. Er meint Online-Poker,
Spielautomaten und eben auch Sportwetten. Wie viele Menschen süchtig nach
Sportwetten sind, lässt sich nicht ableiten. Menschen mit
Migrationshintergrund, junge Menschen und Menschen mit geringem Einkommen
sind laut einem [7][Forschungsbericht der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung von 2019] signifikant stärker betroffen. Aber
wie belastet die Sucht nach Sportwetten das Leben von Menschen, die dagegen
ankämpfen? Und was kann die Gesellschaft tun, um die Sucht einzudämmen?
Michael Högt nimmt zu Hause vor seiner Webcam Platz, ein Headset auf den
Ohren. Es ist 8 Uhr, er muss gleich zur Arbeit. Aber vorher hat er etwas
Zeit zum Erzählen: Als er im April 2013 das erste Mal wettete, dachte er,
das sei ein Weg, um schnelles Geld zu machen. Er wuchs in der Nähe von
Bremen auf, war gerade 18 geworden und spielte selbst Fußball. Seine
Expertise hielt er für einen Vorteil, Sportwetten für kein reines
Glücksspiel. Heute weiß er es besser.
2014 erzielte er seinen höchsten Gewinn: er wettete in einem Wettbüro 10
Euro darauf, dass bei verschiedenen Fußballspielen in Europa mehr als 2
Tore fallen. Er gewann. 4.500 Euro zahlte ihm der Wettanbieter Tipico als
Gewinn aus. Högt kaufte eine Playstation 4, finanzierte sein erstes Auto,
einen Skoda Fabia, und hatte noch genug übrig für seine Abifahrt und einen
Urlaub, beides in Spanien. Danach gewann er nie wieder so hoch. Aber wie er
aus 10 Euro mit einer Wette 4.500 Euro gemacht, daran denkt er oft.
Während sich seine Freunde schon kleine Gewinne auszahlen ließen, probierte
Högt, daraus noch mehr Geld zu machen. Er habe alles gleich wieder gesetzt
– bis es weg war. „Da war mir schon bewusst, dass es problematisch ist.“
Weil er sich aber für die Verluste nicht rechtfertigen wollte, fuhr er
irgendwann allein ins Wettbüro nach Achim, eine kleine Stadt südöstlich von
Bremen.
„Ich war oft einer der Ersten, um zehn oder elf Uhr morgens, weil mir schon
der Wettschein unter den Nägeln brannte“, erzählt er. In der Früh sei der
Laden auch noch recht leer gewesen. Abends war mehr los. Gemeinsam hätten
sie die Spiele geschaut. Er und andere Sportbegeisterte, mit der Hoffnung
auf den großen Tipp. „Wenn jemand was gewonnen hatte, hat er was
ausgegeben.“ Alkohol gab es keinen, aber Softdrinks. „Dass dieses Leben
eigentlich nicht in Ordnung war, habe ich einfach ausgeblendet.“
Högt gewinnt zwar hin und wieder, meistens aber verliert er. Sein
Ausbildungsgehalt von etwa 600 Euro hält oft nicht bis zum Ende des Monats.
Als seine Eltern bemerken, dass er ein Problem mit Sportwetten hat, reden
sie mit ihm, versuchen ihn davon abzubringen. Das nervt ihn. Heute ist er
froh über ihre Unterstützung.
Sie kontrollieren sein Konto und übernehmen vorerst seine Schulden. Doch
das wiegt Högt in falscher Sicherheit. „Nach ein paar Wochen dachte ich,
‚Mensch, du hast dein Leben, die Finanzen im Griff. Du könntest wieder
etwas Geld setzen.‘ Dann war ich schnell wieder bei den hohen Einsätzen.“
Seiner Mutter zuliebe besuchte er zwar die Suchtberatung in Bremen. Aber
auf dem Rückweg sei er beim Wettbüro rangefahren, das auf dem Weg liegt.
Und habe wieder getippt. Mit Bargeld, damit es auf seinem Konto nicht
auffällt.
Das alles passierte vor 2018, Sportwetten waren da noch eine [8][Grauzone
in Deutschland]. Ursprünglich war es privaten Anbietern verboten,
öffentlich Wetten anzubieten. Mitunter, um [9][Sucht zu verhindern]. Aber
was auch in Bezug auf andere Süchte gilt, gilt auch für die Spiel- und
Wettsucht: Man nimmt an, ein legaler Markt sei sicherer für die Süchtigen,
der Staat habe die Kontrolle. Außerdem verdient die Gesellschaft an den
Steuern mit.
Für Glücksspielgesetze sind die Bundesländer zuständig. Jahrelang haben sie
versucht, sich auf deutschlandweite Regeln fürs Glücksspiel zu einigen.
Lange vergeblich. Das führte 2011 so weit, dass im CDU und FDP regierten
[10][Schleswig-Holstein Glücksspiel legal] wurde, in den anderen
Bundesländern nicht. Im Jahr 2020 einigten sich die Bundesländer
schließlich, ein Jahr später trat der bundeseinheitliche
[11][Glücksspielstaatsvertrag 2021] in Kraft. Seither ist
Online-Glücksspiel bundesweit erlaubt.
Der Glücksspielstaatsvertrag legt fest, was die Wettunternehmen anbieten
dürfen: So dürfen sie keine Wetten auf Amateursport oder auf den nächsten
Eckball zulassen. Alles, was sich leicht manipulieren lässt und wobei
Wetten ständig erneuert werden können, ist verboten. Auch paralleles
Spielen bei verschiedenen Anbietern ist verboten, es gilt als zu
risikoreich. Allerdings interessieren sich die weiterhin aktiven illegalen
Anbieter nicht dafür. Aber wen überrascht es, wenn sich Onlineangebote
nicht an Gesetze halten?
Eigentlich sind Anbieter verpflichtet, Spieler*innen vom Glücksspiel
ausschließen, wenn diese suchtgefährdet oder überschuldet sind. Dafür gibt
das [12][Sperrsystem „Oasis“], welches das Regierungspräsidium in Darmstadt
verwaltet. Das ist eine Art Blacklist für potenzielle Spieler*innen.
Während illegale Anbieter das generell ignorieren, müssen sich alle legalen
Anbieter dem System anschließen. Sie haben damit Zugriff auf eine zentrale
Datei, in der Spieler*innen verzeichnet sind, die sich entweder selbst
vom Glücksspiel ausgeschlossen haben oder von anderen gesperrt wurden. Bei
jeder Anmeldung gleichen die Anbieter die Daten anonymisiert mit der Datei
in Darmstadt ab. Sind sie dort vermerkt, kann die Person nicht am
Glücksspiel teilnehmen. Wie eine Ausweiskontrolle und ein Einlassverbot bei
Spielbanken. Derzeit stehen rund 178.000 Namen in der Datei.
Darunter ist auch der Name Oliver Petzold. Der 37-Jährige ist schon seit
Jahren gesperrt, lebenslang. Trotzdem habe Petzold sich Sommer 2019 bei
Tipico anmelden und auf die Basketball-WM wetten können, erzählt er. Damals
war Tipico noch nicht ans Oasis angeschlossen.
Petzold ist hochgewachsen, Bundeswehroffizier und Afghanistanveteran. Ende
Februar 2023 sitzt er in einem Berliner Café, tief eingesunken in einen
Sessel. Er trägt einen dunklen, blaugrauen Hoodie und Jeans. Mit den Händen
tippt er nervös auf seine Knie. Er will seine Geschichte erzählen: von
seinem Weg in die Sucht, von seinem Kampf heraus. Petzold versuchte nicht
nur, in Kliniken vom Spielen wegzukommen, er ist auch vor Gerichte gezogen,
hat Spieleanbieter verklagt. „Das, was die machen, ist verantwortungslos“,
sagt er.
Er hat einen Ordner voller Belege mit zum Treffen mit der wochentaz
gebracht. Darin befindet sich die schriftliche Bestätigung des
Regierungspräsidiums Darmstadt, dass er gesperrt ist. Außerdem:
Screenshots, Kontoauszüge, Briefe von Anwälten und Experten. Die Papiere
geben ihm Sicherheit, sagt er. Petzold will belegen, dass er heute die
Wahrheit sagt, nachdem er sich selbst und andere so oft belogen hat.
„Allein, wenn ich gesagt habe ‚Mir geht es gut‘, stimmte das schon nicht.“
2019 habe er gerade eine schwierige Phase durchgemacht und sich mit dem
Wetten abgelenkt: am Smartphone, Tablet oder Computer, allein bei sich zu
Hause. Um den Sport zu verfolgen, auf den er setzte, habe er verschiedene
Streamingplattformen abonniert. Auf vier Bildschirmen verfolgte er
gleichzeitig live den Sport, stundenlang, sagt er, das Handy auf stumm. Es
sollte ihn niemand stören. Er wettete nicht nur auf Sport, sondern zockte
auch an Online-Glücksspielautomaten. Obwohl er ein regelmäßiges Einkommen
und Ersparnisse hatte, ging ihm das Geld aus.
Ständig habe er darüber nachgedacht, wo er neues herbekommt, um weiter
spielen zu können. Kriminell sei er aber nie geworden. Stattdessen sei er
für Kredite zu seiner Bank gefahren – einmal sogar in seiner Uniform. „Bei
der Arbeit kam mir der Gedanke: ‚Du musst jetzt Geld holen.‘ Dann war das
wie bei der Augsburger Puppenkiste, als wäre ich an Schnüren und würde
bewegt.“ Er habe angerufen, einen Termin gemacht und bekam 25.000 Euro
Bargeld. Ein bisschen was habe er eingezahlt, den Rest „verdaddelt“.
Seine Versuche, gegen die Sucht anzukämpfen, bleiben erfolglos. Im März
2020 besucht er eine Selbsthilfegruppe, doch die habe ihm nicht geholfen.
Professionell geleitete Therapie sei ihm lieber, deswegen ging er in eine
Klinik. Danach spielt er eine Weile nicht – doch im Dezember 2021 überweist
er wieder Geld an Glücksspielanbieter.
In seinem Ordner hat Petzold auch rechtliche Dokumente: Er hat gegen
Sportwettenanbieter geklagt. Weil sie sein Geld durch illegale Wetten
bekommen haben, will Petzold es wieder. Seine Klagen haben Erfolg: Zwei
Gerichte geben ihm recht. Die Anbieter müssen ihm demnach das Geld
zurückzahlen.
Der Anbieter Unibet, zu der Zeit, als Petzold gespielt hat, Sponsor der
Bundesliga-Vereine Borussia Mönchengladbach und RB Leipzig, soll ihm rund
69.000 Euro erstatten. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig, aber es
sind nicht die einzigen Verfahren dieser Art. Beispielsweise verurteilte
das Landgericht Heidelberg den Anbieter Tipico am [13][1. Februar dazu,
mehr als 377.000 Euro] an einen Süchtigen zu zahlen, plus Zinsen.
Vereinfacht gesagt argumentieren die Gerichte: um die illegalen Anbieter
nicht zu belohnen und die Spieler*innen zu schützen, müssten die
Anbieter das Geld wieder herausgeben. Sie, die illegalen Anbieter, tragen
laut diesen Urteilen also die Schuld. Nicht die Menschen, die bei den
illegalen Anbietern wetten. Aber alle Urteile sind noch relativ frisch. Ob
die einst illegalen Anbieter mittlerweile legal sind, spielt dabei übrigens
keine Rolle – siehe Tipico –, wenn sie schon davor Wetten angeboten haben.
Seit dem 1. Januar 2023 gibt es in Deutschland eine zentrale Behörde für
Glücksspiel: die Gemeinsame [14][Glücksspielbehörde der Länder (GGL) in
Halle]. Zuvor waren die Zuständigkeiten über die Bundesländer verteilt.
Untergebracht ist die GGL in einem Bürogebäude in der Innenstadt von Halle.
Die Flure sind mit blauem Teppich ausgelegt, wenige Menschen sind
unterwegs. Von den 104 Planstellen der Behörde sind aktuell nur 68 besetzt.
Darunter sind Psycholog*innen, Rechtsanwält*innen und
Informatiker*innen. Personal zu finden ist nicht einfach, der freie Markt
zahlt bessere Gehälter.
Die Behörde erteilt die Erlaubnis für Glücksspiel in Deutschland und
kontrolliert, ob sich die Anbieter an die Regeln halten. Sie soll den
Schwarzmarkt eindämmen, und sie verfolgt Werbung für illegale Anbieter. Die
Generalstaatsanwaltschaft Berlin geht derzeit zum [15][Beispiel gegen einen
Youtuber vor] und fordert per Strafbefehl von ihm 120 Tagessätze à 4.000
Euro Strafe. Trotz Warnungen hatte er wiederholt für einen illegalen
Glücksspielanbieter geworben. Doch auch die 480.000-Euro-Strafe ist noch
nicht rechtskräftig.
Um illegales Glücksspiel einzudämmen, sieht der Glücksspielstaatsvertrag
außerdem vor, dass die Glücksspielbehörde illegale Webseiten sperren lassen
kann. Aus Deutschland könnte man sie dann nicht mehr erreichen. Doch auch
hier ist noch offen, ob das Vorhaben rechtmäßig ist. Mehrere Anbieter haben
Klage gegen [16][diese Sperranordnung eingereicht].
361 illegale Webangebote zählte der Deutsche Sportwettenverband (DSWV)
zuletzt. Aus Sicht des Branchenverbands, in dem die legalen Anbieter
versammelt sind, ist das ein Problem: Die Illegalen nehmen ihnen das Geld
weg. Die Umsätze der legalen Anbieter seien 2022 um 13 Prozent
zurückgegangen, auf 8,2 Milliarden Euro, beklagt die Lobbygruppe bei einer
Pressekonferenz Anfang März. Gleichzeitig kritisiert sie die Regeln des
legalen Glücksspielmarkts: Sie seien zu strikt, würden den Spaß am Wetten
verderben. Wer sein „Hobby“ ausleben wolle, sei gezwungen, auf den
Schwarzmarkt abzuwandern.
Dabei war der Sportwettenverband selbst beteiligt an der Entstehung des
Glücksspielstaatsvertrags. Ende November 2022 erhielt er [17][eine
Auszeichnung] von anderen Lobbyisten für seinen Einsatz beim
Glücksspielstaatsvertrag. Eigentlich nichts Besonderes, Lobbyisten
beschenken sich oft gegenseitig mit Preisen. Aber die Begründung ist
aufschlussreich: Der DSWV habe „die Entstehung des neuen
Glücksspielstaatsvertrags stets konstruktiv begleitet, maßgebliche Impulse
für den Gesetzgebungsprozess gegeben und die Interessen seiner Mitglieder
erfolgreich vertreten“.
Bemerkbar macht sich das beispielsweise bei der Werbung. Während für
Glücksspiel, also etwa für Online-Poker, nur zwischen 21 und 6 Uhr geworben
werden darf, ist Werbung für legale Sportwetten rund um die Uhr erlaubt,
wie Zuschauer*innen bei fast jeder Sportübertragung merken. Das Geld der
Glücksspielbranche ist überall im Profisport sichtbar: Alle Vereine der 1.
Fußballbundesliga haben einen Glücksspielanbieter als Sponsor, nur bei
einem, dem SC Freiburg, ist es keine private Wettfirma. Außerdem sponsern
verschiedene Wettanbieter den Deutschen Fußball-, Basketball- und
Eishockeybund.
Oliver Petzold findet die Gesetze zu lasch. Er bezweifelt, dass der
Glücksspielstaatsvertrag tatsächlich Spieler*innen schützt. Wie viel
Menschen wegen ihrer Sucht verlieren können, hat er selbst erlebt.
Ende Januar, an einem Montag, erzählt er der wochentaz am Telefon: „Stand
heute bin ich in sieben Jahren schuldenfrei“, kurze Pause, „wenn alles gut
geht.“ Seit Anfang 2022 hat er nicht mehr gespielt. Sollte er durch die
Gerichtsprozesse wieder Geld bekommen, könnte der Schuldenabbau auch
schneller gehen. Ob er keine Sorgen habe, dass er mit dem Geld wieder in
alte Muster zurückfalle? Petzold überlegt kurz. Dann sagt er: „Ich
garantiere für nichts.“ Das sei bei einer Sucht nicht möglich.
Kurz danach wird es ruhig um Petzold. Er reagiert nicht auf Mails, meldet
sich nicht. Bis er drei Wochen später eine Mail an die Glücksspielbehörde
schreibt und an die wochentaz weiterleitet. Er verweist darin auf seinen
Anwalt, einen der wenigen Spezialisten, wenn es um Online-Glücksspiel in
Deutschland geht. Petzold ist wütend. Er schreibt: Keine der „ANGEBLICHEN
Sicherheitsmechanismen, Verbote und Auflagen“, die die GGL kontrollieren
müsse, habe gegriffen. Er habe trotz allem bei einem illegalen Anbieter
Geld einzahlen können.
An die Mail ist ein Kontoauszug angehängt. Der zeigt: Petzold hat 10.000
Euro an einem Geldautomaten eingezahlt. Einen Tag später gehen dann
auffällige Geldbeträge von diesem Konto ab: –1.000 Euro, –1.000 Euro, –500
Euro, –450 Euro. Auf Screenshots von Oliver Petzold ist zu sehen, wohin das
Geld geht: Um 4.29 Uhr am Freitagmorgen überweist er 500 Euro an einen
Glücksspielanbieter. Um 5.07 Uhr weitere 200 Euro, um 5.12 Uhr dann 900
Euro. Dazwischen Beträge, die doch wieder storniert wurden.
Oliver Petzold hatte einen Rückfall und verspielt über mehrere Wochen
insgesamt rund 18.000 Euro.
Wie es dazu kam, erzählt er etwa einen Monat später in dem Berliner Café.
Er sei allein zu Hause gewesen, habe getrunken. Die Wochen davor hätten ihn
belastet, viel Stress. „Ich wusste, es ist falsch, sich anzumelden, zu
spielen“, sagt er. Trotzdem habe er es gemacht. Er habe nicht gewettet,
sondern online Casino gespielt, Slot Machine. Dort ist es wie bei den
Automaten, die auch in physischen Spielcasinos stehen: Man drückt einen
Knopf und mehrere Spuren mit bunten Bilder rattern durch. Jede Umdrehung
kostet. Mal gewinnt man ein bisschen, mal ganz viel, oft gar nichts.
Woher hatte Petzold das Geld? Seine Nachbarin habe ihm 10.000 Euro gegeben,
die beiden kennen sich seit Jahren. „Ich wollte damit einen Teil meiner
Schulden bezahlen und so die Zinsen runterdrücken.“ Er habe nicht gefragt,
sie habe es dem Bundeswehrsoldaten aus Mitgefühl angeboten. Sie ist etwa 80
Jahre alt und sagte ihm, sie brauche es selbst gerade nicht. „Dann habe ich
alles eingeleitet, um eine komplette Tilgung zu erreichen. Aber dann“, er
macht eine kurze Pause, „dann war es schon weg.“
Dabei hatte er doch ein paar Sicherheitsmaßnahmen getroffen. „Was heißt ein
paar? Etliche!“ Zum Beispiel schaut sein bester Freund mit auf sein Konto –
allerdings nicht mitten in der Nacht.
In Berlin, Ende Februar, sinkt Petzold noch etwas tiefer in den Sessel.
Seiner Nachbarin habe er davon erzählt. Sie sei geschockt gewesen. Aus
Scham habe sich Petzold erst mal zurückgezogen. Kaum gegessen, „nur
schlafen, einmummeln, alles dunkel“.
Mittlerweile versucht er, es abgeklärter zu sehen: „Das Schlimme ist nicht
der Rückfall an sich, sondern das Geld.“ Damit er über die Runden komme,
habe ihm sein bester Freund Geld überwiesen. Auch Petzold hat Glück mit
seinem Umfeld. Viele andere können sich nicht darauf verlassen.
Um sich therapieren zu lassen, ist Petzold seit Mitte März wieder in der
Klinik: „Erst mal raus aus dem alltäglichen Trott.“ Er will Menschen
treffen, die das Gleiche erlebt haben. Wie die Therapie abläuft, wisse er
schon vom vorherigen Mal: „Wir können Fußball gucken oder
Mensch-ärger-dich-nicht spielen.“ Petzold plant für 12 Wochen.
Ist die Klinik also der eine Weg raus aus der Wettsucht? Konrad Landgraf
rät, die Hilfsangebote nicht zu verallgemeinern: „Es gibt vielfältige
Hilfemöglichkeiten. Welche die richtige ist, ist abhängig von der Person
und der Situation, in der sie sich befindet.“ Landgraf ist Geschäftsführer
bei der Landesstelle für Glücksspielsucht in Bayern und war früher selbst
in der ambulanten Therapie tätig. Was bei den Betroffenen funktioniere,
hänge nicht nur von der Therapie ab – ob erste Beratung, ambulante oder
stationäre Behandlung –, sondern auch von den kranken Menschen.
Auch Michael Högt war in der Klinik. Dass er da hinging, sagt er, habe auch
an seiner Freundin gelegen. Sie sind seit fünf Jahren zusammen.
Klara Müller, 24, arbeitet 2018 in einem Restaurant im Osten von Bremen,
als sie Michael Högt kennenlernt. Das Tipico-Büro, bei dem er meistens
wettet, ist mit dem Auto keine zehn Minuten entfernt. Auch Müller heißt
eigentlich anders, möchte aber nicht, dass beim Googeln ihres Namens gleich
das Thema Spielsucht aufploppt. Sie studiert Lehramt, will in Bremen oder
Niedersachsen Lehrerin werden.
Während sich die beiden kennenlernen, sei ihr öfter aufgefallen, dass Högt
auf dem Handy nach Wetten schaue. Für sie sei das zunächst ein Hobby
gewesen: „Ich finde das todsterbenslangweilig.“ Wie viel Högt wettet, wurde
ihr erst später klar.
Dabei spielte Geld früh eine Rolle. Sie sind erst wenige Wochen zusammen,
da leiht er sich zum ersten Mal mehrere hundert Euro und lügt sie dafür an.
Dann nimmt er sich etwas von dem Bargeld, das Müller zu Hause aufbewahrt –
ohne zu fragen. Im Laufe der nächsten Monate werden es mehrere tausend
Euro. Als Müller merkt, dass Bargeld fehlt, verdächtigt sie zuerst die
Handwerker. Doch Michael Högt gesteht, dass er es genommen hat und warum.
Sie weinen, beide.
Müller tippt „Sportwettensucht“ ins Internet und findet Berichte. „Aber ich
habe selbst dann noch nicht verstanden, wie man danach süchtig sein kann.“
Müller ist hin- und hergerissen: Andere sagen ihr, sie soll sich von ihm
trennen. Aber sie will bleiben, liebt Högt und möchte ihn nicht hängen
lassen. Dabei erwischt sie ihn wieder und wieder beim Lügen.
Sie macht zur Bedingung, dass Högt sich therapieren lässt. Dieses Mal
wollte er es auch selbst, sagt er. Knapp sechs Jahre nach seinem ersten
Wettschein geht Michael Högt in die Klinik. „Das weiß ich genau, am 25.
April. Da hat meine Oma Geburtstag. Morgens war ich noch bei ihr Kuchen
essen – und dann wurde ich zur Klinik gefahren.“
In der Klinik war Högt in einer reinen Spieler*innengruppe. Der
Zusammenhalt sei hilfreich gewesen, sagt er. Mit den meisten treffe er sich
bis heute noch ab und zu. Für seine Heilung war die Klinik ein nötiger
Schritt, sagt er heute – obwohl es noch danach richtig bergab ging.
In der ersten Zeit nach seiner Entlassung spielt er nicht. Er beginnt einen
neuen Job, ist für die Einarbeitung viel unterwegs. Dann eröffnet er ein
Konto, von dem keiner weiß, das niemand kontrolliert – und wettet online
von seinem Handy aus. „Er hat dann Ausreden erfunden, weshalb er so lange
beim Wäscheaufhängen braucht“, erzählt Klara Müller. Högt sagt: „Die
Toilette war mein Lieblingsort. Da fragt niemand, wenn es mal länger
dauert.“
Er verspielt noch höhere Beträge, nimmt dieses Mal Kredite mit hohen Zinsen
auf. Anders als beim Wettbüro, bei dem er immer bar eingezahlt hat,
hantiert er „nur noch mit Ziffern auf einem Display“ und verliert den
Bezug. Es fliegt wieder auf. Klara Müller bleibt trotz des Rückfalls mit
ihm zusammen. Sie versucht, seine Krankheit zu verstehen und ihn nicht
dafür zu verurteilen: „Er lügt ja nicht, weil er mich weniger liebt,
sondern das ist seine Sucht, die ihn dazu treibt.“
Statt des Wettbüros in Achim besucht Högt heute einmal die Woche die
Selbsthilfegruppe „[18][Gemeinsam gegen Glücksspielsucht]“ in
Bremen-Blumenthal. An einem Donnerstagabend im Januar betritt er um 19 Uhr
das Gemeindehaus. Die sechs anderen sind schon da, zwei Frauen, vier
Männer, alle älter als Högt und nicht süchtig nach Sportwetten, sondern
nach Glücksspielautomaten. Manchmal seien sie auch mehr. Högt gibt reihum
die Hand, und sie decken gemeinsam den großen Tisch. Neben Keksen vom
Discounter gibt es trotz der Uhrzeit randgefüllten Kaffeekannen.
Kaum haben sie die Tür geschlossen und sich gesetzt, erzählt der erste in
der Runde von seiner Woche. So beginne jedes Treffen, sagt Högt, alle
erzählen, was sie in den vergangenen sieben Tagen beschäftigt hat. Als Högt
an der Reihe ist, erzählt er von seinem Highlight: Er wurde an diesem Tag
befördert, selbst seine Freundin weiß noch nichts davon. Glückwünsche von
allen Seiten.
Nach etwas mehr als zwei Stunden kramt ein Teilnehmer sein Handy aus der
Hosentasche und nimmt ein Selfie auf. Ein anderer tut es ihm gleich. Auf
Nachfrage erklären sie: Beweisfotos für die Angehörigen, dass sie noch bei
der Gruppe sind und nicht am Automaten oder im Wettbüro.
Die Angehörigen sind auch einmal im Monat zu den Treffen eingeladen. Klara
Müller sagt, es sei ihr durch den Besuch leichter gefallen, das
Krankheitsbild ihres Freundes zu verstehen, „diese ähnlichen Geschichten,
von diesen vielen erwachsenen Menschen, die ja wesentlich älter als ich
sind“.
Konrad Landgraf von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern hat viele
Menschen beraten, deren Partner*innen süchtig waren. „Häufig lautet der
Wunsch: Wie kann ich sie oder ihn davon abbringen?“ Dann müsse er ihnen
erklären, dass sie nur bedingt Einfluss nehmen können. Im Gegenzug frage
er: „Wie schützen sie ihr Vermögen? Wie schützen sie sich selbst, damit
sich psychisch und finanziell stabil bleiben?“ Wichtig sei, den Menschen
nicht mit Geld zu helfen, ihnen weder etwas zu leihen noch Schulden zu
bezahlen. „Das führt häufig dazu, dass noch mehr gespielt wird.“
Auch für Klara Müller ist klar, dass sie sich finanziell absichern will.
Die Sucht beeinflusst immer noch Högts Leben, er baut weiter die Schulden
seines jüngsten Rückfalls von 2020 ab. Jeden Monat geht ein Teil seines
Einkommens dahin. Aber die Sucht bestimme nicht mehr seinen Alltag.
Müller und Högt haben ausgemacht, dass er ihr einen Antrag macht, sobald
seine Schulden abbezahlt sind. Bis dahin dauert es aber noch ein bisschen.
Aber dann will Klara Müller einen Ehevertrag.
16 Apr 2023
## LINKS
|