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Zuerst wird ein Ziegelstein in die Eingangstür der Geschäftsstelle der
[1][Lebenshilfe in Mönchengladbach] geworfen. Die implizierte Botschaft:
bedrohte Sicherheit.
Wenige Tage später fliegt ein weiterer Stein. Diesmal gegen die Hauswand
einer Wohnstätte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen der lokalen
Lebenshilfe. Die Aufschrift auf dem Wurfgeschoss, „Euthanasie ist die
Lösung“, transportiert noch mehr: Der oder die Täter_innen rufen die
Verbrechen der Nazis auf. Naheliegenderweise sind sie selbst welche.
Die Message ist eine Morddrohung, gar eine Massenmorddrohung; sie soll
Verunsicherung, Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten, die
hinter der Hauswand zu Hause sind. Außerdem soll sie Signalwirkung an alle
Menschen mit vor allem kognitiven Beeinträchtigungen entfalten – und: an
Angehörige, an Freund_innen wie auch an die Mitarbeiter_innen sowie
Leiter_innen von Einrichtungen zum Wohnen oder Arbeiten. Es ist eine
massive Form verbaler, psychischer Gewalt.
Der Begriff der „Lösung“ verweist dabei zusammen mit den „Euthanasiemorden“
nicht nur semantisch auf die „Endlösung der Judenfrage“ und damit auf den
über sechsmillionenfachen Mord an Jüd_innen. Aufgerufen wird damit auch
eine mit Exklusion verbundene und das Lebensrecht absprechende Konstruktion
von Menschen mit Beeinträchtigungen beziehungsweise chronischen
Erkrankungen als vermeintliches biopolitisches Problem und ökonomischer wie
sozialer Ballast. Nicht zuletzt sollen die beiden zerstörerischen Geschosse
eine vermeintliche Verzichtbarkeit dieser Einrichtungen versinnbildlichen.
Mindestens 300.000 Menschen mit Beeinträchtigungen und Erkrankungen wurden
im Zuge des [2][planmäßigen „Euthanasie“-Programms] zwischen 1939 und 1945
in Europa insbesondere in den Gastötungsanstalten ermordet; für Osteuropa
liegen bislang lediglich Schätzungen vor. Vor 1939 starben in Deutschland
bereits seit Sommer 1933 mehrere Tausend Menschen an den Folgen von
Zwangssterilisierungen sowie erzwungenen Abtreibungen. In der „T4-Aktion“
mordeten Nazis erstmals systematisch und massenhaft: 70.000 Menschen, die
in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten lebten. Das Mordprogramm gilt
nicht zuletzt aufgrund seines Testcharakters mit Giftgas als Vorstufe des
industriellen Massenmords an den europäischen Jüd_innen.
Ein Einzelfall sind die beiden Übergriffe auf die Lebenshilfe in
Mönchengladbach nicht, ebenso wenig sind sie neu. Denn Angriffe von
(mutmaßlich) extrem rechten Täter_innen gegen Menschen mit
Beeinträchtigungen hat es auch nach der Nazi-Herrschaft immer wieder
gegeben. Die 1990er und nuller Jahre waren ein bitterer Höhepunkt: kaum
thematisierte und bislang unerforschte Baseballschlägerjahre.
Ähnliches wie die beiden Angriffe in Mönchengladbach passierte damals in
Hameln und Bremen: Am 26. 10. 1992 berichtete der Weserkurier, dass ein
Mann in einem Wohnheim der Lebenshilfe in Hameln angerufen und dabei die
Ermordung der Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen mit Giftgas
gefordert hatte. Wenige Wochen später war in der taz vom 5. 12. 1992
nachzulesen, dass Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und
Mitarbeitende einer Schule für Kinder mit Behinderungen in Bremen anonyme
Drohanrufe erhielten. Eine Mutter kritisierte, dass die Polizei zunächst
nicht einmal eine Anzeige aufnehmen wollte. Eltern organisierten
schließlich selbst Schutz vor der Schule.
Der Blick auf die Todesopfer rechter Gewalt zeigt, dass es nicht bei
Drohungen bleibt. Mindestens 15 Menschen sind seit 1990 beispielsweise im
Bundesland Sachsen-Anhalt von rechten und rassistisch motivierten Tätern
getötet worden, schreibt die dortige Mobile Opferberatung. Vier von ihnen
hatten eine kognitive Beeinträchtigung: Im Jahr 1999 wurden Jörg Danek in
Halle-Neustadt und Hans-Werner Gärtner im Saalekreis ermordet. Erst Jahre
später, 2012, wurden beide durch die Landesregierung offiziell als
Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
Als Verdachtsfälle werden zudem die Tötung von Andreas Oertel in Naumburg
2003 und Hans-Joachim Sbrzesny in Dessau-Roßlau 2008 genannt. Wenn an diese
Todesopfer erinnert wird, dann bislang nur, weil dies zivilgesellschaftlich
organisiert wird. Das liegt auch daran, dass Behindertenfeindlichkeit als
Tatmotiv von Ermittlungsbehörden wie auch von Medien nur selten in Betracht
gezogen wird.
## Verteilungskämpfe verschärfen die Lage
Zudem sind die aktuellen Gewalttaten in Mönchengladbach als Teil des
Kampfes um sozialstaatliche Ressourcen zu verstehen. Dies gerade in einer
Zeit, in der beispielsweise Finanzminister Christian Lindner (FDP) ein
dreijähriges Moratorium für die Erhöhung von Sozialausgaben fordert.
Zumindest indirekt werden diese Ausgaben damit als eine Art Belastung des
Haushalts gerahmt, anstatt als selbstverständliche sozialstaatliche
Absicherung, ja, als politische Errungenschaft, die es aus- und nicht
abzubauen gilt. So verschärfen sich Konkurrenzen um Ressourcen, die zudem
als Teil struktureller Gewalt gegen Menschen mit verschiedenen Formen von
Beeinträchtigungen verstanden werden können.
Mit einer Diskursverschiebung nach rechts – seit mindestens einer Dekade
werden wieder Aussagen getätigt, die im öffentlichen Raum zwischenzeitlich
als nichtsagbar galten – fühlen sich Personen legitimiert oder ermuntert,
wie in Mönchengladbach Gewalt anzuwenden. Hört man Betroffenen zu, was
ihnen etwa auf der Straße widerfährt, kann man darauf schließen, dass
solche Morddrohungen für Menschen mit Beeinträchtigungen schon länger und
immer wieder Teil ihres Alltags sind. Die Bedrohung mit dem Tod meint
demokratisch gesehen uns alle. In Frage gestellt sind damit ein
[3][diskriminierungs- und gewaltfreies Leben], Freiheit, Gleichheit,
Gleichwertigkeit und soziale Gerechtigkeit.
## Dem Hass entgegenwirken
Die Lebenshilfe Mönchengladbach mobilisierte für den 6. Juni 2024 zu einer
Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ in der
Hauptkirche Rheydt und auf dem davorliegenden Marktplatz. Rund 1.000
Menschen nahmen einem WDR 1-Bericht zufolge daran teil. Zu Jahresbeginn
hatten die Demonstrationen gegen rechts in der Stadt – je nach Angaben –
zwischen 5.000 und 7.000 Menschen zusammengebracht. Daher darf und muss die
Frage gestellt werden, weshalb es nunmehr so viele weniger gewesen sind.
Medial wurde über die Attacken kaum berichtet, insbesondere überregional.
Eine solche Ignoranzstarre gab es bereits nach den vierfachen Morden in
Potsdam oder, als in Sinzig im Ahrtal 12 Bewohner_innen in den Fluten
ertranken. So wird die Gesellschaft wohl eher vor sich selbst geschützt.
Minoritäten-Schutz, Stimmen hörbar machen und Empowerment sähen anders aus.
Die Attacken auf die Geschäftsstelle und ein Wohnprojekt der Lebenshilfe
und damit ihre 30 Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen sind eingebettet in
strukturelle Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigungen in dieser
Gesellschaft wie auch in Formen direkter, körperlicher, oftmals
sexualisierter Gewalt. Das Rechercheprojekt #AbleismusTötet der
Behinderten- und Menschenrechtsorganisation AbilityWatch beispielsweise
dokumentiert mit Stand Mai 2023 218 Betroffene in 43 Fällen von Gewalt „in
vollstationären Wohneinrichtungen für behinderte Menschen“ in der
Bundesrepublik.
Die Spitze des Eisbergs war die Ermordung von vier Menschen mit Behinderung
im Oberlinhaus in Potsdam (Brandenburg) durch eine Pflegehelferin am 28.
April 2021. Eine weitere Person wurde schwer verletzt. Danach wurden von
den Macher_innen von #AbleismusTötet sofortige und langfristige Maßnahmen
entwickelt. Eine davon zielt auf die gesetzliche Verankerung von Wohn- und
Gewaltpräventionskonzepten. Diese Forderung aufgreifend möchten wir
ergänzen: Das Thema möglicher Angriffe durch extreme Rechte (und zwar von
außen wie von innen durch etwaige rechtsextreme Mitarbeitende) sollte in
demokratischen Leitbildern und Schutzkonzepten systematisch mitgedacht
werden.
Gesellschaftlich scheint politische Bildung zu den Verbrechen an Menschen
mit Beeinträchtigungen während der Nazizeit und eine breite Debatte dazu
bitter nötig. Die Gedenkstätten der sechs früheren Mordanstalten leisten
hier viel, berichtet wird auch darüber sehr selten. Die Gedenkstätte
Hadamar ist bereits seit 2003 Vorreiterin in der Entwicklung von
historisch-politischen Bildungsangeboten auch mit und für Menschen mit
Lernschwierigkeiten.
Interviews wie auch die gedenkstättenpädagogische Reflexion dieser Arbeit
zeigen zum einen, dass sie sich – anders als oft bei Menschen ohne
Beeinträchtigung – empathisch zeigen mit den Opfern der Verbrechen. Zum
anderen, so schreibt es die Soziologin Uta George, „wird deutlich, wie die
Beschäftigung mit der Geschichte der [4][NS-„Euthanasie“-Verbrechen] zu
Empowerment führt: ganz offensichtlich wird die Auseinandersetzung mit
diesem Teil des Nationalsozialismus nicht als erneute Machtlosigkeit oder
Reviktimisierung erlebt“.
Die Gedenkstätte erhielt durch die beteiligten Menschen mit
Lernschwierigkeiten über diese Einsichten hinaus die Anregung für eine
Gedenkzeremonie für Besucher_innen und Einblicke in eine bislang unbekannte
Nutzung eines Ausstellungsobjekts vor Ort durch Betroffene, wie George
beschreibt: So entschieden sich Teilnehmer_innen mit Lernschwierigkeiten
für die Fotos, die sie von der im Jahr 2006 wieder aufgebauten Busgarage –
die 1941 Ankunftsort für die Opfer gewesen ist – für eine für die
Mitarbeitenden „verblüffende“ Perspektive: Während die Gedenkstätte stets
den Fokus auf das Äußere der Garage richtete, „wählten viele Teilnehmende
die Perspektive von innen, das heißt die Blickrichtung der Opfer bei der
Ankunft an diesem Ort“. Dieser Blickwinkel, so Uta George, lässt
„vermutlich auf eine hohe Empathie mit dem Schicksal der Opfer“ schließen.
Auch vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zudem partizipativ entwickelte
Konzepte für die politische Bildung zur extremen Rechten auch für Menschen
mit unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen zu fordern – und
ohnehin ein breites Angebot für Selbstbehauptung und Empowerment.
25 Jun 2024
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