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Berlin taz | Als ein „Signal der Gemeinsamkeit“, sah der SPD-Abgeordnete
Dirk Wiese die Zusammenarbeit zwischen den scheidenden Ampel-Parteien und
der Union. Am Donnerstagmorgen stimmte der Bundestag mehrheitlich für den
Antrag „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen,
bewahren und stärken“. An dieser [1][umstrittenen
Antisemitismus-Resolution] arbeiteten SPD, Grüne und FDP sowie die Union
gemeinsam seit nun beinahe einem Jahr.
Dem interfraktionellen Antrag reichten für eine Mehrheit die Stimmen der
Ex-Ampel-Parteien und der Union. Die extrem rechte AfD nutzte den Antrag
als Rampe und stimmte ihrerseits dafür. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von
Storch bedankte sich bei den Antragstellenden dafür, dass sie in dem Papier
angeblich Positionen ihrer Partei aufgenommen hätten. Beispielsweise, dass
Antisemitismus auf Einwanderung beruhe, oder dass die BDS-Bewegung verboten
werden müsse. Auch die „Ausschöpfung repressiver Maßnahmen“, wie es in der
Resolution heißt, begrüßte sie, vor allem im Asylrecht.
Beinahe an alte Zeiten erinnerte das Abstimmungsverhalten der Gruppen BSW
und der Linken. Beide hatten Änderungsanträge zur Resolution eingebracht.
So stimmte das BSW für den Antrag der Linkspartei. Das war es aber auch
schon mit der Nostalgie: Denn die Abgeordneten der Linkspartei stimmten
entweder gegen den BSW-Antrag oder enthielten sich.
Das BSW stimmte außerdem gegen den interfraktionellen Antrag, die
Linkspartei enthielt sich. Letzteres sorgte bei einigen in den sozialen
Medien für Unverständnis. Kritiker:innen meinten, die Linkspartei hätte
dagegen stimmen sollen. Auf taz-Anfrage konnte die Linkspartei nicht
erklären, warum man sich für eine Enthaltung statt Ablehnung entschied.
„Für uns als Linke war von vornherein klar, dass wir der Resolution nicht
zustimmen können, da wir die massive Kritik aus Zivilgesellschaft und
Wissenschaftsbetrieb teilen“, lies Heidi Reichinnek mitteilen.
## Streit um Antisemitismus-Definition
Die sogenannte Antisemitismus-Resolution soll jüdische Menschen in
Deutschland besser schützen, so die Autor:innen. Seit dem Angriff der Hamas
auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe
in Deutschland stark gestiegen. Die Resolution fordert, dass keine
staatlichen Gelder an Organisationen gehen dürfen, die Antisemitismus
verbreiten.
Was dabei antisemitisch ist, dafür soll die sogenannte [2][IHRA-Definition]
maßgeblich sein. Diese wird von einigen Regierungen verwendet, [3][ist aber
umstritten], weil sie Antisemitismus weit fasst. Kritiker:innen
fürchten, dass sie so ausgelegt werden kann, dass darunter legitime Kritik
an Israels Regierung fallen könne. Außerdem wird in dem Text ein
Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Antisemitismus hergestellt.
Sevim Dağdelen vom BSW kritisierte die Anwendung der IHRA-Definition. „Sie
wollen eine wissenschaftlich umstrittene Antisemitismus-Definition
staatlich postulieren. Und auch die Kritik an der zum Teil rechtsextremen
israelischen Regierung Netanjahu wird so unter den Verdacht des
Antisemitismus gestellt“, warf sie den Antragstellenden vor.
Unter Applaus sowohl seiner eigenen Partei, als auch des BSW, kritisierte
ebenfalls der Linkspartei-Abgeordnete Gregor Gysi die Resolution: „Die
Kritik an der israelischen Regierung muss erlaubt sein und hat mit
Antisemitismus nichts zu tun, wenn sich nicht dahinter eine Ablehnung des
Judentums verbirgt“, sagte er. Der vorliegende Antrag sei „nicht gut“, weil
er unterschiedliches jüdisches Leben in Deutschland nicht wirksam schütze
und viele eine Einschränkung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit
befürchten.
Vor kurzem veröffentlichten Wissenschaftler:innen und
Künstler:innen einen Brief, da sie aufgrund der im Antrag benutzten
Antisemitismus-Definition der IHRA eine Einschränkung der Meinungs- und
Wissenschaftsfreiheit befürchten.
## Kuhle: „Soll das Thema nicht abhaken“
Kritik, die die Redner:innen der ehemaligen Koalitionsfraktionen und
Union größtenteils zurückwiesen. So zeigte sich Andrea Lindholz von der CSU
„ziemlich sprachlos darüber“, was in den vergangenen Monaten an Abgeordnete
herangetragen worden sei. „Ich will diesen Leuten aber nochmal ganz klar
sagen: Unser Grundgesetz erlaubt keinen Antisemitismus. Wir müssen
verhindern, dass Antisemitismus unter dem Deckmantel von Grundrechten
verbreitet wird“, sagte sie in Richtung der Kritiker:innen. Sie halte zudem
keine andere Definition als die IHRA-Definition für maßgeblich.
Lindholz wiederholte die Antisemitismusvorwürfe und Rücktrittsforderungen
gegen Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz, genauso wie der
AfD-Abgeordnete Jürgen Braun, der gefühlt die Hälfte seiner Redezeit dafür
verwendete. Die SPD-Politikerin hatte Mitte Oktober einen [4][viel
kritisierten Post der Organisation „Jewish Voice for Peace“] in ihrer
Instagram-Story geteilt. Özoğuz hatte sich dafür entschuldigt. Sie habe auf
das zivile Leid beider Seiten aufmerksam machen wollen, ließ sie auf
taz-Anfrage mitteilen.
Konstantin Kuhle, Fraktionsvize der FDP, gab sich angesichts der
IHRA-Definition weniger absolut. Er habe sich über manche Kritik der
vergangenen Tage gewundert, sprach aber von einem fundamentalen
Missverständnis, „denn diese Resolution der Fraktionen soll die Diskussion
über Antisemitismus fördern und nicht beenden, sie soll das Thema nicht
abhaken.“
## Vereinzelt Kritik auch aus SPD und Grünen
In den vergangenen Tagen gab es aber auch vereinzelt ablehnende Stimmen aus
Reihen von SPD und Grünen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram
teilte am Dienstag mit, gegen den Antrag stimmen zu wollen. Er ignoriere
„die Debatte, in der Jurist*innen, jüdische Intellektuelle, israelische
Menschenrechtsorganisationen, Kulturschaffende & Wissenschaftler*innen
aufgezeigt haben, welche Probleme“ durch die Verabschiedung der Resolution
entstehen würden. Sie widerspreche wissenschaftlichen Standards. Das
bestärkten am Mittwoch auch Wissenschaftler:innen in der
Bundespressekonferenz.
Donnerstagmittag veröffentlichten die sechs Grünen-Abgeordneten Tobias B.
Bacherle, Deborah Düring, Erhard Grundl, Tabea Rößner, Michael Sacher und
Merle Spellerberg einen Brief, in dem sie ihre Enthaltung bei der
Abstimmung begründeten. Sie seien überzeugt, dass es klare und konsequente
Maßnahmen „zum Schutz und der Stärkung des jüdischen Lebens bedarf“, heißt
es darin. Sie hätten jedoch Zweifel, „ob der Antrag in der jetzigen Form
nachhaltig Schutz des jüdischen Lebens in seiner Vielfalt leisten kann.“
Sowohl die SPD-Abgeordneten Isabel Cadematori als auch Nina Scheer
forderten eine Überarbeitung der Resolution. Die ehemalige
SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin kritisierte die Resolution
ebenfalls. In einem Brief an die Fraktionsspitze warb sie dafür, gegen die
Resolution zu stimmen. Der SPD-Abgeordnete Hakan Demir enthielt sich bei
der Abstimmung und kritisierte in seiner Rede die Herausstellung von
Zuwanderung beim Thema Antisemitismus. „Gleichzeitig findet der
antisemitische Terror-Anschlag eines Rechtsextremisten auf eine Synagoge in
Halle im Jahr 2019 keine Erwähnung“, heißt es in einer persönlichen
Erklärung.
7 Nov 2024
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