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Osnabrück/Berlin taz | Für den Lackierer am VW-Werk in Osnabrück ist es ein
abgekartetes Spiel. Er kennt das schon: Die Beschäftigten wollen mehr Geld,
die Bosse reagieren mit Druck. „Mit der Androhung, den Standort zu
schließen, sollen wir zum Gehaltsverzicht gedrängt werden“, sagt er und
steigt von seinem Roller, mit dem er auf den weitläufigen Firmenparkplatz
gefahren ist. Seinen Namen möchte er nicht nennen, aus Angst, nach 44
Jahren in dem Werk auf einer Entlassungsliste zu landen.
Diese Furcht haben viele, die am Mittwoch in die Osnabrücker Fabrik von VW
strömen. [1][Im 200 Kilometer entfernten Wolfsburg beginnt zu dieser Zeit
eine weitere Verhandlungsrunde zwischen Betriebsrat und Konzernvorstand].
Es geht um viel: Das Unternehmen will laut Betriebsrat in Deutschland
mindestens drei von zehn Werken schließen, zehntausende Stellen abbauen und
den Lohn pauschal um 10 Prozent kürzen. Betriebsrat und IG Metall haben
Widerstand gegen die herben Einschnitte angekündigt. Sie fordern 7 Prozent
mehr Lohn. Bis Anfang Dezember herrscht Friedenspflicht, dann könnte es zu
Streiks kommen.
Die Kürzungspläne sind eine Hiobsbotschaft für den Lackierer in Osnabrück.
Er ist mit dem Werk verbunden, schon sein Vater stand hier am Band, erzählt
er. Aktuell werden an dem Standort eine Cabrio-Variante des T-Roc und zwei
Porsche-Modelle gefertigt. Damit ist bald Schluss. Stand jetzt gibt es ab
Frühjahr 2026 keine weiteren Aufträge für das Werk. Die etwa 3.000
Beschäftigten fürchten um ihre Zukunft. Die Stimmung beschreibt der
Lackierer mit einem Wort: „Scheiße. Was denn sonst.“
Volkswagen, das ist in Deutschland mehr als nur ein Autobauer. VW ist für
viele das Symbol [2][des westdeutschen Wirtschaftswunders in den 1950er
Jahren], für den Aufstieg der Bundesrepublik zu einem führenden
Industriestaat. Jetzt ist der Konzern in einer tiefen Krise. Über Jahre hat
er das Geschäft mit E-Autos verschlafen, anders als die Konkurrenz hat VW
kein günstiges kleines Modell auf den Markt gebracht. Zu teuer und
technologisch nicht an der Spitze – der Konzern ist schlicht nicht
wettbewerbsfähig.
Finanzchef Arno Antlitz sagt, VW erwirtschafte nicht genug, um die
anstehenden Ausgaben zu stemmen. 5 Milliarden Euro an Investitionen hält er
für nötig. Das Geld soll vor allem durch Kürzungen bei den Beschäftigten
beschafft werden. Dabei hat der Konzern zwischen 2021 und 2023 mehr als 22
Milliarden Euro an seine Aktionär*innen ausgeschüttet. Auch der
[3][Diesel-Skandal kostete viele Milliarden]. VW hatte Fahrzeuge
manipuliert, damit sie bei Prüfungen bessere Abgaswerte als im
Normalbetrieb angaben.
## Die Macht der Betriebsräte
In Deutschland arbeiten bei VW mehr als 120.000 Leute. Die Betriebsräte
haben mehr Macht als bei anderen Konzernen. Das hat historische Gründe: Als
die Nazis das Unternehmen gründeten, finanzierten sie es mit den Mitteln
aus beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögen. 1960 wurde das VW-Gesetz
erlassen, mit dem der Autobauer privatisiert wurde und den
Arbeitsnehmervertreter:innen mehr Rechte zugesichert wurden. Die
Gewerkschaften verzichteten dafür auf eine Entschädigung.
Massenentlassungen gab es bei VW noch nie. Als in den 1990er Jahren ein
Stellenabbau zur Diskussion stand, führte VW die Viertagewoche ein, um das
zu verhindern.
Das Werk in Osnabrück gehörte damals noch nicht zum Konzern. VW übernahm
die Geschäfte hier 2009 vom traditionsreichen Autohersteller Karmann, der
sich vor allem mit der Fertigung von Cabriolets einen Namen gemacht hatte.
Karmann strauchelte, nachdem die Firma kaum noch Aufträge bekam.
„Wir hatten bei Karmann ja über Jahre Lohneinbußen von 20 Prozent“, sagt
ein ehemaliger Mitarbeiter, der damals von VW übernommen wurde. Auch er
will seinen Namen nicht nennen, ist an diesem Mittwoch nur zur
Verabschiedung eines ehemaligen Kollegen im Osnabrücker Werk zu Besuch. Die
jetzigen Diskussionen erinnern ihn an die Karmann-Pleite. Doch der Mann
sieht auch einen großen Unterschied: Die Abwärtsspirale bei Karmann habe
sich abgezeichnet, die jetzigen Ankündigungen bei VW kämen dagegen aus
heiterem Himmel. Zu Zeiten der Karmann-Pleite hätten sich die Mitarbeiter
auf mehrere Nullrunden bei den Tarifverhandlungen eingelassen, um den
Betrieb zu erhalten – ohne Erfolg.
Das Osnabrücker VW-Werk liegt bis heute in der Karmannstraße, der hohe
Fabrikschornstein, auf dem seit 15 Jahren das blau-weiße VW-Logo firmiert,
ist schon vom Hauptbahnhof zu sehen. Die Wolfsburger übernahmen nur einen
Bruchteil der früher mehr als 7.000 Mitarbeiter am Standort Osnabrück.
Die aktuelle Krise bei VW steht stellvertretend für die Lage im Land. Noch
sprudeln Gewinne, aber die Stimmung ist schlecht – auch wenn die deutsche
Wirtschaft im dritten Quartal überraschend gewachsen ist. Für das
Gesamtjahr erwarten Ökonomen eine Rezession, das Bruttoinlandsprodukt wird
wahrscheinlich das zweite Jahr in Folge schrumpfen. Die Bundesregierung hat
zwar mit ihrer „Wachstumsinitiative“ ein Maßnahmenbündel auf den Weg
gebracht, um die Konjunktur anzukurbeln.Aber bevor es in Kraft tritt,
überlagert der Streit in der Ampel um einzelne Punkte die mögliche Wirkung.
## Der Fluch der Profitrate
[4][Wirtschaft ist zu 80 Prozent eine Frage der Psychologie], sagt Marcel
Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er
warnt vor zu viel Pessimismus. Doch viele Wirtschaftsvertreter:innen
kritisieren, dass es gerade die Ampelregierung sei, die für schlechte
Stimmung sorge. Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und
Finanzminister Christian Lindner verunsichern mit eigenen Gipfelgesprächen
und unabgestimmten Vorschlägen – statt gemeinsam eine Initiative zu
ergreifen.
Direkt gegenüber vom VW-Werk in Osnabrück liegt die Cabrio-Firma von Jörg
Dilge. Er ist 2009 nicht zu Volkswagen gewechselt, sondern hat sich
selbstständig gemacht. Sein Unternehmen, das heute etwa 20
Mitarbeiter*innen beschäftigt, übernimmt manchmal auch
Sonderanfertigungen für VW. „Ich war fast dreißig Jahre da drüben, heute
kommen Kollegen zu mir, um ihr Leid zu klagen“, sagt Dilge.
Für ihn sind bei VW zwei Dinge falsch gelaufen. „Das ganze mit der
E-Mobilität ist völlig verpennt worden“, daran seien die Manager schuld.
Dass die Vorstände Dreck am Stecken haben und viel zu viel Geld bekommen,
sei ja klar. Doch Dilge sieht auch die hohen Kosten für Löhne und Energie
als einen Grund der Krise: „Die IG Metall sollte auch mal von ihrem hohen
Ross runterkommen“, sagt er und ist der Meinung, dass die Gewerkschaft für
den Erhalt des Standorts kämpfen und sich dafür mit Lohnforderungen
zurückhalten soll. Auch die Karmann-Pleite habe gezeigt, dass die Metaller
erst zu Lohneinbußen bereit waren, als das Insolvenzverfahren lief. Doch
dann sei es bereits zu spät gewesen.
Die VW-Manager rechnen damit, 2024 mit 9 Millionen Fahrzeugen 240.000
weniger Autos auszuliefern als im Vorjahr. Der Absatz bricht ein, aber
gleichzeitig werden die Gewinnerwartungen hochgeschraubt. „Die Profitrate
von VW soll von 3,5 Prozent auf 6,5 Prozent steigen“, sagt der
Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer, Professor für sozial-ökologische
Transformationsforschung an der Universität Flensburg. Das Management
behaupte zwar, es wolle in E-Mobilität investieren. „Aber vor dem
Hintergrund des Dieselskandals sind die Behauptungen der VW-Manager mit
einer gewissen Skepsis zu betrachten“. Denn die Profitrate ist kurzfristig
bei teuren, großen Verbrennerautos höher als bei kleinen E-Autos.
Die aktuelle Krise bei VW könnte eine Chance für eine nachhaltige
Modernisierung sein, ist Schmelzer überzeugt. VW sei auch Symbol für ein
fossiles Geschäftsmodell: Produktion und Export zunehmend hochpreisiger und
großer Verbrennerautos. Dieses fossile Geschäftsmodell zu retten hält
Schmelzer vor dem Hintergrund der Klimakrise für falsch. „Es darf kein
Cent mehr in die fossile Industrie fließen“, sagt er. „Jetzt gibt es die
Chance, bei VW einen Kontrapunkt zu setzen.“
## Niedersachsen ist Miteigentümer
Der Ökonom plädiert dafür, VW zu einem Verkehrswendeunternehmen umzubauen:
Produziert würden dann nur noch kleine E-Autos und Fahrzeuge für den
öffentlichen Transport wie Züge, Busse oder Straßenbahnen. Die
Arbeitsplätze würden erhalten bleiben. „Das wäre ein positives Beispiel für
die Modernisierung des Industriestandorts“, ist er überzeugt. „VW könnte
ein Leuchtturm werden.“ Vor allem könnten so ökologische und soziale
Aspekte verbunden werden. „Heute gibt es in der Bevölkerung viele
Ressentiments gegen die klimagerechte Transformation, weil ökologische
gegen soziale Fragen gestellt werden“, sagt er.
Das Land Niedersachsen als Miteigentümer sollte diesen Prozess anstoßen,
fordert der Transformationsforscher. Sollten sich die anderen Anteilseigner
wie die Porsche-Piëch-Familie dagegen sträuben, müsse die Politik
intervenieren. Eigentum sei auch dem Allgemeinwohl verpflichtet.
Der Lackierer, der seit 44 Jahren im Osnabrücker Werk arbeitet, glaubt fest
daran, dass es hier weitergeht. „Mein Vater arbeitete hier und mein Enkel
wird auch hier arbeiten“, sagt er und lacht. Er zeigt auf die große
Fabrikhalle, das Werksgelände und den Schornstein. „Was soll hier schon
passieren“, fragt er. Ob die Firma künftig VW oder anders heiße, sei ja
auch nicht so wichtig.
1 Nov 2024
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