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Als ich einmal eine Weile bei Freunden in einem toskanischen Bergdorf
zwischen Florenz und Arezzo wohnte, fuhren wir samstags zum Einkaufen immer
in einen Supermarkt bei Arezzo. Mich begeisterte dort, dass man zwischen
den Regalen rauchen konnte, die Gänge waren voller Kippen. Aber noch besser
war, dass an der Kasse meist eine junge blonde Frau saß, die alles, was wir
im Einkaufswagen nach unten gepackt hatten, einen Kasten Danone-Säfte
beispielsweise, nicht registrierte und dazu charmant lächelte.
Der kleine alte Hof meiner Freunde war schlecht zu erreichen. Am Wochenende
kamen manchmal drei Jungs und ein Mädchen aus Arezzo zu Besuch. Sie waren
eng befreundet und machten alles gemeinsam: schlafen, essen, lesen und hoch
ins Gebirge wandern. Wir fragten sie, warum sie sich nicht eine Wohnung in
Arezzo mieteten. Das sei unmöglich, erklärte das Mädchen, jeder Vermieter
würde erst ihre Eltern fragen, ob sie das billigen würden. Man müsste schon
verheiratet sein.
Immer mal wieder kam auch ein wohlerzogener junger Deutscher vorbei, dessen
Eltern in Italien lebten, mit denen er aber nichts mehr zu tun hatte. Er
zählte sich zu den „cani sciolti“, den „streunenden Hunden“, und brachte
jedes Mal einen großen Schinken mit, den er auf einem der „Festa de
l’Unità“, dem Sommerfest der Kommunisten, geklaut hatte.
Dies waren nette Besuche, schwierig war ein deutsches Ehepaar. Sie waren
zwar freundlich, aber die Frau konnte auf dem Plumpsklo nicht kacken und
litt immer mehr. Nach einigen Tagen Verstopfung musste sie ins Krankenhaus
nach Poppi, wo man ihr half. Danach fuhren sie sofort zurück nach Freiburg.
Ich rutschte einmal beim Wiedereinfangen von vier Hausenten im Bach auf
einem glitschigen Stein aus und brach mir den linken Daumen. Der
Krankenwagenfahrer brachte mich zu einer Klinik in der Nähe, die mir aber
nicht helfen konnte, auch eine zweite wies mich ab. Als wir im Krankenhaus
von Arezzo ankamen, war es schon fast Mitternacht. Zwei diensthabende
Anästhesisten schalteten einen Horrorfilm aus, den sie sich gerade mit
voller Lautstärke angeguckt hatten und machten sich bereit. Sie mussten
aber warten, weil der diensthabende Chirurg noch bei einer Wildschweinjagd
war. Als er kam, war er leicht betrunken, aber guter Dinge.
Nach kurzer Inaugenscheinnahme meines Daumens schickte er die Anästhesisten
weg. Er wollte mich nur örtlich betäuben. Während der Operation erzählte er
mir, was für einen riesigen Keiler er geschossen habe und dass ich ihn von
der anschließenden Jagdparty geholt hätte, gerade als es anfing, lustig zu
werden. „Das tut mir leid“, sagte ich. „Arztschicksal“, murmelte er und
drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, den er mir auf den Bauch
gestellt hatte.
An meinem Fußende stand ein großer dicker Pfleger, der sich jedes Mal, wenn
ich ihn ansah, schulterzuckend für den aufgekratzten Chirurgen und seine
etwas ungewöhnliche Behandlung entschuldigte. Anschließend wurde meine Hand
bis zum Ellenbogen von einer medizinisch-technischen Assistentin
eingegipst, die mir einschärfte, einmal wöchentlich zur Kontrolle zu
kommen. Danach brachte mich der Krankenwagenfahrer wieder nach Hause.
Die große rothaarige Assistentin war eine Wucht. Ich ging gern zu ihr.
Einmal war der Hof des Krankenhauses voll mit Männern, die alle irgendeinen
Körperteil eingegipst hatten, sie rauchten und tranken Wein im Stehen. „Was
ist da passiert?“, fragte ich die Assistentin. „Die Motorsägensaison hat
begonnen“, antwortete sie gleichmütig.
Weil ich mich mit dem linken eingegipsten Arm nicht rasieren konnte, fuhr
ich zwei Mal in der Woche runter in den nächsten Ort, trank im „Caffè“
einen Schnaps und ging dann zum Friseur. Es gab zwei am Piazza Grande:
einen kommunistischen und einen faschistischen. Ich ging am Dienstag zum
einen und am Freitag zum anderen.
Der kommunistische, ein Cousin des Krankenwagenfahrers, gab mir vor der
Rasur erst einmal von seinem selbst angebauten Wein zu trinken. Beim
faschistischen saß jedes Mal ein Halbdutzend älterer Männer, die
verstummten, wenn ich reinkam, sodass man nur das Schaben des Rasiermessers
an meiner Kehle hörte. Es war wie in einer Szene aus einem Italowestern.
In der Gegend gab es etliche Faschisten. Sie schrieben „Ausländer raus!“
auf die Asphaltstraßen und brachen in die Sommerhäuser von WDR-Redakteuren
und SPD-Politikern ein. Sie klauten nicht nur die Fernseher und Ähnliches,
sondern nahmen auch gleich noch die Wasserhähne, Regenrohre und Spülkästen
mit.
Zu den Ausländern, Deutsche, Schweizer und Engländer, zählten auch die
Sarden, die Schafe züchteten. Sie alle feierten gelegentlich zusammen und
halfen sich.
Das Haus meiner Freunde, ein alter kleiner Hof, war nicht abschließbar,
aber niemand stahl während unserer Abwesenheit etwas. Einmal allerdings,
als wir kurz nach Deutschland fuhren, trafen wir unten im Ort den
maresciallo. Er sagte: „Ihr fahrt weg, keine Bange, ich pass auf euer Haus
auf.“ Wir bedankten uns, aber als wir wieder kamen, fehlten vier
Winterreifen.
Nach sechs Wochen nahm mir die Assistentin im Krankenhaus leider den
Gipsverband ab. Das war aber auch angenehm, denn in der Hitze hatte ich
unterm Gips geschwitzt und es hatte gejuckt. Während der ganzen Behandlung,
von der Fahrt im Krankenwagen und der Einlieferung über die Operation bis
zur Nachbehandlung wollte keiner im Krankenhaus meinen Namen und meine
Versicherung wissen. Einzig die Assistentin hatte sich am Schluss nach
meinem Vornamen erkundigt und mir ihren genannt: Elisa.
Leider kann ich seitdem meinen linken Daumen nicht mehr richtig bewegen und
im norddeutschen Winter schmerzt er, wenn es zu kalt wird. Aber die
Krankenhauserfahrung in Arezzo lass ich mir dadurch nicht vermiesen.
21 Oct 2024
## AUTOREN
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