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Von nomadisch lebenden, „herrenlosen“ Hunden gibt es naturgemäß wenige
Lebensgeschichten – kein Herrchen, keine Biografie. Stattdessen werden
diese verwilderten Hunde sporadisch fast überall auf der Welt verfolgt, vor
allem, wenn sie wehrhafte Rudel bilden. Oder man fängt sie wie in Rumänien
ein, kastriert sie und versucht sie an Interessierte im Ausland zu
vermitteln. Eine Ausnahme bilden die indischen Straßenhunde, von denen es
wohl rund 40 Millionen gibt. Denn der höchste Gerichtshof Indiens hat
verfügt: Wer sie medizinisch behandelt, muss sie wieder da aussetzen, wo er
sie einfing.
In der australischen Region Darwin will man die „Übergriffe“ der Dingos auf
Schafe nicht mehr hinnehmen – und sie abschießen. Die Aborigines und
verschiedene Naturschutzgruppen protestieren. Darwins Sicherheitskräfte
warnen dagegen vor der „Dingogefahr in den Vororten“. Das Department of
Agriculture and Food erklärt: „Dingos heißen die Hunde der Aborigines.“ In
Australien bezeichnet man Feiglinge als Dingos. „Man kann sich nicht so
recht einigen“, schreibt der Umweltjournalist Fred Pearce in seiner
Verteidigung invasiver Arten („Die neuen Wilden“, 2016), „ob der Dingo als
Fremder oder als Eingeborener ehrenhalber angesehen werden soll“.
Die Dingos sind die einzigen verwilderten Hunde, die es zu einer eigenen
Art gebracht haben: Canis lupus dingo. Knochenfunde lassen vermuten, dass
sie vor etwa 5.000 Jahren mit den Aborigines nach Australien kamen. Die
Ureinwohner unterhalten zu den Dingos bis heute ein freundschaftliches
Verhältnis – vor allem ihre Kinder.
„Die australischen Dingos leben wild und sind nicht von Menschen abhängig.
Dieser Rücksprung vom Haustier zum Wildling macht sie für die Hundeforscher
interessant“, schreibt die Gesellschaft für Haustierforschung. „Hinzu
kommt, dass die Vorfahren der heutigen Dingos zu einem Zeitpunkt wieder
verwilderten, als die Domestikation des Wolfes zum Haushund noch nicht sehr
weit fortgeschritten war. Lange Zeit wusste man nicht, was man von diesen
Hunden halten sollte.“
Merkwürdig sei nämlich, dass Australien der Kontinent der Beuteltiere war,
aber der einzige große Beutegreifer des Kontinents kein Beuteltier war.
Erst spät entdeckte man, dass es doch einen gab: den Beutelwolf, ihn hatten
jedoch die Dingos ausgerottet, es gab ihn nur noch auf Tasmanien, wo keine
Dingos leben. Dennoch konnte der Beutelwolf auch auf Tasmanien nur bis 1936
überleben, dann hatten weiße Siedler den letzten getötet.
Obwohl Dingo-Experten wie der Biologe Frank Wörner im Hundemagazin wuff von
einem nur „geringen Domestikationsniveau“ sprechen, weil sie – folgt man
dem Wolfsforscher Erik Zimen – „niemals mehr einer ‚Neudomestikation‘
unterlagen“, gibt es inzwischen Firmen, die Dingowelpen als Familienhunde
anbieten und Tierschützer, die „Rescue Pet Dingos“ vermitteln.
Die Aborigines jedoch jagen nicht mit ihren Hunden, jeder Aborigine jagt
für sich. Im Gegensatz beispielsweise zu den Amazonasindianern, den
Engländern und den Deutschen. Hierzulande arbeiteten sich die Hunde langsam
von Aas- und Abfallfressern zu Wach- und Kriegshunden und schließlich zu
Jagdhunden hoch. Sie wurden quasi adlig, wobei sie sich spezialisierten –
in Stöber-, Hühner-, Hetz- und Apportierhunde.
Nach Australien kamen mit den Weißen ab 1788 auch deren Nutztiere, unter
anderem Haushunde. Sie paarten sich schon bald mit den Dingos. Das taten
sogar solche, die von den Viehzüchtern zur Bekämpfung der Dingos eingesetzt
wurden. Selbst der längste Zaun der Welt, der 5.400 Kilometer lange „Dingo
Fence“, der die Schafweiden im Süden Australiens schützen soll, kann das
nicht verhindern. Ebensowenig der „Dingo Management Plan“ im Bundesland
Northern Territory, wo Darwin liegt.
Vermischung stößt auf Interesse
Australische Dingoforscher gehen davon aus, dass durch die Mischlinge das
komplexe Sozialgefüge der Dingos zerstört wird. Schon meinen engagierte
Dingoschützer, dass die „reinen Dingos“ zum Aussterben verurteilt sind –
durch Vermischung. Die Ökologen wollen die letzten davon bedrohten
„reinrassigen“ Dingos erhalten. Die Dingoforscher sind da flexibler: Sie
sprechen von „Evolving Dingos“ – und verfolgen deren Vermischung mit
Interesse.
Schon Darwin hatte aus Forschungsgründen Kreuzungen zwischen Dingos und
Haushunden vorgeschlagen. Der Psychoanalytiker Jeffrey M. Masson fand
heraus, dass verwilderte Hunde, die sich zu einem Rudel zusammengeschlossen
haben, im Gegensatz etwa zu Wölfen „selten ein fürsorgliches Verhalten
gegenüber anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft entwickeln“. Auch die
australischen Dingoforscher bemerkten, dass durch die Paarung mit
verwilderten Haushunden und den daraus hervorgehenden „Mischlingen“ das
„komplexe Sozialgefüge“ der Dingos zerstört wird: Sie müssen in Freiheit
die Sorge um andere erst wieder lernen.
Ähnlich verwandt wie die Papuas mit den Aborigines sind die Dingos mit den
Urwalddingos, auch „singende Hunde“ genannt, die in den Bergwäldern
Papua-Neuguineas leben. Der Journalist Jean Rolin unternahm für sein Buch
„Einen toten Hund ihm nach“ (2012) Reisen in etliche Länder, um mehr über
verwilderte Hunderudel zu erfahren. In Russland lernte er den
Kanidenforscher Andrej Gontscharow kennen, der die frei lebenden Hunde in
Moskau studiert.
Er unterscheidet bei den herrenlosen Hunden dort vier Gruppen, je nach
ihrer Distanz zu den Menschen. Eine Gruppe hält dabei so gut wie keine
Distanz ein, weil sie gelegentlich Bewachungsaufgaben übernimmt und dafür
gefüttert wird – ihre Reviere sind einzelne Straßen, die sie gegen Hunde
aus anderen Straßen verteidigen.
Singende Hunde in Tadschikistan
Forscher Gontscharow hat noch einige Exemplare der „singenden Hunde“ lebend
gesehen – im Zoo der tadschikischen Kapitale Duschanbe. Diese Urwalddingos
galten, wildlebend, seit 1970 als ausgestorben. Sie wurden 2020 jedoch in
den Bergen von Neuguinea wiederentdeckt. Seitdem bemüht sich eine New
Guinea Singing Dog Conservation Society um ihre Fortexistenz. Als Vorfahren
der Dingos zählen sie zu den verwilderten Haushunden. Anders als die
asiatischen Rothunde und die afrikanischen Wildhunde, die sozusagen wild
geboren sind.
Und von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik lesen wir: „Auf der
Eberhard-Trumler-Station in Birken-Honigsessen gibt es Gehege mit
australischen Berglanddingos und mit Steppendingos. Ihnen zur Seite
gestellt ist ein Gehege mit türkisch-iranischen Straßenhunden. Der Sinn
besteht darin, Hunde zu haben mit einem niedrigen Fortschritt der
Domestikation und Hunde, bei denen der Prozess viel weiter fortgeschritten
ist. Dies bietet Gelegenheit zu vielfältigen Verhaltensstudien.“
7 Oct 2024
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