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Berlin taz | Das Web-Video, in dem die Führungsriege der Grünen Jugend (GJ)
ihren Austritt ankündigt, endet am Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg. Um den
Platz steht eine Großwohnsiedlung aus den Siebzigern, der Anteil an
Sozialleistungsempfänger*innen und armen Kindern ist doppelt so
hoch wie im Rest der Hauptstadt.
Die Kulisse war also sorgsam gewählt: Es brauche wieder eine linke Kraft,
die „gerade diejenigen anspricht, die in Armut und Abstiegsangst leben“,
heißt es in einem Abschiedsschreiben an die Grünenspitze, abgeschickt am
Mittwochabend. In der Partei fehle die Perspektive für eine
„klassenorientierte Politik“ und ein „grundsätzlich anderes
Wirtschaftssystem“. Zu viel Umverteilung nach oben, zu wenig Klimaschutz
und zu viele Abschiebungen: Gegen die Kompromisspolitik in der Ampel kommen
die Abtrünnigen nicht an, deswegen verlassen sie Partei und GJ und gründen
einen neuen politischen Jugendverband.
Nach dem Rücktritt des Parteivorstands am Mittwochmorgen war die Nachricht
der zweite Hammer innerhalb weniger Stunden – wenn auch der weniger
überraschende und länger vorbereitete. Resignation war dem GJ-Vorstand
schon seit Monaten anzumerken. Bat man als Journalist um Statements zu
tagespolitischen Fragen, lautete die Antwort oft: heute nicht. Seit Jahren
stand im Verband dafür Klassenkampfrhetorik immer höher im Kurs, womit man
bei den Grünen des 21. Jahrhunderts natürlich auf Widerstände stößt. Und
interessiert blickte die Grüne Jugend schon lange nach Österreich: [1][2017
warfen die dortigen Grünen nach einem Richtungsstreit ihren gesamten
Jugendverband raus.] Dieser tat sich schließlich mit der kommunistischen
KPÖ zusammen. Zusammen erzielte man als Kümmererpartei regionale Erfolge.
„Wir wollen dazu beitragen, dass es bald eine starke linke Partei in
Deutschland geben kann“, heißt es jetzt auch von den GJ-Aussteiger*innen.
Unklar ist bislang, ob sie auf ein ganz neues Parteiprojekt spekulieren
oder mit der kriselnden Linken zusammenarbeiten werden. Das Kapitel bei der
Grünen Jugend endet offiziell am Wochenende um den 19. Oktober. In Leipzig
findet dann der Bundeskongress der GJ mit Neuwahlen statt, nebenan in Halle
der Parteitag der Linken. Als Parteichefin kandidiert dort [2][Ines
Schwerdtner], einst Chefredakteurin des sozialistischen Magazins Jacobin –
in dem wiederum Sarah-Lee Heinrich gelegentlich mit Gastbeiträgen gegen den
Grünen-Kurs schießt. Die ehemalige GJ-Chefin wirkt an der Neugründung
ebenfalls mit.
## Hessische Grünenjugend kündigt weiter Opposition an
Bei den Grünen entsteht mit der Spaltung im Parteinachwuchs erst mal eine
Lücke. Seit dem Start der Ampelkoalition war es oft die GJ, die eine
innerparteiliche Opposition gegen die Regierungspolitik organisierte. Das
Sondervermögen für die Bundeswehr, die Räumung von Lützerath, [3][die
Verschärfung des europäischen Asylrechts]: Die Jungen schrieben Anträge für
Parteitage und mobilisierten Delegiertenstimmen weit über ihre eigenen
Reihen hinaus. Mehrheiten erreichten sie nicht, für Debatten und knappe
Ergebnisse sorgten sie aber.
Vor allem Realos waren davon natürlich oft genervt. Zum Teil kreideten sie
der Jugendorganisation auch an, dass die Grünen zuletzt unter Erstwählern
schlecht abschnitten. Entsprechend gelassen, teils auch erleichtert, fallen
am Donnerstag viele Reaktionen aus der Partei aus. Offen ist aber zunächst,
um wie viel bequemer die Grüne Jugend unter einem neuen Vorstand agieren
wird. Wie viele Mitglieder der Neugründung folgen und ebenfalls austreten,
ist offen. Der hessische Landesvorstand kündigte am Donnerstag an, zu
bleiben und trotzdem weiter zu opponieren. „PS: Das ist kein Liebesbrief an
die Grünen. Wer soll denen sonst in den Arsch treten?“
Ebenfalls nicht austreten wird der ehemalige GJ-Chef Timon Dzienus. Im
Gegenteil: Der 28-Jährige will nächstes Jahr in den Bundestag. Kämpferisch
gibt aber auch er sich: „Es steht gerade verdammt viel auf dem Spiel. Linke
in der Partei müssen kämpfen“, sagte er der taz. „Die Austritte sind mehr
als ein Warnschuss und auf allen Ebenen muss ankommen: Der Kurs der Mitte
und des Nachgebens ist gescheitert.“
## Wer hat künftig die Macht bei den Grünen?
Tatsächlich sortiert sich in der Partei gerade vieles neu – mit offenem
Ausgang. Manche Medien berichteten am Mittwoch, den Rücktritt des
Parteivorstands um Omid Nouripour und Ricarda Lang habe der designierte
Kanzlerkandidat Robert Habeck eingefädelt. Dagegen gibt es zwar harte
Dementis. Klar ist aber, dass Habeck für einen deutlich mittigeren Kurs
steht als beispielsweise Lang.
Je nachdem, wie die Parteispitze nachbesetzt wird, könnte sich die
bisherige Machtbalance fortschreiben. Unter Parteilinken gibt es einerseits
aber auch die Befürchtung, dass das Habeck-Lager jetzt durchregieren will –
und andererseits Ambitionen, den eigenen Flügel zu stärken. Um sich
durchzusetzen, müssten sich die Linken aber besser organisieren als
zuletzt, zumal Hilfe aus der Grünen Jugend jetzt erst mal ausfällt. Am
Samstag trifft sich der Flügel zum ersten Vernetzungstreffen seit Jahren in
Berlin. Schon lange geplant – und unfreiwillig doch perfekt getimt.
26 Sep 2024
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