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Gaza/Beirut taz | Genau ein Jahr ist es nun her, dass Eid Moeen Eid Abu
Amsha mit seiner Frau und seinem Sohn die gemeinsame Wohnung in Beit
Hanoun, Nordgaza, verlässt. Sofort nachdem klar wird, was auf der anderen
Seite des Checkpoints Erez, auf dessen palästinensischer Seite er lebt, vor
sich geht. Sie beladen das Auto mit dem Nötigsten und fahren Richtung
Süden. [1][Acht Mal, sagt er, seien sie insgesamt vertrieben worden.]
Abu Amshas Geschichte ist eine von vielen. Vor dem Krieg lebten im
Gazastreifen etwa 2,3 Millionen Menschen. Etwa 83 Prozent davon, ungefähr
1,7 Millionen Menschen, sind innerhalb Gazas Vertriebene, nach Angaben des
Internal Displacement Monitoring Center. Viele von ihnen mehrfach.
Abu Amshas Irrweg durch Gaza geht so: von Beit Hanoun, ganz im Norden
Gazas, in das Flüchtlingslager Jabaliyah. Dann weiter nach al-Nasser, einem
Stadtteil der Metropole Gaza-Stadt. Von dort ziehen sie weiter in das
Al-Shifa-Krankenhaus, ebenfalls in Gaza-Stadt. Von dort in das südlichere
Khan Yunis, dann nach Rafah, ganz im Süden des Küstenstreifens, an der
israelischen Grenze. Und schließlich von dort nach al-Mawasy, das heute als
„humanitäre Zone“ bekannt ist. An Abu Amshas langer Flucht lassen sich die
verschiedenen Phasen des Krieges in Gaza erkennen. Und wie das israelische
Militär – und auch die Hamas – diesen führt.
## Ständige Flucht innerhalb des Gazastreifens
Erkennen lässt sich das etwa am Camp Jabaliyah, die erste Station der
langen Flucht von Abu Amsha. Der Begriff täuscht: Jabaliyah existiert seit
1948. Die Menschen, die darin leben, sind in jenem Jahr aus ihren
Heimatorten im heutigen israelischen Staatsgebiet geflohen. Hier stehen
keine Zelte, sondern Häuserzeilen an engen Straßen, das kleine Gebiet ist
extrem dicht besiedelt. Dort sei es nicht sicher gewesen, sagt Abu Amsha.
Rund um den 22. Oktober, erzählt er, verlässt er mit seiner Familie das
Camp.
Er und seine Familie haben Glück: Am 31. Oktober fliegt das israelische
Militär einen Luftangriff auf das Camp, er gilt nach israelischen Angaben
einem für den 7. Oktober verantwortlichen Hamas-Anführer. Der Krater, den
die Explosion hinterlässt, ist enorm: Der Guardian berichtet von einem
Durchmesser von zwölf Metern. Wie viele Menschen sterben, lässt sich
unabhängig nicht überprüfen.
Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium des Gazastreifens
spricht von über 190 Toten. Anfang November beginnt die Bodenoffensive des
israelischen Militärs, Ende November ist das Gebiet umstellt. Als sich das
Militär im Januar aus Jabaliya zurückzieht, berichten verschiedene Medien
von der massiven Zerstörung, die die Offensive hinterlassen hat. Das
israelische Militär gibt damals an, die Bataillone der Hamas zerstört zu
haben.
Im Mai 2024 – Abu Amsha ist mit seiner Familie in Rafah untergekommen –
starten die Israelis erneut eine Offensive auf Jabaliya. Für die
Zivilbevölkerung ist das eine Katastrophe: Wer in der Zwischenzeit
zurückgekehrt ist, muss wieder flüchten. Es gibt keinen Ort, an dem die
Menschen in Sicherheit sind. Stattdessen wartet man. Kommt eine
Evakuierungsaufforderung des israelischen Militärs? Und wenn ja, wohin als
Nächstes flüchten?
## Immer wieder von vorne beginnen
Auch militärstrategisch betrachtet, sagt Seth Frantzman, könne er die Art,
wie das Militär in Gaza Krieg führt, kaum nachvollziehen. Er schreibt unter
anderem als Korrespondent für die israelische Zeitung Jerusalem Post. Auch
nach rund einem Jahr, erklärt er im Frühsommer, habe Israel seine Ziele in
Gaza – die Befreiung der Geiseln sowie die Hamas zu zerstören – nicht
erreichen können. Stattdessen erlaube die Kriegsführung Israels der Hamas,
sich immer wieder zu regruppieren. Auch an Orten, die bereits als von ihr
befreit galten.
Denn jedes Mal, wenn sich das israelische Militär zurückziehe, hinterlasse
sie ein Machtvakuum. Und das fülle die Hamas schnell wieder. Mit jeder
Evakuierungsaufforderung schicke Israel die Zivilbevölkerung wieder in die
Hände der Hamas. Frantzman zieht den Vergleich mit der Schlacht um Mossul
gegen den „Islamischen Staat“ 2014. Damals hätten das irakische Militär und
seine Verbündeten Zivilistinnen und Zivilisten aus der Stadt evakuieren
lassen – und sie somit hinter die kämpfenden Soldaten gebracht.
Das sieht man auch an dem Weg, den Abu Amsha nimmt. Als er von Beit Hanoun
nach Jabaliyah flüchtet, bewegt er sich in ein Gebiet, in dem Israel starke
Strukturen der Hamas verortet. Frantzman sagt: Das erlaube der
Terrorgruppe, ihre Kontrolle über die Bevölkerung und damit über die
Verteilung von Hilfslieferungen zu behalten. Im Juli schreibt er in der
Jerusalem Strategic Tribune: Die Strategie des israelischen Militärs ähnele
in Gaza immer mehr der Strategie im Westjordanland: Die Kampagnen, die das
israelische Militär dort immer wieder durchführt, sind für die
Zivilbevölkerung eine Katastrophe.
Auch in Gaza ist [2][die Zivilbevölkerung zwischen der harten Kriegsführung
des israelischen Militärs und der anhaltenden Unnachgiebigkeit der Hamas
gefangen]. Das zeigt sich etwa am Al-Shifa-Krankenhaus, Abu Amshas vierter
Station auf seiner Flucht quer durch den Gazastreifen. Die israelische
Bodenoffensive ist einer der Momente aus dem vergangenen Kriegsjahr, die im
kollektiven Gedächtnis der Öffentlichkeit besonders haften geblieben sind:
Als das israelische Militär seine Kampagne ankündigt, flieht Abu Amsha
weiter. Und muss schon wieder von vorne beginnen: einen Wohnort suchen,
Versorgung mit Strom, Essen, Wasser, Internet.
## Vorletzte Station Rafah
In der Al-Shifa-Klinik, so das israelische Militär, befinde sich ein
Kommandozentrum der Hamas – oder vielmehr darunter. Unter dem Krankenhaus
ist ein Bunker. Israel hat ihn, so berichtet das konservativ-jüdische
Medium Tablet Magazine, 1983 selbst gebaut. Unter dem Krankenhaus befindet
sich außerdem ein Tunnel. Und wie die New York Times, basierend auf
israelischen Geheimdienstpapieren, schreibt, nutze die Hamas das
Krankenhaus, um Waffen darin zu lagern und den darunter gelegenen Tunnel
mit Wasser, Strom und Luftzufuhr zu versorgen.
Vom israelischen Militär heißt es: Man habe Hunderte Verdächtige
festgenommen und über 200 Kämpfer getötet, darunter auch „Top-Kommandeure“
der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Mit der
Militärkampagne wird aus dem Krankenhaus eine Kampfzone. Die
Gesundheitsversorgung in Gaza, sagt Abu Amsha, sei eine Katastrophe. Viele
Kinder hätten Läuse, viele Menschen Hautkrankheiten. Auch in al-Mawasy, wo
Abu Amsha heute lebt, erfolgt der Großteil der Versorgung der Menschen über
Feldkliniken.
Abu Amshas [3][vorletzte Fluchtstation ist Rafah], das lange als relativ
sicherer Hafen gilt und in dem mindestens ein Krankenhaus noch relativ gut
funktioniert. Mitte Mai – als Israel auch in Jabaliyah wieder mit seiner
Militärkampagne beginnt – muss das Gebiet schließlich evakuiert werden.
Andrew Fox, ehemaliger Major in der britischen Armee, nennt die Strategie
einen Erfolg – trotz des hohen Preises, den die Zivilbevölkerung zahlt. Bei
Tablet Magazine schreibt er: Die Taktik, Gebiete einzunehmen und zu halten
und alternative Kontrollstrukturen aufzubauen, sei personalintensiv. Er
gibt zu: Die Hamas zerstören, sie also vollkommen kampfunfähig zu setzen,
sei nicht möglich. Sie zu besiegen, sei aber möglich, schreibt er.
„Besiegen“ bedeute, die Kampfstärke der Organisation auf mindestens etwa
die Hälfte zu reduzieren. Dafür müsse es die Möglichkeit der Hamas, Israel
anzugreifen, zerstören.
## Hoffen auf den Wiederaufbau
Eine langfristige Lösung, den Aufbau einer alternativen Regierung, etwa die
Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde als kontrollierende Macht
in das Gebiet, hält er für unrealistisch. Dass es einen solchen Plan bis
heute nicht gibt, ist einer der Kritikpunkte, den etwa westliche Staaten,
und auch Frantzman, an Israel richten. Von Anfang an, sagt er, habe es kein
klares Kriegsziel gegeben.
Abu Amshas Haus im Norden Gazas ist zerstört. Er hat seine Arbeit verloren.
Essen, sagt er, bekomme seine Familie von den Charity-Küchen. In seinem
Zelt in al-Mawasy träumt er davon, in einem Zelt neben seinem zerstörten
Haus leben zu können. Doch zwischen al-Mawasy und Beit Hanoun liegt der
Netzarim-Korridor, den die Israelis kontrollieren und der das Gebiet
faktisch teilt. Seine Hoffnung liegt in dem, was bisher als Plan weltweit
fehlt: „Meine Zukunft liegt in Gottes Hand. Ich hoffe, dass eine neue
Regierung die Kontrolle über Gaza ergreifen und es wieder aufbauen wird.“
Sami Zyara arbeitet als Journalist im Gazastreifen. Seit dem 7. Oktober hat
er alles verloren. Er lebt in einem Zelt in Südgaza.
Lisa Schneider ist Nahost-Redakteurin der taz und berichtet zurzeit aus
Beirut im Libanon
7 Oct 2024
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