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Rafah/Al-Mawasi/Jerusalem taz | Das temporäre Zuhause der Familie
al-Madhoun in al-Mawasi im südlichen Gazastreifen misst nicht mehr als 16
Quadratmeter. Es ist ein Zelt, die Wände aus grauem Plastik, auf dem Boden
ein dünner Teppich, ein paar Matratzen. Zu acht leben sie hier: der
53-jährige Familienvater Wael al-Madhoun, seine Ehefrau Mona, die fünf
Söhne und eine Tochter. Auf einem kleinen Stück Boden vor dem Zelt wäscht
und kocht die Familie. Mit Plastikplanen versuchen sie ein Stück
Privatsphäre für sich zu schaffen. Und weil im Zelt selbst kein Platz ist,
bewahren sie davor auch ihre Kleidung und Nahrungsmittel auf.
Die Familie musste – so erzählt es Mona al-Madhoun – nun zum sechsten Mal
flüchten, seit dem Beginn des Kriegs gegen die Hamas nach den [1][Angriffen
vom 7. Oktober]. Ursprünglich stammen sie aus einer Wohnsiedlung namens
Sheikh Zayed, bei Beit Hanoun in Nordgaza. Von dort flohen sie Richtung
Süden, zunächst in das Ballungsgebiet Jabalia, dann in die Mitte des
Gazastreifens nach Az-Zawaida, von dort aus in die südliche Großstadt Khan
Younis und von dort schließlich nach Rafah. So wie über eine Million
weitere Menschen, die den Aufrufen des israelischen Militärs zur
Evakuierung aus Nord- und Zentralgaza folgten und schließlich in Rafah
landeten.
An der Reise der Familie al-Madhoun lassen sich auch die verschiedenen
Phasen des Krieges ablesen und der Weg des israelischen Militärs: aus dem
Norden, wo die Offensive begann, bis ganz in den Süden des Gazastreifens.
Vier Monate lang harrte die Familie in Rafah aus. Am vergangenen Sonntag
dann warf das israelische Militär Flugblätter über dem Osten Rafahs ab,
warnte mit Anrufen, SMS und Medienansprachen: Alle Zivilistinnen und
Zivilisten sollten die Gegend verlassen. In der Nacht zum Montag begann
schließlich die Bodenoffensive. Geschätzt 30.000 Menschen sind in der
vergangenen Woche aus Ostrafah geflohen. Auch aus den weiter westlich
gelegenen Teilen der Stadt haben sich die ersten aufgemacht, die Angst vor
einer Ausweitung der Kampfzone treibt sie an.
## Kaum Infrastruktur
Auch die Familie al-Madhoun ist dem Aufruf des Militärs gefolgt und von
Rafah nach al-Mawasi gezogen – Flucht Nummer sechs. Über dreieinhalb
Stunden dauere die Fahrt mittlerweile, erzählt Mahmoud al-Madhoun, einer
der Söhne der beiden, vor dem Krieg habe sie etwa 15 Minuten gedauert. Der
Grund: die über eine Million Menschen, die nach Rafah und Umgebung geflohen
sind – „in eine sehr kleine Region“, sagt er.
Auf dem Gebiet von al-Mawasi stand bis 2005 ein israelischer
Siedlungsblock, genannt Gush Katif. Damals wurde er, im Rahmen des
israelischen Rückzugs aus Gaza, geräumt und an die Palästinenserinnen und
Palästinenser übergeben.
Das Land wurde sowohl vor als auch nach der Räumung der Siedlungen vor
allem landwirtschaftlich genutzt. Vor dem Krieg sah es so aus: ein paar
Straßen, Felder, Sand, ein paar Gebäude und Gewächshäuser bis zum Strand.
Bis zum vergangenen Oktober wurden dort etwa Mangos und Paprika angebaut,
deswegen gibt es grundsätzlich wenig städtische Infrastruktur. Nur ein
einziges Solarpanel dient den Menschen, die nach al-Mawasi geflohen sind,
nun dazu, ihre Smartphones zu laden – gegen Bezahlung.
Auch nach einer Toilette oder Dusche muss die Familie al-Madhoun lange
suchen. Vater Wael ist nierenkrank und Dialysepatient, er muss täglich
Tabletten schlucken. Sein Körper kann Giftstoffe nicht selbst ausscheiden,
eine Maschine ersetzt die Funktion seiner kranken Nieren. Eigentlich müsste
er für die Blutwäsche alle zwei Tage ins Krankenhaus. Seit Beginn des
Kriegs kam er zur Behandlung in viele verschiedene Krankenhäuser entlang
seiner Fluchtroute. Bisher, erzählt er, konnte er zumindest zweimal
wöchentlich behandelt werden. Doch nun wurde auch das
Abu-Youssef-al-Najjar-Krankenhaus in Rafah, in dem ihm seit seiner Ankunft
in Rafah geholfen wurde, auf Anweisung des israelischen Militärs evakuiert.
## Seit Tagen keine Dialyse
Eine Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation warnte: Sollte das
Krankenhaus geschlossen werden, seien mindestens 200 Dialysepatienten in
akuter Gefahr. Nach Angaben der Organisation ist es die einzige Klinik, die
überhaupt noch Dialysebehandlungen in Gaza durchführt. Zwar bleibt die
Dialyseabteilung des Krankenhauses nach Angaben der Nachrichtenagentur
Reuters noch geöffnet. Doch al-Madhoun und seiner Familie, die Rafah längst
verlassen haben, hilft das nicht.
Al-Madhoun sagt, das Al-Aksa-Märtyrer-Krankenhaus in Deir-el-Balah sei nun
seine Hoffnung. Dort sollen noch Dialysepatienten behandelt werden, sagt
er. Deswegen will er al-Mawasi erneut verlassen, und in die Stadt in
Mittelgaza weiterziehen, in die Nähe der Klinik. „Ich bin krank, ich kann
nicht zwischen Städten hin- und herreisen“, erklärt er. „Vor dem Krieg gab
es Programme in Gaza für Menschen, die mit Nierenschäden leben.“ Doch die
Programme, sagt al-Madhoun, gibt es alle nicht mehr.
Schon seit Tagen war er nicht mehr bei der Dialyse, erzählt er. „Mein
Körper ist voller Giftstoffe. Ich habe Wassereinlagerungen in den Füßen.“
Bald könne er nicht mehr richtig laufen, sagt er. In der vergangenen Woche
sei sein Hämoglobinwert – der Anteil roter Blutkörperchen im Blut – als
Folge der vielen Gifte in seinem Körper auf fünf Gramm pro Deziliter
abgesackt. Bei einem gesunden erwachsenen Mann sollten es sonst zwischen
etwa 13 und 16 Gramm sein. Er habe dringend eine Bluttransfusion gebraucht,
erzählt er. In den Krankenhäusern gebe es aber keine Blutkonserven mehr.
Sein Sohn und sein Neffe haben ihm Blut schließlich gespendet.
Ob das Al-Aksa-Märtyrer-Spital in Deir el-Balah ihn als Patienten
überhaupt aufnehmen kann, wisse er nicht, sagt er. Doch er will zumindest
versuchen, sich dort registrieren zu lassen. Eine anderen Option hat er
nicht.
## Wieder keine Einigung
Vier Stunden, sagt al-Madhoun, dauere die Fahrt von al-Mawasi nach Deir
el-Balah, eine Strecke von etwa 16 Kilometern. Ein Auto besitzt die Familie
nicht. Um weiterzuflüchten, müssen sie eines mieten, sagt al-Madhouns Frau
Mona. 1.000 Schekel – etwa 250 Euro – koste das. „Ich habe Angst“, sagt
sie, „ich bin müde, körperlich und geistig.“
„Wir leben seit sieben Monaten in einem Zelt“, sagt ihr Sohn Mahmoud
al-Madhoun. „Es gibt kaum Wasser, kaum Essen, nicht einmal das Nötigste zum
Leben.“ Vor dem Krieg arbeitete der 27-Jährige als Verkäufer in einem
Mobileshop, der Telefone und SIM-Karten vertreibt. Die Familie war auch in
ihrer Heimat Sheikh Zayed nicht wohlhabend, Vater Wael konnte aufgrund
seiner Nierenkrankheit nicht arbeiten. Doch zum Leben reichte es. „Wenn ich
nun Wasser brauche“, sagt sein Sohn, „muss ich 15 Minuten laufen, um nur
fünf Liter zu bekommen.“
Weil al-Mawasi eigentlich wenig besiedelt sei, gebe es dort kaum
Infrastruktur, sagt er, auch keine Klinik. Nur vertriebene Menschen. „Es
wäre besser, wenn wir nach Deir el-Balah weiterziehen“, sagt er. Es seien
zu viele, die aus Ostrafah nach al-Mawasi kämen. Seine Hoffnungen setzt er
auf die Verhandlungen in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Dort liefern
sich die Hamas und Israel über ihre Vermittler USA, Katar und Ägypten seit
Wochen ein Gezerre um einen Geiseldeal. Israel soll die nach Gaza
entführten Geiseln zurückbekommen und dafür palästinensische Häftlinge
entlassen. Bisher scheiterte ein Deal aber vor allem an der Forderung der
Hamas nach einem dauerhaften Waffenstillstand. Israel will lediglich eine
Feuerpause akzeptieren.
Als die Hamas am vergangenen Wochenende vermeldete, man gehe auf einen der
vielen Vorschläge für den Deal ein, wurden die Hoffnungen vieler gleich
wieder enttäuscht. Nach israelischen Angaben handelte es sich dabei nämlich
nicht um den Vorschlag, den sie zuvor gesichtet hätten. Eine Einigung gab
es wieder nicht.
## Flucht Nummer sieben
Die Menschen in Gaza sind meist sehr vorsichtig, sich über die Hamas zu
äußern. Mahmoud al-Madhoun sagt: „Ich möchte ein Wort an die Delegationen
der Verhandelnden in Kairo richten. Um den Tod, dem wir hier ins Auge
blicken, noch aufzuhalten, sollten sie ihre Forderungen ein wenig
aufweichen.“ Zur Hamas sagt er: „Sie sind seit 17 Jahren für uns
verantwortlich. Sie müssen diesen Krieg beenden.“ Und er fügt hinzu: „Auch
die Regierung Israels bitte ich: Schützt uns. So schützt ihr auch eure
eigene Bevölkerung. Ich hoffe, dass dieser Krieg bald vorbei ist.“
Am Freitagmorgen schickt Familie al-Madhoun ein Bild. Es zeigt Sohn Mahmoud
auf einem kleinen Pick-up-Lastwagen. Er sitzt auf den verbliebenen
Besitztümern der Familie: Matratzen und Bettzeug, gestapelte Plastikstühle,
ein Kanister und ein Eimer. Die Familie ist nun auf dem Weg nach
Deir-el-Balah. Es ist Flucht Nummer sieben.
10 May 2024
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