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Berlin taz | Es riecht nach frischer Farbe, an einigen Stellen hängen Kabel
aus der Decke und die Zimmer sind auch nicht ganz eingerichtet. Nur im
Musikzimmer ist schon ein Schlagzeug aufgebaut und im Sportraum steht
bereits eine Tischtennisplatte. Noch sind zwei Wochen Zeit, bis die ersten
Kinder und Jugendlichen hier untergebracht werden können. Feierlich
eröffnet wurde die Elisabeth-Klinik für seelische Gesundheit junger
Menschen in Berlin-Zehlendorf an diesem Donnerstag trotzdem schon einmal.
Von einem „Meilenstein in der Versorgungsstruktur im Westen Berlins“
spricht die Bezirksstadträtin für Jugend und Gesundheit, Carolina Böhm.
„Die Situation für Kinder in Berlin ist prekär“, sagt die SPD-Politikerin,
die in ihrer Jugend selbst unter Magersucht litt, mit Blick auf die
steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen und die langen Wartezeiten.
Deshalb ist sie auch sichtlich stolz, dass hier in einer für Berlin
rekordverdächtigen Bauzeit von gut anderthalb Jahren eine Klinik für Kinder
und Jugendliche von 3 bis 18 Jahren mit 48 Behandlungsplätzen gebaut wurde.
Der Bedarf ist groß: Studien zufolge leidet ein Fünftel aller Kinder und
Jugendlichen unter psychischen Störungen. Seit Corona sind die Zahlen noch
einmal angestiegen. Zugleich ist das Hilfesystem überlastet und längst
nicht alle Betroffenen bekommen auch einen Therapieplatz.
Ottmar Hummel behandelt schon lange junge Menschen mit psychischen
Problemen. Der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der
DRK Kliniken Berlin Westend in Charlottenburg ist besorgt über den massiven
Anstieg von Hilfesuchenden. „Corona war eine Zäsur“, sagt er.
Hummel sitzt in seinem Büro, die Beine übereinandergeschlagen, sein
Gesichtsausdruck ist freundlich und neugierig zugleich. Hinter den Mauern
der Klinik ist der Straßenlärm der vielbefahrenen Hauptverkehrsstraße
Spandauer Damm nicht mehr zu hören. Die Vögel zwitschern und die saftig
grünen Wiesen zwischen den altehrwürdigen Backsteinbauten vermitteln einen
idyllischen Eindruck.
## Nach Corona kommt die Panik
„Am Anfang der Pandemie war hier nicht viel los. Erst als Corona fast schon
vorbei war, im Winter 22/23 ging es so richtig los“, erzählt Hummel.
Suizidgedanken, Depressionen, Angstzustände und Panikattacken bei jungen
Menschen häuften sich. „Es kamen viele abgehängte Schüler. In den Schulen
war wieder Normalität angesagt, das war für viele aber nicht zu leisten.“
Viele junge Menschen waren zu diesem Zeitpunkt bereits sozial isoliert. Da
in der Pandemie auch jenseits der Schule soziale Kontakte und
Freizeitveranstaltungen eingeschränkt waren, zogen sie sich zurück,
verließen ihr Zimmer zum Teil monatelang oder gar jahrelang nicht mehr. Da
wieder rauszukommen, ist für sie alleine nicht zu schaffen.
Für Hummel und sein Team kam das nicht überraschend, sie waren darauf
vorbereitet. Was sie kalt erwischte, war der Umstand, dass sich
mittlerweile auch die Helfer*innenlandschaft geändert hatte. „Die vor-
und nachstationäre Versorgung, Beratungsstellen, Psychotherapeuten, alles
wurde heruntergefahren“, sagt Hummel. Nicht, weil kein Geld da sei, es
fehlen schlicht die Leute. Ob in der Pflege, im Jugendamt oder in der Kita:
Überall herrscht Unterbesetzung. „Corona hat viel gemacht mit den Menschen,
sie stellen die Sinnfrage, brauchen mehr Zeit für sich“, glaubt Hummel. Die
Zeiten, in denen Menschen für die Sache ausbrennen, scheinen vorbei zu
sein.
## Zu wenig Platz in Kliniken
Das Problem: Je weniger im Vorfeld geholfen und abgefangen wird, desto mehr
landet in der Klinik. 76 Plätze gibt es in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie in Charlottenburg, davon 5 für die sogenannte
stationsäquivalente Behandlung, bei der Patient*innen zu Hause
behandelt werden. Die Wartezeit beträgt hier bis zu einem dreiviertel Jahr.
Akute Fälle werden aber natürlich nicht abgewiesen. „Also werden
Notsymptome genannt, damit ihnen schneller geholfen wird. [1][Das neue
Modewort ist Panikstörung]“, sagt Hummel schmunzelnd. Dabei hat er durchaus
Verständnis. „Die Eltern sind verzweifelt.“
Insgesamt gibt es in Berlin acht Kliniken für Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Dass das für eine Millionenmetropole wie Berlin nicht
ausreicht, weiß auch die Senatsgesundheitsverwaltung: Die konstatiert einen
„Mehrbedarf an psychiatrischen Kapazitäten im Fachbereich Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“, so ein Sprecher zur taz. Bis zum
Jahr 2025 sollen daher 134 zusätzliche Plätze entstehen und die Gesamtzahl
auf 601 erhöht werden.
Auch im Rest der Republik wurde das Angebot für Kinder und Jugendliche
ausgebaut: Wie das Bundesgesundheitsministerium auf taz-Anfrage mitteilt,
wurde das Versorgungsniveau seit 2022 um 10 Prozent angehoben, wodurch 60
neue Niederlassungsmöglichkeiten für Kinder- und
Jugendpsychiater*innen sowie -psychotherapeut*innen entstanden seien.
In Kürze soll zudem eine neue Richtlinie in Kraft treten, die die
Koordinierung zwischen den verschiedenen Hilfesystemen verbessern soll.
Ob das reicht, ist fraglich. Laut Bundespsychotherapeutenkammer liegt die
durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz bei fünf Monaten. „Es
ist schwierig, einen Hilfeplatz zu bekommen, insbesondere im
Jugendbereich“, sagt Torsten Hill. Hill betreut beim Berliner Landesverband
[2][„Angehörige psychisch erkrankter Menschen“] (APK) eine
Selbsthilfegruppe und ist selbst Vater einer Tochter mit psychischen
Problemen.
„Dass Kinder ernsthafte Probleme haben, kriegt man erst recht spät mit“,
sagt er. Viele Eltern würden die Anzeichen nicht sehen, Schulen seien
überlastet und häufig würden die Kinder mit Medikamenten ruhig gestellt,
statt ihnen zu helfen. „Man bekommt leichter Medikamente als eine ärztliche
Begutachtung.“
## Eltern am Limit
Hill kritisiert, dass es keine zentrale Anlaufstelle gibt, um Angehörigen
von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen zu helfen. „Eltern
versuchen, ihre Kinder zu retten und rennen sich die Füße wund.“
Selbsthilfegruppen seien da eine große Hilfe, um sich auszutauschen und zu
merken, dass man mit seinen Ängsten und Sorgen nicht allein ist.
Dass psychische Probleme bei Kindern seit der Pandemie zugenommen haben,
zeigt sich auch darin, dass sich die Zahl der Selbsthilfegruppen beim APK
laut Hill fast verdoppelt haben. „Die Schulen waren schon vorher am Limit,
jetzt sind auch die Eltern am Limit.“ Und die Kinder sowieso. Auf den
gestiegenen Druck und die damit verbundenen Ängste würden viele junge
Menschen entweder mit Rückzug reagieren oder zu Drogen greifen, um
durchzuhalten.
Das erlebt auch der Kinder- und Jugendpsychiater Ottmar Hummel. Jenseits
dessen seien es aber vor allem hyperaktive, aggressive Jungs im
Grundschulalter, die in die Klinik kommen. In der Pubertät ändere sich das
und es seien vor allem Mädchen, die mit Essstörungen und Depressionen zu
kämpfen haben. Die soziale Ungleichheit zeigt sich dabei auch in der
Klinik: Arme und migrantische Menschen leiden mehr als doppelt so häufig an
psychischen Erkrankungen als der Rest der Bevölkerung. „Je bildungsferner
desto schwieriger“, sagt Hummel.
Studien zeigen zudem, dass das Risiko für psychische Erkrankungen in
Städten höher ist als in ländlichen Gebieten. In einer Großstadt wie Berlin
kommt dazu noch die Drogenproblematik. Bei den im Abwasser analysierten
Kokain- und MDMA-Rückständen ist Berlin die Nummer eins der untersuchten
deutschen Städte. Die Jugendlichen in der Hauptstadt konsumieren nicht nur
immer mehr Drogen, sondern fangen auch immer früher damit an. „Ab der 7.
Klasse geht es richtig los“, sagt Hummel.
Mischkonsum sei dabei keine Seltenheit: „Zum Aufstehen Speed, zum
Einschlafen Gras und dazwischen alles mögliche.“ Seit der Teillegalisierung
von Cannabis sei allerdings kein Anstieg festzustellen, betont er. Dafür
habe etwas anderes zugenommen: verschreibungspflichtige Medikamente wie
Benzos und Opiate. Ein Problem, das in Deutschland unterschiedlich stark
ausgeprägt ist. „Das ist eine Stadt-Land-Geschichte, aber auch zwischen Ost
und West gibt es große Unterschiede.“ Heißt: Auf dem Land wird eher mehr
Alkohol getrunken, in Städten werden mehr Drogen konsumiert.
## Aggressive Kleinkinder
Und noch etwas hat sich verändert: Kamen im vergangenen Jahr noch
überwiegend Teenager, sind es mittlerweile die Kleinsten, die in der Klinik
landen: „Es kommen Eltern mit Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr“,
berichtet Hummel. Wie kann das sein? Weil auch die Kita immer häufiger
ausfalle, seien viele Kleinkinder nicht mehr gruppenfähig, randalierten und
seien aggressiv, so der Chefarzt. Im Zusammenhang mit dem Personalmangel in
der Kita wird das zunehmend zum Problem. Doch auch Hilfestrukturen wie
sozialpädiatrische Zentren können dies aufgrund des Personalmangels nicht
mehr auffangen. „Es sind mittlerweile so viele Fälle, dass sie das System
sprengen“, sagt Hummel.
Im Westend ist man auf derart junge Patient*innen nicht eingestellt.
Noch nicht. „Die Zukunft wird die Eltern-Kind-Behandlung sein“, sagt
Hummel. Dafür wollen sie eine neue Abteilung schaffen. Denn um den Kindern
zu helfen, müssten sich die Eltern verändern.
Doch was muss sich ändern, damit die Jüngsten in der Gesellschaft nicht an
ihr zugrunde gehen? „Die Schule ist kein guter Ort, sondern ein Ort des
Misserfolgs“, sagt Ottmar Hummel. „Wenn die Schule ein Ort wäre, wo Kinder
gerne hin gehen, wäre vieles besser.“ Sein Kollege in der neuen
Elisabeth-Klinik, Chefarzt Jakob Florack, sieht das genauso: „Wenn es in
der Bildung weniger Probleme gäbe, gäbe es auch weniger psychische
Erkrankungen.“ Torsten Hill von der Angehörigen Selbsthilfegruppe, dessen
Tochter wegen Mobbing in Behandlung war, hat einen weiteren Vorschlag:
soziale Kompetenz als Pflichtfach.
24 Jun 2024
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