# taz.de -- Social Media gegen rechts: Der Kampf um PoliTiktok

> Auf Tiktok dominiert die AfD und stellt Demokrat*innen vor ein
> Dilemma. Sollen sie ihnen entgegentreten oder sich vom Problem-Netzwerk
> fernhalten?
Berlin taz | Die Finger wischen von Kurzvideo zu Kurzvideo, als würde man
sich von Sender zu Sender durchs TV-Programm zappen. Anders als im
Fernsehen scheint die Auswahl auf Tiktok allerdings unendlich. Die
Socia-Media-Plattform ist schnell, schrill und laut im Kampf um
Aufmerksamkeit. Aber schnell kann Heidi Reichinnek, die Vorsitzende der
Linken im Bundestag. Wenn sie spricht, klingt es, als hätte jemand den
Wiedergaberegler auf doppelte Geschwindigkeit gestellt.

„Nach der NFT-Briefmarke und dem Bitcoin-Hype kommt jetzt die nächste Idee
von Finance-Bro Lindner: die Aktienrente“, sagt die Politikerin energisch,
der Blick direkt in die Kamera, ihr Gesicht in Großaufnahme. „Und die ist
typisch FDP – Für den Papierkorb.“ Sie zerknüllt ein Blatt mit dem Logo der
Freidemokraten, zieht eine leichte Schnute. Mit etwas Show, kurzen Memes
und knackigem Einstiegssatz versucht die Abgeordnete, Nutzer*innen auf
Tiktok für ihre linke Politik zu begeistern. Und es gelingt.

Reichinnek gehört – neben Politiker*innen der AfD und Sahra
Wagenknecht – zu den erfolgreichsten deutschen Politiker*innen auf
Tiktok. Eines ihrer meistgeklickten Videos ist eine Plenarrede, in der sie
sich über AfD-Anträge zum Thema Gendern lustig macht. Es wurde
millionenfach abgespielt. Lange war sie eine von wenigen, die den Rechten
auf der Plattform Paroli geboten hat.

Auf Tiktok kann man sich der AfD kaum entziehen, auch wenn man sonst wenig
Berührungspunkte hat. Outfitcheck – Influencerin zeigt [1][traditionelle
Geschlechterrollen beim Brotbacken] – Alice Weidel tanzt im Auto – Tipps
aus dem Gym. Solche Inhalte könnten auf der Startseite der App, der „For
You Page“, aufeinander folgen, vom Algorithmus ausgewählt.

## Das digitale Spiel um Aufmerksamkeit

Die [2][AfD hat als politischer Akteur längst die Plattform vereinnahmt]
und ein radikales Netz gesponnen, unterstützt von rechten
Influencer*innen und Anhängern, die auf Inhalte der Partei reagieren
und sie erneut ausspielen. Politik verknüpft mit Popkultur, immer die
Emotionen anregend. Damit sprechen die Rechten insbesondere eine jüngere
Generation an.

Die demokratischen Parteien stellt das vor ein Dilemma, das sie in den
vergangenen Monaten versucht haben, aufzulösen: Halten sie an der
berechtigten Kritik an Tiktok – die App wird von dem chinesisch
kontrollierten Anbieter Bytedance betrieben – fest, und riskieren damit,
den Rechten dort das Spielfeld zu überlassen? Oder lassen sie sich auf das
digitale Spiel um Aufmerksamkeit ein?

Heidi Reichinnek hat sich entschieden, als sie 2021 Mitglied des Bundestags
wurde.

Ende Februar sitzt Reichinnek an einem runden Tisch in ihrem Büro. Sie
trägt ein schwarzes Langarm-Shirt, auf dem linken Unterarm und am
Ausschnitt spitzen ihre Tattoos hervor. Auch die waren schon Thema in ihren
Videos. Den Rechten müsse man etwas entgegenhalten, „sonst stehen ihre
Lügen unwidersprochen im Raum“, sagt Reichinnek.

Daher müssten alle was machen und dürften der AfD nicht das Feld
überlassen. „Ich weiß, dass Menschen durchaus in der Lage sind, kritisch zu
denken und sich zu informieren. Aber wenn du von allen Seiten mit dem
AfD-Schund überschwemmt wirst, hinterfragst womöglich nicht genug“, sagt
sie.

## Der AfD-Erfolg liegt auch an der Plattform

Dass gerade die AfD auf Tiktok dermaßen erfolgreich ist, liegt auch an der
Funktionsweise der Plattform. Anders als bei Facebook oder Instagram ist
die Zahl der Follower*innen nicht die wichtigste Währung. Der
undurchsichtige Tiktok-Algorithmus spült Videos, die er für gut befindet,
in verschiedenste Feeds, sodass sie sich auch außerhalb der eigenen Blase
schnell verbreiten.

„Auf Tiktok können Inhalte, die den Algorithmus triggern, extrem schnell
große Reichweiten und Sichtbarkeit erreichen und damit – genau das macht
die AfD – den Diskurs verschieben“, erklärt Martin Fuchs, Politikberater
für digitale Kommunikation.

Über 20 Millionen Nutzer*innen im Monat soll Tiktok nach eigenen Angaben
in Deutschland haben. Zwei Drittel der 12- bis 19-Jährigen geben an,
[3][regelmäßig die App zu nutzen]. Zunehmend suchen sich jüngere Menschen
dort auch ihre Informationen.

Das könnte zum Problem werden. Im Juni darf bei der Europawahl in
Deutschland erstmals schon ab 16 gewählt werden. Mit fast fünf Millionen
jungen Menschen könnte die Gruppe der Erstwähler*innen diesmal
besonders wichtig werden. Dass gerade die AfD diese Altersgruppe mit ihren
Inhalten erreicht, hat sich bereits bei [4][vergangenen Landtagswahlen
gezeigt].

In Brandenburg darf das Landesparlament schon länger ab 16 gewählt werden.
Hier, wie auch in Sachsen und Thüringen, finden im Herbst Wahlen statt. In
allen drei Bundesländern ist die AfD nach aktuellen Umfragen stärkste
Kraft. Die Absenkung des Wahlalters droht den Förderern der Neuregelung,
SPD und Grünen, auf die Füße zu fallen. Die etablierten Parteien müssen
nachlegen, wenn sie um die jungen Stimmen buhlen wollen. Das haben sie
verstanden und suchen neue Kommunikationswege, etwa über Tiktok.

## Plattform bekommt Zuwachs von Links

Seit Jahresbeginn ist besonders die Anzahl der Accounts von Linken, SPD und
Grünen gewachsen, beobachtet Politikberater Martin Fuchs. Erst kamen Konten
der Bundestagsfraktionen, dann der Bundesparteien und schließlich auch
prominenter Politiker*innen dazu. Pünktlich zur Cannabis-Legalisierung
eröffnete Gesundheitsminister Karl Lauterbach sein Tiktok-Konto.

Auch Kanzler Olaf Scholz kann man seit dem 8. April unter
[5][@teambundeskanzler] in seinem politischen Alltag begleiten, inklusive
seiner Aktentasche, die er seit Jahren mit sich trägt. Andere, wie Kevin
Kühnert (SPD), reaktivierten kürzlich ihr bestehendes Konto. Im [6][Zuge
der Kampagne #ReclaimTikTok] kamen nach langem Zögern die Grünen hinzu, die
bisher vor allem auf Instagram setzten. Und während die CSU als eine der
ersten demokratischen Parteien längst auf Tiktok mitmischt, zog die CDU
erst jetzt nach.

Ferda Atamann, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, bewertet die
neue [7][Tiktok-Intitiative der Parteien, insbesondere die des Kanzlers],
kritisch. Solange Tiktok sich nicht an die Regeln halte, junge Menschen
nicht vor Diskriminierung schütze und Desinformation nicht bekämpfe, „ist
das keine Plattform für den Staat“, sagte Ataman in einem Interview. Und
auch die FDP zeigt sich bisher zurückhaltend.

## Jungen Liberalen bleiben Tiktok fern

Gerade der Nachwuchs der „Digital First, Bedenken Second“-Partei halten an
ihrer Tiktok-Kritik fest. Trotzdem hat Phil Hackemann ein Konto auf der
Plattform. Der Bayer ist Spitzenkandidat der Jungen Liberalen (JuLis) für
die Europawahlen, er steht auf Listenplatz 7 der FDP. Zu viel Bedeutung
will der 29-Jährige seinem Account aber nicht beimessen.

Anders als die JuLis in Bayern hat sich 2021 der Jugendverband auf
Bundesebene [8][gegen die Nutzung von Tiktok entschieden]. Daher tritt
Hackemann auf Tiktok auch nicht als Spitzenkandidat der Jugendorganisation
auf. „Wenn die Bundes-Julis diese Haltung vertreten, dann habe ich mich
letztlich daran zu halten und akzeptiere das auch“, sagt Hackemann der taz.

Tiktok zu nutzen, um Reichweite zu generieren, sei „nicht nur eine
pragmatische, sondern vor allem eine politische Entscheidung“, heißt es im
JuLi-Beschluss. Die App würde bestimmte Inhalte zensieren, etwa
LGBTQ-Hashtags. Hinzu kämen sicherheitspolitische Bedenken. Es sei davon
auszugehen, dass der chinesische Staatsapparat wenigstens potenziell über
einen Zugang zu den Nutzdaten von ByteDance verfüge.

Zu ihrem Wahlkampfauftakt trat zwar auch EU-Spitzenkandidatin Marie-Agnes
Strack-Zimmermann Tiktok bei, und auch die Bundestagsfraktion der
Freidemokraten führt dort ein Konto – doch als Gesamtpartei behandelt sie
die Plattform nachlässig. Inwieweit die Bundes-FDP ein eigenes Konto
eröffnen möchte oder wie sie zum Beschluss der JuLis steht, lässt sie auf
Anfrage unbeantwortet. Stattdessen betonten sie, im digitalen Raum andere
Plattformen zu nutzen, und erklären, sie würden „die Entwicklungen und
Rahmenbedingungen bei Tiktok zudem fortlaufend beobachten“.

Ganz kampflos will Hackemann das Feld dennoch nicht den Populisten
überlassen. „Es ist wichtig, junge Menschen dort zu erreichen, wo sie
sind“, sagt er. Seine Aufgabe sieht er darin, nicht nur klassischen
Politikcontent zu teilen, sondern zu versuchen, in bisher unpolitische
Blasen vorzustoßen. Er denkt dabei auch an die Streamingplattform Twitch.
Auf dem nächsten JuLi-Kongress im Mai könnte der [9][Tiktok-Beschluss
wanken].

## Demokraten haben es schwerer aufzuholen

Doch wie können Jugendliche vor rechtsextremen Inhalten und
Falschinformationen geschützt werden? Ein Ansatzpunkt liegt in der EU.
Genauer im [10][Digital Service Act], der etwa zu ausreichender Moderation
der Inhalte verpflichtet. Ein weiterer Vorschlag lautet, große Konten
einzuschränken oder sogar zu löschen. 2021 hat Tiktok etwa den
Bundesaccount der AfD gelöscht. Viel gebracht hat das allerdings nicht –
das Netzwerk ist zu groß, die Accounts sind zu zahlreich. Es braucht also
ein Gegengewicht. Nur bleibt unklar, ob die Parteien den Vorsprung der AfD
überhaupt noch einholen können.

Für die AfD sei es sehr einfach, im Dualismus von Gut und Böse zu
kommunizieren – die Grünen oder der Staat seien scheiße, die AfD sei
dagegen, sagt Politikberater Fuchs. Vor allem für die Regierungsparteien
und andere, die komplexe Zusammenhänge erklären wollen, sei das
schwieriger. Sie dürfen sich nicht zum Hampelmann machen, sondern sollen
für souveräne Politik stehen. „Ich erwarte von den klassischen Parteien,
dass sie positive Emotionen verwenden, um ihre Inhalte zu verbreiten“, sagt
Fuchs.

Heidi Reichinnek gilt dafür als Positivbeispiel. Sie wird von anderen in
ihrer Partei gebeten, ihr Erfolgsrezept zu teilen. Später an dem Nachmittag
Ende Februar hat Heidi Reichinnek noch einen Termin im Kalender stehen:
„Kiffen mit Ates“. Gemeint ist Ates Gürpinar, der drogenpolitische Sprecher
der Linken. Zusammen drehen sie ein Video zum Cannabis-Gesetz. 143.000
Views bekommt es – allein hätte er das wohl nicht geschafft.

20 Apr 2024

## LINKS
[1] /Antifeminismus-auf-Tiktok/!5995016
[2] /AfD-auf-TikTok/!5979204
[3] https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2023_web_final.pdf
[4] /AfD-Waehler-in-Bayern-und-Hessen/!5965710
[5] https://www.tiktok.com/@teambundeskanzler?lang=de-DE
[6] /TikTok-Debatte-in-Deutschland/!5996585
[7] /Kanzleramt-startet-Account/!6002894
[8] https://julis.de/beschlusssammlung/haltungen-ueber-reichweite-keine-nutzung-von-tiktok-bei-den-jungen-liberalen/
[9] https://home.julis.de/wp-content/uploads/2024/04/Antragsbuch-fuer-den-68.-BuKo-OS.pdf
[10] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/QANDA_20_2348
## AUTOREN
Adefunmi Olanigan
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