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In den letzten Wochen spielte sich im Berliner Kulturbetrieb ein
denkwürdiges Schauspiel ab. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU)
hatte [1][eine Antidiskriminierungsklausel eingeführt], wenn man sich als
Kulturmachender für Fördergelder des Berliner Senats bewerben möchte. Die
Klausel umfasst auch ein Bekenntnis zur IHRA-Definition von Antisemitismus,
die sich gegen israelbezogenen Antisemitismus richtet.
Als einen Grund, warum man von nun an ein Bekenntnis zur IHRA-Definition
fordere, nannte die Pressestelle der Kultursenatsverwaltung gegenüber der
taz die Folgen der Boykottaufrufe gegen Israel. Spätestens seit der
Documenta 2022 seien die Auswirkungen des BDS-Kulturboykotts im deutschen
Kulturbetrieb deutlich geworden, so die Aussage. Auf der Documenta kam es
zu offen zur Schau gestellten Antisemitismus.
Es dauerte keine zwei Tage, bis ein offener Brief von Kulturmachenden
[2][gegen die Klausel protestierte]. Eine Koalition der Freien Szene
Berlins zog mit einem Appell nach. Die Sektion Bildende Kunst der Akademie
der Künste bestätigte in einem eigenen Statement nochmals den Appell. Eine
Kampagne namens „Strike Germany“ rief gar weltweit Kulturmachende dazu auf,
deutsche Kulturinstitutionen zu bestreiken. Zwei Acts sagten daraufhin
ihren Auftritt beim Berliner Musikfestival CTM ab.
Schon im Dezember hatten Juristen in einer Stellungnahme vor einer sich
anbahnenden [3][Institutionalisierung der IHRA] gewarnt. Alle
Stellungnahmen nannten – wenig verblüffend – die „Jerusalem Declaration on
Antisemitism“ als alternative bis präferierte Definition von
Antisemitismus. Nach dieser sind Boykottbewegungen wie BDS „im Falle
Israels“ „nicht per se antisemitisch“.
BDS war kein Thema
Im Grunde war der Fall klar, nur schien das weder in den Medien noch unter
den Verfassern und Unterzeichnern irgendwen zu interessieren. Es war fast,
als hätte man kollektiv vergessen, um was es eigentlich gehen würde. In
keinem der Aufrufe und Stellungnahmen war der BDS oder seine Ideologie ein
Thema. Und auch nicht in den Zeitungsartikeln über die Klausel und den
Protest.
Stattdessen hatten die IHRA-Kritiker Angst vor Dingen wie
„Gesinnungsprüfung“, fürchteten sich vor „Rechtsunsicherheit“ und der
„Einschränkung von Kunst- und Meinungsfreiheit“. Sie bemängelten, dass die
IHRA-Definition nie dazu gedacht gewesen war, rechtsverbindlich zu werden,
und warnten vor „missbräuchlichen Antisemitismusvorwürfen“. Die Argumente
in den Stellungnahmen ähnelten sich.
Lediglich der Streikaufruf fiel ein wenig aus der Reihe, der besonders
aufdringlich, aber auch besonders absurd war. In teilweise großen roten,
grünen und weißen Buchstaben ist dieser auf der Website der Kampagne vor
schwarzem Hintergrund abgebildet, in den Farben Palästinas. Wegen ihrer
„McCarthy-Politik“ solle man deutsche Kulturinstitutionen boykottieren,
heißt es dort. Lieber gar nicht als mit Bekenntnis gegen israelbezogenen
Antisemitismus.
Auf Nachfrage der taz, dass es bei der Berliner Antisemitismusklausel um
BDS gehen würde, antworteten dann immerhin ein paar Unterzeichner des gegen
die Klausel gerichteten offenen Briefs. Den BDS erwähnten sie trotzdem
nicht.
Lediglich der Rechtsanwalt Jerzy Montag, der ein Statement von Juristen auf
Verfassungsblog mitverfasst hatte, meinte, dass ein Bekenntnis zur
Verhinderung von Boykotten israelischer Künstlerinnen und Künstler
„ungeeignet“ sei. Wie man israelbezogenen Antisemitismus dann bekämpfen
solle, wollte auf Nachfrage der taz niemand sagen.
Politischer Akt der „Freimütigkeit“
Die Debatte streift – abgesehen von dem eher wahnsinnigen Streikaufruf –
ein Grundproblem der jüngst inflationär verfassten offenen Briefe und
Stellungnahmen. Am Donnerstag im Literaturhaus Berlin erklärte eine
Wissenschaftlerin auf einer Veranstaltung zum Thema offener Brief, dass
dieser nicht für einen Dialog auf Augenhöhe gedacht sei.
Eine solche öffentliche Äußerung erwarte keine Antwort. Es ginge vielmehr
um den politischen Akt der „Freimütigkeit“, wie sie erklärte. Der späte
Michel Foucault feierte das als „Parrhesia“, was so viel wie „offene Rede“
bedeutet.
In der Antike, aus [4][deren Philosophie Foucault] den Begriff nahm, hatte
die Parrhesia klare Grenzen. Sie konnte nur im attischen Demokratiezirkus
oder im Theater angewandt werden. Zudem war sie Teil der griechischen
Schüler-Lehrer-Beziehung. Um sich weiterzuentwickeln, war es für den
Schüler unbedingt notwendig, sich freimütig zu äußeren. Nur so konnte ihn
der Lehrer zurechtweisen und kritisieren.
Selbstvergewisserung des Redners
Das Konzept der Freimütigkeit ist also Teil eines dramatischen Spieles.
Hierbei geht es vielmehr um die Selbstvergewisserung und Bestätigung des
Redners als um das, was er genau sagt.
Als solches Spiel versteht man die jüngsten Statements und Briefe schon
eher. Denn keiner der Texte kann präzise benennen, was die schrecklichen
Verwerfungen sein sollen, die ein Bekenntnis gegen israelbezogenen
Antisemitismus mit sich bringen soll. Warum es überhaupt ein Problem ist,
dass der deutsche Staat keine Personen fördern möchte, die einen
demokratischen Staat wie Israel delegitimieren wollen, blieb sogar auf
Nachfrage unbeantwortet.
Die antisemitische Ideologie, die Gruppen wie BDS verbreiten, und deren
Forderung nach der Abschaffung Israels finden bei den Kritikern der
IHRA-Definition keine Beachtung. Auch dass es so etwas wie eine
IHRA-Klausel überhaupt nicht bräuchte, wenn es nicht eine Form der
Israelkritik gäbe, die den demokratischen Rahmen verlässt, blieb unerwähnt.
Besonders grotesk ist aber dies: Die Klausel soll anscheinend überhaupt
keine Konsequenzen haben. Das war das, was man sich als deren Befürworter
mindestens erhofft hatte. Dass sie verhindern könne, Künstler, die
antisemitische Kunstwerke zu verantworten hatten, erhielten [5][hiernach
nicht auch noch Gastprofessuren.] Genau das aber war nach der Documenta
geschehen.
Bewirken kann das die Klausel anscheinend nicht. Sie soll lediglich
„sensibilisieren“, so die Kultursenatsverwaltung. Das führte das Schauspiel
um ihre Einführung vollends ad absurdum.
16 Jan 2024
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