|
Ace ist im Dienst. Aufmerksam beobachtet der Australien-Shepard-Rüde mit
den zweifarbigen Augen jede Bewegung seiner Herrin Carina Graf (Name
geändert). Die Warnweste, die er trägt, weist ihn als Assistenzhund aus.
Für seine Besitzerin, die eine psychische Behinderung hat, ist er
unverzichtbar. Doch im Sommer erkrankte der Hund schwer – die Kosten für
die Behandlung belaufen sich auf mehrere Tausend Euro.
Graf, die aufgrund ihrer Behinderung in Rente ist, sieht den Kreis
Nordfriesland in der Pflicht zu zahlen, schließlich ist Ace ein Mittel für
ihre Teilhabe an der Gesellschaft, ähnlich wie ein Rollstuhl für Menschen
mit Gehbehinderung. Doch die Behörde weigert sich. Nun liegt der Fall vor
Gericht. Graf hofft auf ein Urteil, das nicht nur ihr, sondern auch anderen
helfen könnte.
In einem Tagestreff für Menschen mit psychischen Krankheiten in [1][der
nordfriesischen Kleinstadt Bredstedt] legt Carina Graf einen Stapel
Unterlagen auf den Tisch, während Ace es sich zu ihren Füßen bequem macht.
Der Aktenstapel ist dick, seit Jahren befindet sich Graf mit der
Eingliederungsstelle des Kreises im Rechtsstreit. Aktuell aber muss sie
sich täglich mit dem Thema befassen. Durch Ace’ Krankheit drücken sie hohe
Schulden, auch ein Spendenaufruf, den Freund*innen gestartet haben, deckt
die Kosten nicht. Die Lage sei extrem belastend, berichtet sie. Dennoch
überwiegt die Freude, dass Ace am Leben ist. Als er im Sommer an Krebs
erkrankte, „hatte ich die allerschlimmste Angst meines Lebens“, sagt sie
und kämpft mit den Tränen. „Er ist meine Familie.“
Früher hatte die heute 36-Jährige einen Partner, leitete ein kleines
Unternehmen. Bis im Jahr 2015 Erinnerungen aufbrachen, die sie verdrängt
hatte. Von einem Tag zum anderen verwandelte sich die Geschäftsfrau in eine
Schwerstkranke, geplagt von Angststörungen und so schweren sozialen
Phobien, dass sie sich buchstäblich in einem Schrank verkroch.
## Selbstbestimmte Teilhabe
Ihre Beziehung zerbrach, Graf verbrachte „mehr Zeit in Kliniken als zu
Hause“. Dass ihr der Umgang mit einem Tier guttun würde, wusste sie: Sie
hatte früher schon Hunde gehalten. 2017 kam Ace als Welpe zu ihr. 2019
beschloss sie, ihn zum Assistenzhund auszubilden.
Ein [2][Assistenzhund] ist im Behindertengleichstellungsgesetz
definiert als „speziell ausgebildeter Hund, der dazu bestimmt ist, einem
Menschen die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu
ermöglichen oder behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen“. Die Tiere
durchlaufen dazu eine auf eine einzelne Person ausgerichtete Ausbildung,
dafür gibt es Vereine und Einzeltrainer*innen. Bei Migräne, Diabetes,
Epilepsie, Narkolepsie oder Asthma kann ein ausgebildeter Hund einen
drohenden Anfall erkennen. Assistenzhunde begleiten Menschen mit Demenz,
Autismus oder anderen psychischen Krankheiten. Genau wie Blindenhunde
dürfen sie öffentliche Gebäude, aber auch Läden oder Arztpraxen betreten.
Carina Graf sagt, dass sie ohne Ace nicht in der Lage wäre, das Haus zu
verlassen. Einkaufen, andere Menschen treffen, Behördengänge erledigen –
nur dank des Hundes schaffe sie das. „Ich weiß, dass ich nach außen
kompetent und selbstbewusst wirke“, sagt sie. „Aber ich zahle einen Preis
dafür, ich bin nach jedem Termin komplett erschöpft.“ Manchmal hat sie
Anfälle, bei denen sie bewusstlos wird. Ace warne sie, sodass sie ein
Medikament nehmen könne, berichtet sie.
Als sie im Sommer einen Knubbel unter Ace’ Fell spürte, der sich als Tumor
herausstellte, brach für sie die Welt zusammen. Sie machte sich auf die
Suche nach einer Hilfe und fand eine Klinik in Süddeutschland, die das Tier
behandelte. Komplikationen erschwerten die Therapie, die Kosten stiegen,
die die Tierkrankenkasse nur zum Teil übernimmt.
Graf wandte sich an den Kreis Nordfriesland. Der setzt bei der Teilhabe
behinderter Menschen auf das sogenannte [3][Sozialraumkonzept], das die
Stärken der Betroffenen und ihres Umfelds ins Zentrum stellt – eigentlich
ein innovatives und oft auch erfolgreiches Modell.
Doch in Grafs Fall lehnte die Eingliederungsbehörde es bereits ab, sich an
den Ausbildungskosten zu beteiligen: Es bestehe „lediglich für den
Einsatz von Blindenführhunden ein gesetzlicher Anspruch“, heißt es in einem
Schreiben.
Das sei falsch, sagt [4][Dirk Mitzloff, stellvertretender
Landesbehindertenbeauftragter in Schleswig-Holstein]. Er verweist
auf die „Assistenzhundeverordnung“, die das Bundessozialministerium im
Dezember 2022 erlassen hat. Dort sind mehrere der Funktionen aufgeführt,
die Ace für Carina Graf erfüllt. Wenn eine Diagnose vorliege, das Tier
ärztlich verordnet sei und die Anforderungen erfülle, sollte der Antrag
bewilligt werden, sagt Mitzloff. Doch stattdessen passiere es häufig, dass
Krankenkassen und Eingliederungsbehörde versuchen, sich gegenseitig die
Kosten zuzuschieben.
Auch Carina Graf hatte sich zunächst an ihre Krankenkasse gewandt. Die
verwies sie an den Kreis. Der muss nach bestimmten Kriterien entscheiden,
ob er Anträge bewilligt. Schließlich geht es um Geld, um Steuermittel: Die
Kosten für Sozialleistungen steigen von Jahr zu Jahr, daher liegt es im
Interesse der Behörde, nicht jeden Antrag zu bewilligen.
Aber wenn ein Mensch nun einmal Hilfe braucht? Und wenn Alternativen noch
teurer wären? Hätte Carina Graf ihre vierbeinige Stütze nicht, bräuchte sie
vermutlich menschliche Hilfskräfte, die nicht mit Hundefutter und
Streicheleinheiten bezahlt werden könnten. „Im Idealfall sollten sich die
Kostenträger untereinander einigen und den Menschen mit Behinderung nicht
belasten“, sagt Mitzloff. Doch das klappe selten. Auch in Carina Grafs Fall
nicht: Der Kreis verwies sie zurück an die Krankenkasse und bezweifelte
obendrein, ob sie überhaupt einen Assistenzhund brauche.
## Freunde sollen helfen
Zwar ist Selbsthilfe – die Graf ergriff, als sie mit Ace die Ausbildung
durchlief – ein Kernelement des Sozialraumgedankens. Doch nach Vorstellung
des Kreises sei es doch auch möglich zu schauen, ob „jemand aus dem Umfeld
kostenlos oder für wenig Geld einen geeigneten Hund zur Verfügung stellen
kann“, erklärt die Pressestelle des Kreises auf taz-Anfrage. Vielleicht
ließen sich auch „soziale Kontakte im Lebensumfeld intensivieren oder eine
Unterstützung durch Freunde und Nachbarn erfragen“. Und schließlich gebe es
auch „öffentliche Begegnungsstätten, die Kontakte ermöglichen“.
Diese Tipps passen nicht zu Grafs Krankheit – ihr Arzt bescheinigt ihr
Traumafolgestörungen mit „schweren, komplexen, einander bedingenden“
Symptomen. Sie kann allein eben nicht das Haus verlassen, in der
Nachbarschaft an Türen klingeln oder in eine Begegnungsstätte gehen. So
steht es auch in einem fachärztlichen Attest, das der taz vorliegt. Den
Kreis überzeugt das nicht: „Die Antragstellerin hat nicht glaubwürdig
gemacht, wie stark ihre Einschränkungen sind.“ Es bestünden „Diskrepanzen
zum Vortrag der Antragstellerin“.
„Wir wären gern bereit, alle Fragen im Gespräch zu klären“, sagt Tatjana
Schul, die Graf als Betreuerin zur Seite steht. Doch zurzeit fände die
Kommunikation nur schriftlich statt. Inzwischen bezweifelt der Kreis alles:
Dass Graf einen Hund braucht, dass es dieser sein müsse, ob die Behandlung
notwendig gewesen sei: Hätte es nicht eine Amputation anstelle der OP
getan? „In allen Schreiben schwingt die Unterstellung mit, Frau Graf wolle
etwas abzocken“, sagt Schul. „Einen solchen Umgang mit Behinderten kann ich
als Betreuerin, Juristin und Mensch nicht begreifen.“
Gemeinsam mit dem Sozialverband Deutschland klagte Graf, um Geld für Ace’
Ausbildung zu erhalten. Nun klagt sie zusätzlich um die Kosten der
Krebsbehandlung.
## Zu wenig Gerichtsurteile
Solche Verfahren können Jahre dauern, aber sie seien wichtig, sagt Dirk
Mitzloff. Denn das neue Bundesteilhabegesetz räumt Menschen mit Behinderung
zwar mehr Rechte ein, aber weil es zu wenige Gerichtsurteile gibt, können
sich Behörden immer noch auf „kenne ich nicht, genehmige ich nicht“
zurückziehen. Bei vielen Verfahren werde den Klagenden irgendwann ein
Vergleich angeboten. „Das ist für die Betroffenen gut, weil es das Problem
löst, aber so kriegen wir keine Urteile.“
Carina Graf will sich auf keinen Vergleich einlassen. Doch selbst wenn am
Ende ein Urteil zu ihren Gunsten fällt, bleibt sie bis dahin auf den Kosten
im fünfstelligen Bereich sitzen. Die Eingliederungsbehörde verweist auf die
laufende Spendenkampagne. Auf die Frage, ob der Kreis Nordfriesland
generell behinderten Menschen dazu rät, im Internet um Spenden zu werben,
antwortet der Sprecher leicht beleidigt: „Niemand, der einen berechtigten
Anspruch hat, wird auf das Spendensammeln verwiesen.“ Es schwingt mit, dass
Graf eben keinen Anspruch hat.
Graf sammelt ihre Unterlagen ein, sie ist müde – es strengt sie an, über
ihren Fall zu sprechen. Ace springt auf, als seine Herrin aufsteht: Er ist
im Dienst, egal was die Behörde dazu sagt.
23 Dec 2023
## LINKS
|