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Seit den Herbstferien kann Warja zur Schule gehen. Ganz normal, bis halb
vier am Nachmittag, so wie alle anderen Kinder in ihrer Klasse an einer
Oberschule im Bremer Süden.
Für Natascha Zaminski, die Mutter der Zwölfjährigen, ist das wie für viele
[1][Eltern behinderter Kinder] keine Selbstverständlichkeit mehr.
Bundesweit fehlen Menschen, die Kinder wie Warja in die Schule begleiten,
ihnen helfen den Schulalltag zu bewältigen, so dass sie und ihre
Mitschüler:innen gut lernen können. Das ist seit Jahren ein Problem,
aber die Situation hat sich zugespitzt. Es geht jetzt nicht mehr darum,
dass Kinder mal zu Hause bleiben müssen, weil ihre Schulbegleiterin krank
ist oder kurzfristig gekündigt hat. Sondern darum, dass sie gar nicht mehr
in die Schule gehen können. Ohne Perspektive.
Erst hieß es nur, Warja müsse um 14 Uhr nach Hause gebracht werden,
erinnert sich Natascha Zaminski, eine berufstätige, alleinerziehende Mutter
von drei Mädchen. Das war im März. Eine Mitarbeiterin der Schule deutete da
bereits an, dass es noch schlimmer kommen könnte. Und so kam es. Zwei Tage
vor Ende der Sommerferien teilte die Schule Natascha Zaminski mit, der
Schulbesuch Warjas sei „bis auf Weiteres“ nicht möglich. Der Martinsclub,
ein freier Träger der Wohlfahrtspflege, der Schulassistent:innen
anstellt und vermittelt, habe niemanden, der qualifiziert sei, Warjas
Betreuung zu übernehmen.
Das Mädchen braucht eine Eins-zu-eins-Betreuung. Sie hat sowohl das
Down-Syndrom als auch eine Autismus-Spektrum-Störung. Deshalb kann sie nie
allein gelassen werden, weder im Klassenraum noch in der Wohnung. Sie läuft
weg, wenn sie von zu vielen Reizen überfordert ist oder reagiert aggressiv.
Auch an diesem Samstag Mitte Oktober sitzt eine junge Frau als Betreuerin
neben Warja hinten im Wohnzimmer auf dem Sofa. Warja hört Musik über
Kopfhörer und wiegt den Oberkörper vor und zurück. „Das macht sie immer,
wenn sie dort sitzt“, sagt Natascha Zaminski. Die Frage, welche Musik sie
höre, beantwortet Warja nicht. Auch das sei fast immer so, sagt die Mutter,
„wir wissen eigentlich nie, was in ihr vorgeht“. Eigentlich sollte sie mit
ihrer Betreuerin auf den Spielplatz gehen, aber Warja will nicht. Sie jetzt
nach draußen zu zwingen, würde einen längeren Kampf nach sich ziehen, ein
Gespräch wäre dann nicht mehr möglich.
## Kein Boden unter den Füßen
So bleibt sie, zwängt sich immer wieder auf dem Weg zum Kühlschrank am
Esstisch vorbei. Dort sitzt Natascha Zaminski sehr aufrecht und erzählt,
wie sich ein Leben anfühlt, in dem sie sich nicht darauf verlassen kann,
dass ihre Tochter beschult wird. „Das ist, als ob der Boden unter den Füßen
weggezogen würde“, sagt die 51-Jährige. Oder: „Ich habe Angst, meine Arbeit
zu verlieren“. Auch ihr Schlaf sei gestört. Und sie habe kaum Zeit und
Energie für ihre anderen beiden Töchter.
Die sitzen still mit am Tisch und hören zu, Warjas Zwillingsschwester Sinah
und die 16-jährige Tamina. Die Ältere hatte ihrer Mutter mal angeboten, zu
Hause bei Warja zu bleiben anstatt in die Schule zu gehen. Natascha
Zaminski hat eine halbe Stelle bei einer Versicherung in Hamburg, ein- bis
zweimal die Woche fährt sie mit der Bahn dort hin, ansonsten ist sie im
Home-Office. Aber wenn sie mit Warja allein in der Wohnung ist, kann sie
nicht arbeiten. Warjas Schwestern helfen, wo sie können. Ab und an wendet
sich ihre Mutter im Gespräch an sie. „Wisst ihr noch, wie viele Assistenzen
Warja in diesem Jahr hatte?“ Waren es zwei oder drei? Wer kam zuerst und
wann?
Denn der Oberschule an der Hermannsburg war es dann doch gelungen,
rechtzeitig zum Schuljahresbeginn im Sommer jemanden für Warja zu
organisieren, auf eigene Faust, wie der Schulleiter Achim Kaschub am
Telefon erklärt. Erst den Bekannten einer Sozialpädagogin an der Schule,
der eine Ausbildung abgebrochen und spontan Zeit hatte, danach eine Mutter.
Beiden kamen gut mit Warja zurecht, meldeten die Mitarbeiter:innen der
Schule Natascha Zaminski zurück.
Das Geld dafür habe man aus anderen Töpfen „geklaut“, sagt der Schulleiter,
das eigentlich für andere Aufgaben gebraucht werde. Aus steuerlichen
Gründen konnten sie jeweils nur für maximal sechs Wochen beschäftigt
werden. Eine Anstellung beim Martinsclub war nicht möglich, weil sie dessen
Qualifikationsstandard nicht erfüllten.
## Ständig wechselnde Betreuung
Eine ständig wechselnde Betreuung ist für kein Kind gut, erst recht nicht
für ein autistisches, das verlässliche Routinen braucht. Außerdem musste
Warja von der Siebten in die fünfte Klassenstufe wechseln. Der Grund: In
der Siebten war niemand, der Warja die Windel wechseln konnte, eine
Pflegetätigkeit, die die eilends angestellten Hilfskräfte nicht leisten
konnten. „Es war schwer für Warja, aber was sollten wir machen?“, sagt
Natascha Zaminski.
Der Wechsel von der Siebten in die Fünfte bedeutete für Warja auch, dass
sie von ihrer einzigen Freundin in der Klasse getrennt wurde, einem
Mädchen, das ebenfalls das Down-Syndrom hat. Deren Beschulung endet
aufgrund der schlechten Betreuungssituation um 14 Uhr – wenn sie überhaupt
in die Schule gehen kann.
Im vergangenen halben Jahr musste sie immer wieder zu Hause bleiben oder
früher abgeholt werden, erzählt ihre Mutter Türkan Celik. „Ich kann mit
nichts planen.“ Weil sich die Assistentin ihrer Tochter Mitte November
verletzt hat, war das Mädchen vergangene Woche nur am Mittwoch in der
Schule, vielleicht kann sie diese Woche am Dienstag und Mittwoch in die
Schule. Sie sei selbständig und verliere Aufträge, sagt Türkan Celik.
Eine solche für die Familien „dramatische Situation“ habe es an seiner
Schule noch nie gegeben, sagt Achim Kaschub. Er nennt es ein
„Armutszeugnis“. Seit Jahren sei es schwierig, Schulbegleiter:innen
für Kinder zu finden, die diese aufgrund einer Behinderung, Krankheit oder
Verhaltensauffälligkeiten brauchen. Nicht immer in Einzelbetreuung wie bei
Warja, in vielen Fällen reiche eine Fachkraft in der Klasse, die sich um
mehrere Kinder kümmern kann. Aber die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage
werde immer größer. Das hat mit den Folgen der Pandemie zu tun sowie der
wachsenden Zahl an aufgrund von Flucht- und Kriegserfahrungen
Traumatisierten und andererseits dem Fachkräftemangel.
## Hilferufe von Eltern
In Bremen gibt es dazu aktuelle Zahlen, die Fraktion der Linken in der
Bremischen Bürgerschaft hatte Ende September danach gefragt. 85 Stellen
seien im Bereich „W und E“ nicht besetzt, das entspreche 66
Vollzeitstellen. W und E steht für Wahrnehmung und Entwicklung, in Bremen
werden so Kinder bezeichnet, die man früher „geistig behindert“ genannt
hat. Bisher ist der Martinsclub der einzige Träger in Bremen, der solche W-
und E-Assistenzen vermittelt.
Zudem sind laut Bildungsbehörde zwölf Assistenzen für körperlich behinderte
Kinder unbesetzt sowie 155 Stellen, bei denen es um eine psychische oder
seelische Behinderung geht, die sich beispielsweise in
Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten äußern kann.
Nachgefragt hatte die Linke aufgrund der Hilferufe von Eltern, deren Kinder
eine der letzten Förderschulen in Bremen besuchen. Die
Paul-Goldschmidt-Schule für schwer beeinträchtigte Kinder hatte Ende August
die Vier-Tage-Woche eingeführt, weil so viel Personal fehlt. Nicht nur
Assistent:innen, sondern auch Sonderpädagog:innen.
Der Mangel ist deutschlandweit zu spüren, immer dort besonders, wo der
Bedarf besonders groß ist. Ein Beispiel ist die Oberschule an der Koblenzer
Straße in Tenever, einem von Armut geprägten Stadtteil am Rand Bremens.
Hier leben viele Kinder in schwierigen Familienverhältnissen, viele mit
Fluchterfahrung, schlechten Chancen auf ein gesundes, selbstbestimmtes
Leben. Rund 15 Kinder mit bestätigtem besonderem Förderbedarf gebe es in
jedem der sechs Jahrgänge, sagt Schulleiter Christian Scheidt. Aber nur die
Hälfte aller genehmigten Assistenz-Stunden seien abgedeckt, 400
Wochenstunden seien offen.
## Trickkiste für Notfälle
Hinzu kämen die [2][Ausfälle aufgrund von fehlenden
Sonderpädagog:innen]: Gerade einmal 24 von 300 solcher wöchentlichen
Förderstunden kann der Schulleiter mit seinem Personal abdecken. „Wir haben
die von allen anderen Aufgaben abgezogen“, sagt Christian Scheidt, „sie
können ihr zweites Fach nicht mehr unterrichten und sind auch keine
Klassenlehrer:innen mehr“. Glücklich sei niemand damit.
Er sei froh über jeden und jede, die trotzdem bleibe und sich nicht an eine
Schule in einem weniger belasteten Stadtteil bewerbe. Auch die
Schulbegleiter:innen gehen nicht nur nach seiner Beobachtung lieber an
andere Schulen, in denen sie mehr Zeit für einzelne Kinder haben – und die
nicht so weit von ihrem Wohnort entfernt liegen.
Auch Christian Scheidt kennt die Trickkiste, wie er mit Hilfskräften
Notfallzeiten überbrücken kann, auch er zieht Geld aus anderen Töpfen ab.
Doch in diesem Jahr reichte selbst das nicht mehr. In der neu eingeschulten
fünften Klasse gab es gar keine Assistenzkräfte mehr, nicht für ganze
Klassen oder einzelne Kinder, einfach niemanden. Drei Kinder mussten
deshalb die Schule wechseln, an ein Gymnasium in einen anderen Stadtteil,
das nicht optimal, aber sehr viel besser personell ausgestattet ist als
seine Schule. „Das ist das Eingeständnis eines Versagens von Inklusion“,
sagt der Schulleiter.
## Ungeeignete werden eingestellt
Die Bremer CDU macht dafür die rot-grüne-rote Landesregierung und vor allem
die seit Jahrzehnten für die Bremer Bildungspolitik zuständige SPD
verantwortlich. Die beiden Schulleiter können hingegen keine systemischen
Versäumnisse der Politik erkennen. Auch die Bildungsbehörde helfe, wo sie
könne, sagen sie, könne aber kein Personal aus dem Hut zaubern. Der Markt
der sozialen Berufe und Lehrkräfte sei leergefegt, wer als
Schulassistent:in arbeite, fehle dann eben an anderer Stelle: in
Kindertagesstätten, der Jugendhilfe oder der Pflege, in Bremen oder anderen
Kommunen.
Die Not führt auch dazu, dass Menschen eingestellt werden, die selbst so
große Probleme haben, dass sie die Arbeitslast der Lehrkräfte in den
Klassen vergrößern. „Ich muss regelmäßig Gespräche mit erwachsenen Männern
führen, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind“, erzählt eine Lehrerin aus
Schleswig-Holstein. Sie unterrichtet an einer Schule nahe Hamburg, die von
vielen Kindern aus belasteten Familien besucht wird. Einer habe häufig
gefehlt, ließ sich die Stundenzettel aber trotzdem von den Lehrer:innen
unterschreiben. „Wer hat denn die Zeit, neben der Anwesenheit von über 20
Kindern noch die der Schulbegleiter:innen zu überprüfen?“
Das Kind mit schwerem Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom war dann ohne
ihn in der Schule, und schlug um sich, wenn es überreizt war. Ein anderer
habe das ihm anvertraute Kind geschlagen, getreten und beschimpft, hätten
ihr dessen Mitschüler:innen erzählt. Auch Alkoholiker habe sie schon
erlebt. „Manchmal riecht der ganze Klassenraum nach Kippen und Schweiß.“
Davor soll in Bremen ein relativ hoher Qualifizierungsstandard schützen.
Das führt dazu, dass Menschen, die einen guten Draht zu den Kindern haben,
nicht mit diesen arbeiten können – weil ihnen die Qualifikation fehlt. Gut
sei deshalb, sagen die beiden Bremer Schulleiter, dass es jetzt in Bremen
möglich ist, berufsbegleitend eine Ausbildung zum Sozialassistenten zu
machen. Er hoffe, dass der 24-Jährige, der Warjas Betreuung im Sommer
spontan übernommen hatte, sich dafür entscheiden werde und an seiner Schule
anfange, sagt Achim Kaschub. „Er hat dabei entdeckt, dass ihm das liegt.“
Um Notfälle wie den von Warja wenigstens abzumildern und Leute wie den
24-Jährigen zu halten, wünschen sich die Schulleiter mehr Geld. „Als Schule
brauchen wir einen eigenen Etat, um jemanden zur Überbrückung einstellen zu
können“, sagt Achim Kaschub, und das dann nicht nur für maximal sechs
Wochen. Sein Kollege Christian Scheidt glaubt, dass [3][eine bessere
tarifliche Eingruppierung] mehr Menschen motiviere, sich als
Schulassisten:innen zu bewerben.
Potenzial gebe es auch noch bei den Menschen, die in den vergangenen Jahren
nach Deutschland eingewandert sind und Erfahrung in der Arbeit mit Kindern
haben, aber keine Berufsabschlüsse, die hier anerkannt werden, sagt
Katharina Lankenau-Wettstein, beim Martinsclub zuständig für die
Schulassistenzen. Sie wünscht sich eine bundesweite Regelung, damit sie
schneller für Tätigkeiten wie Warjas Schulbegleitung gewonnen werden
können.
Warja geht zur Schule, bis Ende Dezember hat sie eine Assistenz. Dann soll
es wieder einen Wechsel geben. Ihre Mutter hofft, dass das klappt.
1 Dec 2023
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