# taz.de -- „Polizeiruf 110“ aus Rostock: Amoklauf als Kopfgeburt

> Im ARD-Sonntagskrimi aus dem Jahr 2021 werden Ostdeutsche vor allem als
> willenlose Opfer dargestellt. Der „Polizeiruf“ steckt mitten im Diskurs.
Es ist Sommerpause beim ARD-Sonntagskrimi. Und so kommen wir in den Genuss,
noch mal [1][das inzwischen getrennte klassische Team] begleiten zu dürfen,
im „Polizeiruf“ aus Rostock.

Anneke Kim Sarnau als Kathrin König und Charly Hübner als Alexander Bukow
haben in der Folge „Sabine“ aus dem Jahr 2021 allerhand Privates am Hacken:
eine unsichere Affäre, den Tod von Bukows Vater samt Karaoke-Trauerfeier
auf der Polizeiwache – und [2][dann hat Revierleiter Henning Röder (Uwe
Preuss) auch noch Herzflimmern] und kann nicht in die Herrensauna.

Eigentlich sind also alle ausreichend mit sich selbst beschäftigt, als nach
einer knappen halben Stunde dann doch noch der erste Mord geschieht – er
wird nicht der letzte in dieser Amokfolge bleiben.

Denn auch die titelgebende Sabine Brenner (Luise Heyer) hat als
alleinerziehende Aufstockerin bei einer in Abwicklung befindlichen Werft,
mit unfähigem Exmann, gewalttätigem Nachbarn, abgestelltem Strom,
eingezogener EC-Karte und arrogant verweigerter Gymnasialempfehlung für den
Sohn, genug mit sich und den Verhältnissen zu tun – vielleicht halt sogar
ein wenig zu viel (Drehbuch: Florian Oeller).

## Rächerin der Verdammten

Dass die Sozialkritik in diesem TV-Krimi zu kurz käme, kann man also
bestimmt nicht behaupten. Es ist ein düsteres Panorama, das hier zur
Sonntagabendunterhaltung präsentiert wird, mit dem verschärfenden Kick,
dass Sabine zur Rächerin der Verdammten dieser Erde, Abteilung Ost, wird.

Das ist insofern interessant und diskussionswürdig, als es in Deutschland
in den letzten Jahrzehnten der neoliberalen Marktsäuberung ja eben nicht zu
wirklich gewalttätigen proletarischen Protesten wie etwa in unserem
Nachbarland Frankreich gekommen ist, was eine Arbeitgeberzeitung wie die
Welt schon mal zur Headline „Den Chef entführen – Frankreichs neuer
Volkssport“ inspirierte.

Die Rächerin Sabine hat keine reale Entsprechung in der deutschen
Wirklichkeit, sie ist eine – ob nun positiv oder negativ besetzte –
Kopfgeburt.

Wäre Sabine realistisch gezeichnet, würde sie ihre Aggression
ausschließlich gegen sich selbst richten, in den Westen gehen wie so viele
jungen Frauen aus den neuen Bundesländern oder eben AfD wählen und vor
Unterkünften für geflüchtete Menschen demonstrieren.

## Dünner Lack

Dieses Ausgedachte überträgt sich auf das Spiel von Luise Heyer. Für ihre
Leistung wurde sie 2021 mit dem Deutschen Fernsehkrimipreis in der
Kategorie „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet. Es gibt in „Sabine“
tatsächlich Szenen, die so geschrieben sind, dass Heyer ihr Potential
entfalten kann, etwa wenn sie ihren Sohn erst zärtlich weckt, um ihn, als
er nicht sofort aufsteht, unter Tränen anzubrüllen – so dünn ist der Lack
eben, der die zärtliche von der versoffenen Horrormutter im
Arbeiterschließfach nebenan noch trennt.

Aber einen Film über die Sabines dieser Republik von Rostock bis Sonneberg
zu machen, ihn mit allerhand Wiedervereinigungselend zu würzen und dann
eben die Hauptfigur doch nur der guten alten Genre-Kiste zu entnehmen,
anstatt einen realistischen Charakter zu entwickeln, hinterlässt einen
faden Beigeschmack; vielleicht sogar umso mehr, als die anderen
Protagonisten deutlich vielschichtiger angelegt sind und die Darstellenden
diese Komplexität zeigen dürfen und, im Fall Hübner grandios, auch zeigen
können.

Dass der Rest der heimischen TV-Krimiproduktion meist gleich völlig
ungenießbar ist, davon mag sich trösten lassen, wer will – oder wer es sich
eben leisten kann.

2 Jul 2023

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## AUTOREN
Ambros Waibel
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