# taz.de -- Zuschauerzahl in EM-Stadien: London calling

> Zu den Finalspielen dürfen jeweils 60.000 Zuschauer ins Wembley-Stadion.
> Darf das denn wirklich wahr sein? Ein Pro und Contra.
## Pro

Deutschland tut diese EM hoffentlich gut, und das nicht nur im sportlichen
Sinne. Sie eröffnet im Land des Vorsorgeprinzips und der übersteigerten
Aerosolangst neue Perspektiven. Millionen an den Geräten sehen fast volle
Stadien in Budapest, Kopenhagen und bald schon in London. Sie sehen eine
Inszenierung von Fußball wie vor Corona, also mit Fangesängen, Bierduschen
und Umarmungen auf den Tribünen.

[1][Diese Bilder sind wichtig,] denn sie weisen idealerweise jenen, die
sich von der politischen Virologie der Bundesregierung und deren
Multiplikatoren haben über Gebühr ängstigen und einschüchtern lassen, eine
Via Regia ins Land der Normalität – und eines Alltags, wie er uns vor
Corona geläufig war: Gemeint ist ein Leben ohne Einschränkungen von
Freiheiten und eine Beschneidung von Bürgerrechten, über deren
Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit man wahrlich streiten kann.

Nun ist es zu spät dafür, aber die Lage ist an mehreren Fronten –
Auslastung der Intensivstationen, Inzidenzwerte, Todesfälle,
Impffortschritt, Antikörperprävalenz – entspannt, währenddessen sich das
Räderwerk der Mahner, Warner und Modellierer in den Varianten Delta und
wohl bald schon Epsilon, Kappa und Lambda weiterdreht, als sei nichts
geschehen. Aufgabe der Politik – und warum nicht auch der Sportpolitik –
ist es aber, Szenarien zu entwickeln und zu unterstützen, die herausführen
aus dem Ausnahmezustand. Das ist essenziell und geboten, doch gerade in
Deutschland hat man sich in einen hygienischen Status quo verguckt, will
nicht davon abkommen, sondern darin partout verharren.

In diesem Klima der Halsstarrigkeit, ja der verweigerten Realitätsanpassung
verwundert es natürlich nicht, wenn Journalisten in ARD, ZDF, DLF und
überhaupt sehr vielen Zeitungen beim Anblick der vollen Stadion [2][im
eingeübten Reiz-Reaktions-Schema der Pandemiebeurteilung] reagieren:
Gesprochen und geschrieben wird dann von „Verantwortungslosigkeit“, die
Sprecher bekommen „ein ganz mulmiges Gefühl beim Anblick der Ränge“, und
sie orakeln: „In zwei Wochen könnte es dann zum großen Knall kommen“;
übersetzt heißt das: Sie halten das für ein Superspreader-Event, eine
Gefahr für die Volksgesundheit, und in 14 Tagen gehen die Inzidenzen
extremst durch die Decke.

Sie verkennen dabei, dass es dazu schon etliche erfolgreiche Feldversuche
gegeben hat, zum Beispiel in diversen US-Bundesstaaten. Gern genannt werden
Florida und Texas, wo Sportevents seit Wochen mit hoher Auslastung gefahren
werden. Man hat weder von den Bundesstaaten noch von den US-Sportligen NBA
oder NHL gehört, dass der Schuss nach hinten losgegangen ist. Im Gegenteil:
Die Menschen genießen das Leben, ihre Freiheit – und die Fans auch in
Europa endlich einen Fußball, der nicht im aseptischen Setting erstickt.
Markus Völker

## Contra

Die Bilder dieser Europameisterschaft sind irritierend. In Ungarn, in der
Budapester Puskás-Arena, spielt man vor voller Kapelle, wie Karl-Heinz
Rummenigge vom FC Bayern sagen würde. Und selbst die in Europa besser
beleumundeten Dänen haben die Spiele im bis zu 70 Prozent ausgelasteten
Parken-Stadion in Kopenhagen zum Massenspektakel gemacht. In München
dagegen dürfen aus Pandemieschutzgründen jeweils immer nur 20 Prozent ins
Stadion. Zwischen dem Ausnahmezustand und der einstigen Normalität liegen
für die TV-Zuschauer:innen bei diesem Turnier oft nur wenige Minuten.

Was richtig und falsch ist in Zeiten von Corona, wird nicht nur kontrovers
diskutiert, sondern auch unterschiedlich entschieden in Europa – selbst bei
ähnlicher Coronalage. Zu Recht machen einige hierzulande bis heute darauf
aufmerksam, dass coronabegründeter Freiheitsentzug rechtsstaatlich
abgewogen und nicht vorbei an demokratischen Institutionen organisiert
werden darf, dass aus der Angst heraus mitunter Maßloses und Sinnloses
entschieden wurde.

Wem der Rechtsstaat in erster Linie ein Herzensanliegen ist, kann jetzt
allerdings schlecht sagen: Macht euch mal locker, 60.000 Zuschauer in
London sind trotz der Verbreitung der Delta-Variante bei entsprechenden
begleitenden Schutzmaßnahmen kein Problem. Das Problem ist doch, dass eine
Fußballorganisation namens Uefa ihre Macht- und Druckmittel erfolgreich
eingesetzt hat, um die englische Regierung dazu zu bringen, trotz massiv
steigender Inzidenzzahlen ihr zuvor abgewogenes Schutzkonzept über Bord zu
werfen und 20.000 Zuschauer mehr zuzulassen. Grund dafür waren wohl die
offiziell gewordenen Gedankenspiele der Uefa, man könne die entscheidenden
Finalspiele kurzfristig noch an ein anderes Land vergeben.

Schon lange sind die großen Sportorganisationen dabei, für ihre Großevents
den Gastgeberstaaten [3][eine eigene Rechtssphäre abzutrotzen]. Auch die
Stadt München tat sich anfangs schwer, entgegen ihrer Überzeugung der Uefa
Zuschauergarantien für die EM-Spiele zu geben. Ob die politische Vorsicht
vor Ort angemessen war oder nicht, ist völlig egal. Bedenklich aber ist,
dass die Uefa die Gesundheitspolitik in den elf EM-Gastgeberländern
nachweislich mitprägt. Wer auf die eigenen Freiheitsrechte schaut, mag das
in dem Fall gut finden. Das ist allerdings zu kurz gedacht: Staaten, die
erpressbar sind, können ebenso Unliebsames abnicken.

Nach der EM wird in der Münchner Arena bald wieder gespielt. Bei der
Testpartie am 24. Juli zwischen dem FC Bayern und Ajax Amsterdam sind statt
14.500 lediglich nur noch 500 Zuschauer zugelassen. Dann nehmen die lokalen
Behörden die Coronapolitik wieder selbst in die Hand. Johannes Kopp

23 Jun 2021

## LINKS
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[3] /EM-im-Weserstadion/!5422531
## AUTOREN
Markus Völker
Johannes Kopp
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