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Las Vegas taz | Ein Hauch der Hoffnung wehte durch die Demokratische
Partei, seit Kamala Harris im Juli bekannt gab, dass sie Joe Biden als
Präsidentschaftskandidatin ersetzen würde. In einigen wichtigen
Bundesstaaten kippten die Wahlprognosen zugunsten der Demokraten. Zum
Beispiel Nevada, einer der sogenannten Swing States, wo kaum vorhersagbar
ist, wer am Ende das Rennen machen wird.
Als Biden am 21. Juli ankündigte, aus dem Rennen um die Präsidentschaft
auszusteigen, lag Trump mit 7 Prozentpunkten Abstand vorne. Zwei Tage vor
der Wahl liegen Harris und Trump mit jeweils 48 Prozent Zustimmung
gleichauf. Wie konnte die [1][Aufholjagd der Demokraten] gelingen?
Rückblende: An einem heißen Sommertag in Las Vegas ist die neue Energie in
der Partei nicht schwer zu finden. Vier Tage sind seit der Bekanntgabe von
Tim Walz als Harris’ Running Mate, als ihr Vizekandidat, vergangen, und
kaum mehr als zwei Wochen sind es seit der Verkündung von Harris’
Kandidatur. In Las Vegas kommen an diesem Tag um die 15.000 Menschen
zusammen, um das neue Duo an der Spitze der Partei zu bejubeln.
„Es ist ein wenig so wie damals bei Obama“, sagt Antonio Borjon, während er
mit seiner Partnerin für eine Wahlkampfveranstaltung mit Kamala Harris und
Tim Walz ansteht. Borjon ist hochgewachsen und trägt ein Fußballtrikot mit
der Aufschrift „Amendment 14“ in Regenbogenfarben, in Anspielung auf den
Verfassungsparagrafen, der allen Menschen in den USA Gleichbehandlung vor
dem Gesetz verspricht. „Mit Biden hat sich der Wahlkampf angefühlt wie ein
Trauermarsch“, sagt Borjon. „Jetzt fühlt sich alles anders an, ich glaube,
wir haben eine echte Chance, zu gewinnen.“
## Schlüsselthema: Das Recht auf Abtreibung
In den langen Schlangen vor dem Thomas & Mack Center, einer Arena in Sicht
der großen Casinos der Stadt, wimmelt es von Slogans: „Schützt
Abtreibungsrechte“ in Kursivschrift, „LGBTQ Dad“ in Blockbuchstaben, „Dankt
einem Gewerkschaftsmitglied“ in Weiß auf Schwarz. Der Ton des Wahlkampfs
ist kämpferisch, es gilt, die Demokratie und die Freiheit zu verteidigen.
An diesem Tag in Las Vegas sind besonders viele T-Shirts zu sehen, die
Abtreibung thematisieren. Dies überrascht nicht, ragt das Thema doch
[2][für die Wählerschaft der Demokraten besonders hervor].
Rund 63 Prozent aller Amerikaner:innen und rund 85 Prozent aller
Personen, die sich der Demokratischen Partei zuordnen, befürworten laut des
Meinungsinstituts Pew Research Center das Recht auf Abtreibung in den
„meisten oder allen Fällen.“ Während das Thema lange Zeit von der
Republikanischen Partei als Banner geschwenkt wurde, zeigen jüngste
Umfragen, dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch mittlerweile eher die
progressive Wählerschaft motiviert.
Ashley Graham ist mit ihrem Ehemann auf dem Weg in eine der Schlangen,
beide sind großflächig tätowiert und mit Sonnenbrillen gegen die Sonne
gewappnet. „Wir hätten so oder so für die Demokraten gestimmt“, sagt sie,
während sie zwischen geparkten Autos hindurchsteuert. „Aber für Harris
können wir uns richtig begeistern.“
Graham, ihr Mann Jonathan und ihre vier Kinder sind kürzlich aus
Pennsylvania an der Ostküste in die Gegend von Las Vegas gezogen. Auch für
das junge Paar steht das Recht auf Abtreibung bei der kommenden Wahl an
erster Stelle. „Eine medizinische Abtreibung hat mein Leben gerettet“,
erzählt Ashley Graham. In Nevada ist eine Abtreibung derzeit bis zur 24.
Schwangerschaftswoche erlaubt.
## Tim Walz, Liebling der Gewerkschaften
Im Thomas & Mack Center selbst ähnelt die Atmosphäre weniger einer
politischen Veranstaltung als einem Popkonzert. Das Saallicht ist gedimmt
und bunte Scheinwerfer blitzen durch die hohen Zuschauerränge. Die
Hip-Hop-Ikone D-Nice spielt „Not Like Us“ von Kendrick Lamar, junge und
alte tanzen in den Rängen. Rund die Hälfte der Bevölkerung von Las Vegas
ist nicht weiß, das Publikum in der Arena spiegelt die Diversität der
Großstadt.
Auftritt [3][Tim Walz], der Vizekandidat. Als er sich auf die
Gewerkschaften bezieht, die in Nevada für gute Jobs sorgen und sich für die
Demokratische Partei einsetzen, wird er von einem Sprechchor unterbrochen:
„2-2-6, 2-2-6!“ skandiert ein Zuschauerblock in roten T-Shirts hinter ihm.
226 ist die Gewerkschaft „Culinary Workers Union Local 226“, sie vertritt
circa 60.000 Angestellte im Gastgewerbe von Nevada. 43 Prozent der
Wirtschaft des Staates gehen auf das Konto der Tourismusbranche, Casinos,
Hotels und Unterhaltung sind das Aushängeschild der zwei größten Städte,
Reno und Las Vegas. Die Culinary Workers Union vertritt die
Reinigungskräfte, Köche und viele andere Arbeiter:innen des
Gastgewerbes, die das Spektakel am Laufen halten.
„Wir glauben an die Organisierung“, sagt Ted Pappageorge, der Schatzmeister
der 226. Pappageorge ist groß und grauhaarig, und seit Anfang der 1980er
Teil der Gewerkschaft, der er zehn Jahre lang als Präsident vorstand. Dass
diese auf der Harris-Walz-Veranstaltung einen Ehrenplatz bekommt, ist nicht
nur ihrer Größe geschuldet, sondern ihrem Einfluss als politischer Akteur.
„Über Arbeiter wird allgemein gesagt, dass sie eine geringere Tendenz zum
Wählen haben“, erklärt Pappageorge. „Doch das haben wir in Nevada über
Jahrzehnte ändern können.“
## Unter den hohen Preisen leiden alle
Mitglieder der 226 werden im großen Stil mobilisiert, um während der
Wahlkämpfe von Tür zu Tür zu gehen, um Volksabstimmungen oder
Kandidat:innen zu bewerben. „Arbeiter, die mit Arbeitern sprechen“,
nennt Pappageorge diese Herangehensweise. Die Mobilisierungskraft der
Gewerkschaft und ihrer 60.000 Mitglieder macht sie für die Demokratische
Partei in Nevada zu einem nahezu zwingenden Bündnispartner.
Für Ted Pappageorge ist das wichtigste Wahlkampfthema die Wirtschaft: „In
den Umfragen sieht man das, und für unsere Mitglieder ist es auch nicht
anders.“ Das US-amerikanische Bruttoinlandsprodukt wächst voraussichtlich
dieses Jahr um 2,7 Prozent, die Arbeitslosenquote ist niedrig, der Dow
Jones-Aktienindex hat am 30. September seinen historischen Höchststand
erreicht. Doch: „Die Preise für Essen, Benzin und Wohnen sind außer
Kontrolle“, sagt Pappageorge. Die Kosten für Lebensmittel in den USA sind
seit der Pandemie um rund ein Viertel gestiegen, der durchschnittliche
Kaufpreis eines Hauses ist heute 47 Prozent höher als im Jahr 2020. „Unsere
Mitglieder fühlen das.“
Auch die [4][nationalen Umfragen] bestätigen: Wirtschaft und Inflation sind
die wichtigsten Themen.
Im Thomas & Mack Center bleibt Tim Walz genau lang genug auf der Bühne, um
dem Publikum für Harris einzuheizen. Die schreitet strahlend den langen
Steg entlang, der in die Mitte der Arena führt. Über die Saalanlage
erklingt „Freedom“ von Beyoncé.
„Wir haben zu hart für einen Platz in den USA und auf dieser Welt gekämpft,
um jetzt die Uhr zurückzudrehen, und das sage ich besonders als schwarze
Frau“, sagt Adlee Williams. Sie ist mit ihrer Freundin Rene Richard und
ihrem Mann Frank gekommen, das Trio ist im Pensionsalter. „Ich will nicht,
dass mir irgendwer sagt, was ich mit meinem Körper machen soll“, wirft
Richard von der Seite ein. Beide meinen ein Thema, das die Harris-Kampagne
immer mehr für sich besetzt: Freiheit.
## Die Angst vor reaktionären Utopien einigt Demokraten
Der Freiheitsbegriff war lange Zeit fast die exklusive Domäne der
Republikanischen Partei: Freiheit von übermäßigen Steuern, von Eingriffen
in das Waffenrecht, von einer interventionistischen Regierung, die die
Republikaner gerne als „Kindermädchen“ verspotteten. Die Dominanz der
religiösen Rechten im Kern der Partei stellt diese Dynamik aber nun auf den
Kopf. Da ist etwa das „[5][Project 2025]“ der Republikaner, eine Art
programmatisches Grundsatzpapier: Es will zum Beispiel Abtreibung,
Verhütungsmittel und Transsexualität unter Strafe stellen. Der gesetzliche
Schutz von LGBTQ-Personen soll gänzlich aufgehoben werden.
„Als Homosexueller habe ich Angst“, sagt Tony A., der nicht mit vollem
Namen genannt werden möchte. Tony steht an seinem Auto mit seinem Partner
und einem Freund, das Paar trägt passende T-Shirts mit großen
Regenbogen-Emblemen. „Ich habe meine Sexualität nie versteckt, und die
Vorstellung, das tun zu müssen, ist fürchterlich.“
Auch Tony A. denkt viel über Freiheit nach, wenn es um die Wahlen geht.
„Wir wurden auf dem Prinzip der Freiheit gegründet“, sagt er über seine
Heimat. „Ich finde, wir werden dadurch besser, dass wir einander
akzeptieren und lieben, und uns in unseren Schlafzimmern in Ruhe lassen“,
sagt er.
Man kann sagen: Die Demokraten schaffen es erfolgreich, in diesem
Wahlkampf, diejenigen zu versammeln, die sich von den reaktionären Utopien
der Republikaner zurückgestoßen fühlen. LGBTQI-Personen, Gebärende, People
of Color wie die Williams-Familie und ihre Freundin Rene Richard begegnen
sich in einer Koalition der Anderen. Der rote Faden, der diese
zusammenhält, ist dabei oftmals weniger das Programm der eigenen Partei als
die Programmatik der anderen.
Ob es Harris schafft, diese zerbrechliche Koalition über die Ziellinie zu
retten, das wird man sehen.
5 Nov 2024
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