# taz.de -- Desinformation auf Messengerdienst: Wer kontrolliert Telegram?

> Hier dürfen alle alles schreiben. Mit diesem Versprechen wurde der
> Messengerdienst Telegram zur wohl wichtigsten Plattform für Hetze. Die
> einzudämmen, ist nicht so leicht.

Stockholm/Berlin taz | Es war der 26. März, gegen 1.30 Uhr morgens, als der
Frachter „Dali“, beladen mit Tausenden Containern, [1][die
Francis-Scott-Key-Brücke in Baltimore rammt]e. Einer der wichtigsten Häfen
der USA ist nun unbefahrbar, der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Zum
Zeitpunkt des Unglücks tobte in den USA der politische Streit um ein von
den Republikanern blockiertes Ukraine-Hilfspaket für 60 Milliarden Dollar.

Wer wissen wollte, wer hinter dem Unglück steckte, der bekam die heißesten
News beim Messengerdienst Telegram. Nur Stunden nach dem Vorfall kursierte
auf vielen Social-Media-Plattformen die Falschmeldung, dass – „BREAKING“ –
der Kapitän der „Dali“ ein Ukrainer war. Selbst auf Musks Plattform X gab
es allerdings schnell Warnhinweise, dass der fragliche 52-jährige
ukrainische Kapitän die „Dali“ nur bis 2016 steuerte. Auf Telegram aber
übernahm scheinbar der ukrainische Widerstand die Verantwortung: Unter
einem Bild der eingestürzten Brücke, mit stolzem Bizeps-Emoji, hieß es:
„Wir werden euch noch beibringen, wie man die Demokratie verteidigt.“ Die
Gruppe mit einem Banner der ukrainischen Armee im Profil bejubelte den
angeblichen gelungenen Sabotageakt.

Solche Posts waren Wasser auf die Mühlen der Gegner der Ukraine-Hilfen. Die
Falschmeldung konnte sich auf Telegram ungehindert verbreiten und von dort
immer wieder auf andere Plattformen gelangen. Denn Telegram, das auf eine
Milliarde Nutzer:innen weltweit zusteuert, kennt keine Regeln. Kein
Portal dieser Größe verzichtet so konsequent auf die Moderation von
Inhalten und Faktenchecks. Mit nur 50 Beschäftigten, darunter 30
Programmierern, betreibt der Gründer und Alleininhaber Pawel Durow, ein
russischer Software-Entwickler, die Plattform aus Dubai.

Die Freiheit, in den Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von
unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben.
Telegram kämpfe für die Redefreiheit, heißt es in der Selbstdarstellung. Es
habe so eine „prominente Rolle“ in prodemokratischen Bewegungen etwa in
Iran, Russland, Belarus, Myanmar und Hongkong gespielt.

## Die zwei Gesichter von Telegram

Das ist nicht falsch. An Orten, an denen freie Meinungsäußerungen kaum
möglich sind, bietet Telegram einen offenen Raum. Doch gleichzeitig ist es
heute die global womöglich wichtigste Plattform für Fake News,
Verschwörungsideologie und Online-Hetze.

Unter den heute zehn größten Telegram-Channels [2][in Deutschland etwa sind
mindestens acht rechtsextrem], offene Kreml-Propaganda oder
verschwörungsideologisch. Ihre jeweils sechsstellige Reichweite lässt dabei
jene großer Tageszeitungen locker hinter sich. Die Plattform entwickle sich
„zunehmend zu einem Medium der Radikalisierung“, schrieb das
Bundeskriminalamt (BKA) schon 2022 und beklagte unter anderem die Zunahme
von Mordaufrufen.

„Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es
weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und
Einstellungen Einfluss zu nehmen“, heißt es in einer [3][Analyse des
Berliner CeMAS-Instituts]. Rechtsextreme „Alternativmedien“ erreichen über
Telegram ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere
Redaktionen zu finanzieren, so CeMAS.

Weltweit verbreiten sich zweifelhafte Inhalte über die Plattform: Hamas,
der IS, organisierte Kriminelle, Neonazis, sie alle nutzen die Freiheit von
Telegram. Hier gibt es Bombenbauanleitungen, Todeslisten, Drogen, Waffen.

In autoritären Gesellschaften ist Telegram ein Werkzeug des Kampfes für
Rechte und Demokratie. Wo die Gesellschaften liberal verfasst sind, schafft
sie hingegen einen Raum für Lügen und Hass. Wer sich dem zu lange aussetzt,
wendet sich von der Demokratie ab.

## Ein EU-Gesetz soll helfen

Seit dem 17. Februar ist nun in der EU ein Regelwerk in Kraft, das die
Plattformen regulieren soll: das [4][Gesetz über digitale Dienste]. Der
Digital Service Act (DSA) werde eine „sicherere und transparentere
Online-Welt gestalten“, sagte Digital-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer
in Brüssel und Berlin heute herumfragt, wie die Politik gegen Hass und
Desinformation auf Telegram und den anderen Plattformen vorzugehen gedenkt,
bekommt fast immer die gleiche Antwort: mit dem DSA.

2020 hatte Vestager dessen ersten Entwurf vorgelegt. Sie stand vor der
Schwierigkeit, jeden Eindruck staatlicher Zensur vermeiden zu müssen und
gleichzeitig ein wirksames Instrument gegen Desinformation und Hetze zu
schaffen. Vestager präsentierte eine kluge Lösung. Der DSA listet
„systemische Risiken“ auf – Bereiche in denen ein unkontrollierter
Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre,
Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, öffentliche
Sicherheit und der „zivile Diskurs“.

Die großen Onlineplattformen müssen gegenüber der Kommission darlegen, was
sie gegen diese Risiken tun. Eine eigens aufgebaute Abteilung der
EU-Kommission unter Leitung des Deutschen Prabhat Agarwal prüft, ob die
Anstrengungen ausreichend sind. Sind sie es nicht, drohen Bußgelder von bis
zu 6 Prozent des jährlichen Konzernumsatzes.

Diese Verpflichtung greift aber erst ab einer Nutzerzahl von 45 Millionen
in der EU. Telegram behauptete im Februar 2024, nur 41 Millionen Nutzer zu
haben. Fachleute bezweifeln dies, der EU reicht die Selbstauskunft aber
vorerst. „Wir beobachten die Marktentwicklung“, sagt ein Sprecher der
Kommission auf Anfrage der taz. Telegram jedenfalls kann so bisher dem
„Risikomanagement“ entgehen.

## Bislang nur Verluste

Das muss nicht so bleiben. Telegram ist kostenlos, Werbung gibt es kaum.
Der Eigner Pawel Durow rechnet damit, bis 2025 weiter Verluste zu machen.
Bisher sponsert er den Betrieb aus seinem Privatvermögen. Mitte März aber
dachte Durow laut darüber nach, Telegram an die Börse zu bringen. Auf einen
Wert von 30 Milliarden Euro schätzen Analysten den Unternehmenswert. Die
US-Börsenaufsicht dürfte sich indes kaum mit so vagen Auskünften abspeisen
lassen wie heute die EU. Gut möglich, dass Telegram einräumen wird, die
45-Millionen-Schwelle überschritten zu haben, und „Risikomanagement“
betreiben muss.

Noch aber ist es nicht so weit. Das Unternehmen ist bekannt dafür, sich
staatlicher Kontrolle zu entziehen. In Dubai „lässt die Regierung uns in
Ruhe“, sagte Durow kürzlich. Das Emirat sei „neutral“. Während der
jahrelangen Beratungen zum DSA schickte Telegram als einzige Plattform
keine Lobbyisten nach Brüssel – eine absolute Ausnahme für Unternehmen
dieser Größe, die sonst praktisch alles tun, um Gesetzgebungsverfahren in
ihrem Sinne zu beeinflussen.

Jahrelang war Telegram für Regierungen schlichtweg nicht erreichbar. Nur
sieben Administratoren sollen für die mehr als 80.000 verschlüsselten
Server zuständig sein, die weltweit verteilt sind. Einzelne Regierungen
können schon rein technisch kaum darauf zugreifen. Vergeblich versuchte
etwa das deutsche BKA lange, Nutzerdaten wegen Verdachtsfällen von
Kinderpornografie und Terrorismus zu bekommen. Erst 2022 verkündete
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stolz, es sei gelungen, „Kontakt
zur Konzernspitze von Telegram herzustellen“.

In einer Videkonferenz habe es das „erste konstruktive Gespräch zur
weiteren Zusammenarbeit“ gegeben, man habe „vereinbart, den Austausch
fortzusetzen“, so Faeser. Die Strafverfolgungsbehörden traten Telegram als
Bittsteller entgegen. Allerdings nicht ohne Erfolg: Das Unternehmen rühmt
sich zwar bis heute „0 Byte Nutzerdaten an Dritte einschließlich aller
Regierungen“ weitergegeben zu haben. [5][Nach Recherchen des Spiegels
rückte Durow an das BKA aber sehr wohl vereinzelt Daten heraus].

Der DSA verpflichtet die Plattformen nun, einen Repräsentanten in der EU zu
benennen, an den die Behörden sich wenden können. Telegram beauftragte
dafür einen externen Dienstleister, eine neu gegründete Brüsseler
Briefkastenfirma namens EDSR. Deren Geschäftsmodell ist es, für Plattformen
aus Nicht-EU-Staaten die vom DSA geforderte Repräsentanz darzustellen.
Inhaberin ist die kanadische Anwältin Jane Murphy, die das Geschäft
pünktlich zum Inkrafttreten des DSA startete.

## Image maximaler Staatsferne

Kann sich künftig an sie wenden, wer etwa auf Telegram mit dem Tod bedroht
oder wessen Privatadresse veröffentlicht wird? Man sei „bedauerlicherweise
nicht in der Lage, irgendetwas über die Klienten oder ihre
Geschäftstätigkeit preiszugeben“, schreibt ein Sprecher Murphys auf
taz-Anfrage.

Vor einem Interview bittet er um ein Vorab-Gespräch per Videokonferenz,
danach um einen vollständigen Fragenkatalog. Schließlich sagt er, Murphy
befinde sich „in einer sehr arbeitsreichen Zeit“ und werde „in naher
Zukunft nicht in der Lage sein, einen sinnvollen Beitrag zu einem Artikel
zu leisten“. Viel gesprächiger ist Telegram selbst auch nicht, und das ist
zweifellos der Sinn des Ganzen: Telegram weiterhin so weit abzuschotten,
wie das Gesetz es zulässt.

Denn Durow pflegt mit Hingabe das Image maximaler Staatsferne. Auch wenn
Telegram heute als globales Vehikel russischer Propaganda gilt, weist Durow
jede Verbindung zum Kreml strikt zurück. Tatsächlich musste er 2014
Russland verlassen, nachdem es Ärger mit seiner ersten Plattform, dem
russischen Facebook-Pendant VKontakte (VK) gab. Durow hatte sich geweigert,
Daten an den russischen Geheimdienst FSB weiterzugeben und Inhalte zu
löschen.

Er musste seinen VK-Anteil kremlfreundlichen Oligarchen verkaufen. 2018
verweigerte Durow der Regierung auch Telegram-Nutzerdaten, woraufhin der
Messenger in Russland verboten wurde. Doch Durow vermochte den Bann
technisch zu umgehen. Seither gilt er als aufrechter Kämpfer für die freie
Meinungsäußerung.

Durow kommt heute zugute, dass den Plattformen, die demokratiezersetzender
Propaganda Raum geben, im Westen mit Sanftmut begegnet wird. Statt auf
Härte setzt die EU auf Kooperation. Das kann funktionieren, solange die
Konzerne halbwegs mitziehen. Aber die Tech-Milliardäre haben die Wahl,
kooperativ zu sein, wenn es ihnen passt – wie derzeit Mark Zuckerberg mit
Meta – oder eben nicht, wie eben Durow.

Dabei könnte etwa die EU-Kommission Apple und Google anweisen, die
Telegram-App in der EU aus dem App-Store zu verbannen. Die Plattform ließe
sich in der EU technisch blockieren, ein Zugang wäre dann nur noch
aufwändig per VPN-Tunnel möglich. Doch die Fake News würden sich andere
Plattformen suchen – und der Westen stünde als Zensor da.

## Hybride Bedrohungen

Dabei ist Telegram heute auch ein Instrument in Kriegen geworden. Die
Plattform sei „fester Bestandteil der Kommunikations- und
Informationskriegsführung der Hamas“, schreibt der israelische Analyst Tal
Hagin. Ähnlich beim Ukrainekrieg. Am 19. Februar hörte Russland ein
Gespräch deutscher Militärs zu möglichen Lieferungen von
Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab.

Zehn Tage später veröffentlichte Margarita Simonjan, die Chefredakteurin
des russischen Staatsmedienkonglomerats Rossija Sewodnja, als Erste den
Mitschnitt – nicht etwa in eigenen Sendern wie Russia Today, sondern auf
ihrem Telegram-Kanal. Für „hybride Bedrohungen“ – etwa echte Informationen,
die mit falschen gemischt und als Waffe eingesetzt werden – ist Telegram,
wie der Taurus-Leak erneut zeigte, heute eine der ersten Adressen.

Die EU hat einen Chefdiplomaten, der für „Foreign Information Manipulation
and Interference“, für hybride Bedrohungen also, zuständig ist. Es ist der
Deutsche Lutz Güllner. Nach dem Taurus-Leak reist er nach Berlin, um zu
erklären, was die EU Russlands Info-Attacken entgegensetzt. An einem
sonnigen Dienstag im März sitzt er in den Räumen der EU-Kommission in
Berlin und spricht über den „schleichenden Prozess der Destabilisierung“,
mit dem der Westen es zu tun habe.

Die Kommission beobachte den „gezielten, langfristigen Aufbau von
Netzwerken zur Manipulation von Informationen“, so Güllner. Desinformation
sei alt, neu seien die technischen Möglichkeiten zur „Ampflizierung“:
Geheimdienst-Operationen auf Plattformen bis hin zu Netzwerken von Usern
mit falschen Identitäten. Russland sei einer der aktivsten Akteure. „Hier
gibt es die größte Evidenz der Beteiligung staatlicher Stellen und ihrer
Dunstkreise.“

Desinformation müsse dabei nicht faktisch falsch sein. Entscheidend sei die
manipulative Absicht – etwa bei den Bauernprotesten. „Die sind nicht per se
orchestriert von Moskau und niemand wird behaupten, dass da nicht auch
tatsächliche Sorgen dahinterstehen, ob man das nun teilt oder nicht.“ Doch
Desinformations-Netzwerke „springen ganz opportunistisch auf solche
Konflikte auf und verstärken sie“.

Tatsächlich hatten während der Bauernproteste etwa die Putin-begeisterten
rechtsextremen Medien Auf1 – ein österreichischer TV-Sender – und das
Compact-Magazin sich als Sprachrohr der Proteste inszeniert. Auf1 hatte
dabei vor allem auf seinem Telegram-Kanal – 270.000 Abonnenten – von
„tatsächlichen Geheimplänen“ der „globalistischen Eliten“ geraunt, die
„groß angelegten Bevölkerungsaustausch“ anstrebten. Compact hatte während
der Proteste auf Telegram – 60.000 Abonnenten – unter anderem behauptet,
Moskau habe „die Nase gestrichen voll von der deutschen Kriegstreiberei“,
weshalb die „Legitimation für die deutsche Wiedervereinigung“ infrage
gestellt sei. Das ist zweifellos manipulativ. Doch wer „nur auf die Inhalte
schaut, kommt auf die schiefe Ebene, verheddert sich in Fragen, was gesagt
werden darf“, sagt Güllner. „Wer sollte denn entscheiden, was irgendwo
runtergenommen wird?“

## Schweden ist schon weiter

Besser sei, auf die Mittel zu schauen: Etwa ob Bots verwendet oder
Identitäten vorgetäuscht werden. „Das ist ein klarer Indikator für
Manipulation, das sind illegitime Mittel.“ Denn schnell ist sonst der
Vorwurf im Raum, die Redefreiheit zu beschränken. Er würde die Logik gern
umkehren, meint Güllner dazu. „Indem wir Manipulation zurückdrängen,
schützen wir die freie Meinungsäußerung der echten, genuinen, authentischen
Stimmen.“

Denn der Westen sei „nicht schutzlos“, sagt Güllner. „Wir können selber
transparent sein, aufklären, die Muster zeigen.“ Zivilgesellschaft,
Medienkompetenz, Fakt-Checking Organisationen und Forschung müssten
gestärkt werden. Letztlich müssten die Regierungen auch regulieren – und
sanktionieren. Den DSA nennt Güllner „einen sehr wichtigen Schritt nach
vorne, aber nicht ausreichend“. Er müsse „flankiert werden durch andere
Maßnahmen.“ Immerhin nehme die Verordnung die Tech-Unternehmen nun in die
Pflicht. Das Konzept, „das Risiko zum Thema machen, nicht den Inhalt,“ hält
Güllner für einen guten Weg.

Das sieht man auch in Schweden so. Es ist neben Frankreich das einzige
EU-Land, das dafür eine nationale Behörde aufgebaut hat: die zum
Verteidigungsministerium gehörende Agentur für Psychologische Verteidigung
nämlich. Sie residiert in Stockholm in einem unauffälligen gelben Gebäude
nördlich der Innenstadt. Gitter und Türen sind dicker als bei Ämtern
üblich, der Eingang ist schwerer gesichert, als die zivile Erscheinung
erwarten lässt.

Das Interieur ist nobel, auf Sideboards stehen Nato-Wimpel. Gäste werden
zuvorkommend behandelt, aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. „Der
Informationskrieg ist eine ernste Sache,“ sagt Andrea Liebman. Sie leitet
die Analyse-Abteilung. In Wollpulli und Jeans sitzt sie am Tisch, drei
Handys vor sich. Fast hätte sie es nicht in die Stadt geschafft, zu dicht
war an diesem Freitag im April noch das Schneetreiben.

## Das Recht auf Unwahrheit

Seit der Annexion der Krim sei klar gewesen, dass Schweden ins Visier
hybrider Angriffe aus Russland geraten könnte, sagt Liebman So begann das
Land schon 2014, sich gegen „maligne Desinformation“ systematisch zu
wehren. Liebman benutzt die gleiche Vokabel, die im Englischen für
bösartige Tumore verwendet wird. Und je stärker das Land in die Nato
strebte, desto stärker wurden die Attacken.

„Menschen haben das Recht, Unwahrheiten zu sagen“, sagt sie. „Das rühren
wir nicht an.“ Relevant werde es erst, wenn „ausländische Akteure unter
falscher Flagge versuchen, die schwedische Bevölkerung, schwedische
Entscheidungen oder schwedische Interessen zu beeinflussen“. Liebman setzt
dagegen vor allem auf eigene Kommunikation. 2022 etwa attackierten
islamistische Gruppen Schweden mit massenhaften Falschmeldungen über den
angeblichen Entzug von Kindern aus islamischen Familien.

Die Kinder würden zur „Zwangschristianisierung“ in staatliche Pflegeheime
gesteckt, in denen Pädophile arbeiteten. Das Risiko für Terroranschläge
stieg. „Wir haben den Ministerpräsidenten gebrieft, der hat in einer
Pressekonferenz zu den Falschbehauptungen Stellung bezogen“, sagt sie.
Behörden kommunizierten auf Arabisch – mit Erfolg. „Der Schlüssel war, zu
diesem Zeitpunkt selbst eine breite Öffentlichkeit anzusprechen.“

Gegenüber den Plattformen setzt Liebman auf Kooperation. „Es sind
gigantische private Unternehmen, die eine unglaubliche Macht haben“, sagt
sie. Nicht nur finanzielle Macht, sondern auch eine „unglaubliche Menge“ an
Wissen über die Nutzer. „Sie wissen mehr über die Bevölkerung als das
eigene Land.“ Die Agentur stehe in „ständigem Dialog mit den Plattformen“,
sagt Liebman. Für Telegram gilt das allerdings nicht.

„Aber wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen. Wir schlagen niemals vor,
Informationen zu blockieren.“ Die Redefreiheit sei ein zu hohes Gut. Die
Plattformen hätten schließlich schon vor Jahren begonnen, Mechanismen gegen
Desinformationen einzuführen. Das sei mittlerweile Teil ihrer PR. „Die
Plattformen wollen verstehen, welche enorme Wirkung sie auf unsere
demokratischen Gesellschaften haben, sie wollen sich selbst regulieren“,
glaubt Liebman. Der DSA verstärke dies.

Aber was, wenn nicht – so wie Telegram? Das sei „sicher eine
Herausforderung“, räumt Liebman ein. „Da wir wissen, dass Telegram nicht
ansprechbar ist, beobachten wir eher, welche Schwachstellen damit verbunden
sind“, sagt sie. Dialogversuche würden „sowieso nicht funktionieren“, da
das Unternehmen die Plattform nicht vor Desinformation schütze. Also müsse
man die „Schwachstellen aus der Perspektive der Verwundbarkeit betrachten.“
Soll heißen: Gegenstrategien entwickeln, wenn die hybriden Attacken sich
auf Telegram verbreiten.

## Druck wirkt

Das Dilemma ist groß: Lassen Staaten die Dinge in den sozialen Medien
laufen, wenden sich weiter Menschen von der Demokratie ab, kann Russland
seinen Einfluss ausbauen. Schreiten die Staaten zu sehr ein, tasten sie die
Redefreiheit an. Müssen sie also weiter hinnehmen, wenn auf Telegram der
Ukraine die Zerstörung der Baltimore-Brücke oder den Grünen der Geheimplan
des „Großen Reset“ in die Schuhe geschoben wird?

Ja und Nein, sagt Mauritius Dorn vom Institute for Strategic Dialogue,
einer der wichtigsten Institutionen, die über Regeln für soziale Medien
nachdenken. Zwar könne Desinformation als „systemisches Risiko“ im Sinne
des DSA eingestuft werden, gegen das die großen Plattformen vorgehen
müssen. „Das bezieht sich aber nie auf einzelne Inhalte, sondern auf die
Dienstleistungen, die zur Entstehung solcher Risiken beitragen“, so Dorn.
Allerdings biete das EU-Recht Möglichkeiten, um gegen rechtswidrige Inhalte
wie Verleumdung, Volksverhetzung oder terroristische Gewaltaufrufe auf
Telegram vorzugehen.

Dass Telegram für die Staaten so unantastbar sei, wie die Plattform selbst
gern glauben mache, sei ein Irrtum, sagt der Gründer des CeMAS-Instituts,
Josef Holnburger. „Bei genügend Druck beugt sich Telegram. Auch wenn sie
angeben, dass sie nie mit Staaten kooperieren – die Historie zeigt, dass
das nicht stimmt.“ Der [6][Nawalny-Spendenbot] etwa wurde gelöscht, in
Indonesien und Brasilien habe die Plattform auch kooperiert. „Telegram
knickt bei zu viel Druck ein, zumindest zeitweise.“ Anscheinend habe auch
der Druck der EU hier bereits etwas bewegt. Wie viel und wie lange, bleibe
abzuwarten.

Dieser Bericht ist Teil des Rechercheprojekts „[7][Decoding the
disinformation playbook of populism in Europe]“, das vom International
Press Institute in Wien geleitet und in Zusammenarbeit mit Faktograf und
taz durchgeführt wird. Das Projekt wird von dem European Media and
Information Fund finanziell unterstützt, der von der
Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet wird.

13 Apr 2024

## LINKS
[1] /Brueckeneinsturz-in-Baltimore/!6000993
[2] /Kooperation-gegen-Rechtsextremismus/!5929294
[3] https://report.cemas.io/telegram/
[4] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274
[5] https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/telegram-gibt-nutzerdaten-an-das-bundeskriminalamt-a-0e4d3fcb-8081-4b87-b062-db412bbc294b
[6] https://www.rferl.org/a/telegram-navalny-smart-voting/31466263.html
[7] https://ipi.media/decoding-disinformation-playbook/
## AUTOREN
Christian Jakob
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Lesestück Recherche und Reportage
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Kolumne Hamburger, aber halal
Schwerpunkt Facebook
Spionage
Rechtsextremismus
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