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taz: Frau Molnar, Sie warnen auch mit Blick auf die kommende
Trump-Präsidentschaft vor „hochriskanten und unregulierten
Grenztechnologien“, die Folgen für „jeden Aspekt der Migration“ haben.
Womit ist zu rechnen?
Petra Molnar: Wir leben in einer Welt, die sehr diskriminierend und
ausgrenzend ist, wenn es darum geht, wer mobil sein darf und wer nicht.
Technologie verschärft diese Unterschiede. Es gibt eine schockierende
Bereitschaft von Staaten, den Grenzschutz mit Technologie zu
externalisieren und zu militarisieren, ohne dass man darüber spricht, was
das vor Ort bewirkt und welche Auswirkungen es auf die Menschenrechte hat.
taz: Vor einigen Jahren warnten Menschenrechtler:innen vor einer
Migrationsabwehr mit Satelliten, Biometriescannern, Radar, Drohnen. Sie
haben ein Buch über die nächste Generation der Grenzschutz-Technologien
geschrieben. Wie sieht die aus?
Molnar: Die Nutzung und Entwicklung neuer Grenzschutz-Technologien wird
exponenziell gesteigert. Die Biometrie in Flüchtlingslagern etwa haben die
UN in Kenia und Jordanien vorangetrieben. Es gibt immer mehr automatisierte
Überwachung durch experimentelle Projekte wie Roboterhunde, die zuerst 2022
an der Grenze zwischen den USA und Mexiko getestet wurden. Die EU hat
Roboter namens Roborder, KI-Lügendetektoren und Software zur
automatisierten Stimmerkennung getestet.
taz: Wie funktionieren solche Projekte?
Molnar: Eines dieser Projekte ist iBorderCtrl. Die KI in Form eines Avatars
soll Gesichter und Emotionen erkennen und damit feststellen, ob jemand bei
der Einreise lügt. Es wurden Fragen gestellt, um herauszufinden, ob jemand
vorhat, Asyl zu beantragen, oder ob es Sicherheitsrisiken gibt. Auf
Grundlage der Interaktion wird eine Risikobewertung formuliert – etwa, weil
die Person keinen Augenkontakt hergestellt hat, wie es bei Ehrlichkeit zu
erwarten wäre. Dann wird eine Warnung im Profil der Person hinterlegt.
taz: Wie zuverlässig ist so ein System?
Molnar: Ich habe in Kanada Flüchtlinge bei Anhörungen vor Gericht als
Anwältin vertreten und gesehen, wie Richter etwa reagierten, wenn jemand
keinen Augenkontakt herstellte. Die Richter, also menschliche
Entscheidungsträger, konnten sich teils nicht vorstellen, dass das
vielleicht an der Religion, eigenen Erfahrungen, den Nerven, an Traumata
liegt. Oder daran, dass wir Geschichten ohnehin nicht linear erzählen,
geschweige denn komplexe, schwierige Dinge, die uns widerfahren sind. Die
Richter hatten damit Schwierigkeiten und zogen teils äußerst problematische
Schlussfolgerungen. Wie soll eine KI mit solchen Komplexitäten besser
umgehen können?
taz: Die EU hat auf Kritik entgegnet, das System sei nur ein Test gewesen.
Molnar: Beteiligte Wissenschaftler sagten nach öffentlicher Kritik, sie
hätten nicht erkannt, dass das Projekt solche Auswirkungen auf die
Menschenrechte haben würde. Aber sprechen Sie mit einem Asylanwalt oder
einer Person auf der Flucht – die werden Bedenken daran äußern, was ein
solches System bewirkt. Deshalb ist es wichtig, wer bei der Entwicklung
solcher Projekte mit im Raum sitzt und wer entscheidet.
taz: Welche Technologien gibt es noch?
Molnar: Seit einiger Zeit ist eine Schallkanone auf dem Markt, die etwa an
der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei eingesetzt wurde. Das
deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nutzt seit 2017 einen
„Dialektidentifizierungsassistenten“ bei Asylanträgen – eine Software, die
prüft, ob jemand beispielsweise aus einer bestimmten Provinz eines Landes
stammt und dazu womöglich falsche Angaben macht. Nach öffentlichen
Diskussionen hat das Bundesamt den Einsatz allerdings beendet.
taz: Wer ist die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung? Die
Innenministerien oder die Industrie?
Molnar: Beide. Innenministerien und Regierungen im Allgemeinen können
solche Technologie nicht selbst entwickeln. Sie treten an private Partner
heran. Umgekehrt macht auch der Privatsektor seinen Einfluss geltend, um zu
bestimmen, was entwickelt wird. Man sieht das auf Foren wie dem World
Border Security Congress, ich habe das mehrfach selbst so erlebt: Da steht
dann der Migrationsminister und unterhält sich mit einem
Drohnenlieferanten. Der Privatsektor sagt: „Ihr habt das Migrationsproblem
– wir haben die Lösung“, und das ist eine Drohne oder ein Roboterhund oder
Gesichtserkennung.
taz: Selbst die Erfinder warnen vor den Risiken einer KI, die keinen
gesetzlichen Schranken unterworfen ist. Könnte das den möglichen Einsatz an
Grenzen bremsen?
Molnar: Menschen sind heute zu Recht besorgt darüber, was KI tut. Aber die
Diskussion über die Regulierung kommt nicht voran. Im August trat das
EU-Gesetz zur künstlichen Intelligenz in Kraft. Ich war ab 2021 Teil einer
Gruppe von Fachleuten namens „Schützen statt überwachen“. Wir forderten
unter anderem ein Verbot von KI-Modellen, die Migrationsbewegungen
vorhersagen sollen und [1][für Pushbacks eingesetzt werden könnten]. Leider
ohne Erfolg. Aber hätte das EU-KI-Gesetz Menschenrechte stärker in den
Blick genommen, wären Länder wie Kanada, die USA, Großbritannien und
Australien dem wohl gefolgt. In dieser Form bietet es keinen Anreiz für
andere Länder, KI zu regulieren.
taz: W as hätten solche Bestimmungen in dem Gesetz gebracht?
Molnar: Hätte das EU-KI-Gesetz Menschenrechte stärker in den Blick
genommen, wären Länder wie Kanada, die USA, Großbritannien und Australien
dem wohl gefolgt. Aber viele Regeln wurden im Gesetzgebungsprozess
verwässert, nicht nur in Bezug auf Grenztechnologie. Es bietet keinen
Anreiz für andere Länder, KI zu regulieren. 2023 haben wir einen Bericht
für das Büro des UN-Menschenrechtskommissars verfasst und eine
menschenrechtskonforme digitale Grenzverwaltung gefordert. Dazu gehörten
auch Moratorien und Verbote bestimmter Grenztechnologie. Nichts davon wurde
aufgegriffen. Denn wenn Migration als Problem und die Technologie als
Lösung gesehen wird – warum sollte man sie dann regulieren?
taz: Dient der Einsatz an den Grenzen dazu, Technologien für eine
weitergehende Nutzung im Innern zu testen?
Molnar: Ich beschäftige mich seit 2008 mit Migrationsfragen und kann sagen:
Was an den Grenzen und in Flüchtlingslagern passiert, bleibt nicht dort.
Gesichtserkennung ist heute weitgehend als biometrische Massenüberwachung
normalisiert, sogar in Sportstadien. Robohunde wurden 2022 an der Grenze
getestet, 2023 setzte die Polizei sie auf den Straßen von New York ein.
Einer war sogar weiß mit schwarzen Flecken bemalt, wie ein Dalmatiner. Was
in einem Flüchtlingslager passiert, ist dem Durchschnittsbürger vielleicht
egal, weil es ihn vermeintlich nicht betrifft. Aber wenn dieselbe
Technologie dann Teil unseres öffentlichen Lebens wird, dann fangen die
Leute vielleicht an, sich dafür zu interessieren.
taz: Werden Asyl- und Visumantragsgespräche zukünftig von Bots geführt?
Molnar: Sehr wahrscheinlich ist, dass die teilweise oder vollständige
Automatisierung zur Normalität werden könnte. Mit Verweis auf die
vermeintliche Effizienz werden diese Dinge durchgesetzt. So sollen Fälle
schneller bearbeitet oder abgelehnt werden.
taz: Schneller wäre doch besser, oder nicht?
Molnar: Manchmal dauert es Jahre bis zu einer Entscheidung. Das System kann
also nicht bleiben, wie es ist. Aber die Antwort kann keine technische
Lösung sein, die Probleme noch verschlimmert und neue schafft. Wenn man
sich tatsächlich um Effizienz sorgt, sollte man etwa vermeiden, wegen
diskriminierender Entscheidungen verklagt zu werden. Das ist nämlich eine
Folge von KI und wird das auch bleiben. Es gibt bereits entsprechende
Entscheidungen in Kanada und UK, immer mehr Menschen sind betroffen,
Anwält:innen werden darauf aufmerksam und klagen. Solche Systeme
funktionieren nicht richtig und sind eine Verschwendung von Ressourcen.
Diese Ressourcen könnten auf ganz andere Weise für eine Reform des Systems
genutzt werden. Aber ich glaube nicht, dass das die Priorität ist. Die
Priorität ist, dass wir zu viele Menschen haben, die herkommen und man will
technische Lösungen schaffen, um sie – vielleicht – schneller loszuwerden.
taz: Fühlen sich die Staaten denn langfristig überhaupt verpflichtet,
Gerichtsentscheidungen zu respektieren?
Molnar: Die Achtung des Rechts [2][geht den Bach runter], das ist ein
breiterer Trend. Wir können alle Gerichtsentscheidungen der Welt haben,
aber was bringt es, wenn sie nicht respektiert werden? Ich war an der
polnisch-weißrussischen Grenze, als es diese Sperrzone gab, es war ein
klares Beispiel für die Formbarkeit des Rechts in Krisensituationen. Sofort
wurde die etablierte Norm außer Kraft gesetzt, dass Medien Zugang haben.
Als jemand, der versucht, das Zusammenspiel zwischen Technologie, Macht und
Migration zu verstehen, denke ich, dass wir aus dem Blick verloren haben,
dass es echte Menschen sind, die im Mittelpunkt stehen.
taz: Die EU verlagert ihren Grenzschutz an Partnerländer in der Sahara, die
USA nach Lateinamerika. Gibt es Unterschiede im Vorgehen?
Molnar: Die USA bauen auf die Externalisierung ihres Grenzschutzes
[3][mithilfe von Mexiko] als direktem Nachbarn und anderen Ländern in
Lateinamerika. Das ähnelt der EU, die ihren Grenzschutz bis weit auf den
afrikanischen Kontinent ausgebaut hat und die Routen überwacht. Dabei wird
nicht nur Geld gezahlt. Es werden auch biometrische Datenbanken in Mexiko
erweitert, Grenzschutzkräfte ausgebildet oder Ausrüstung an mittel- und
lateinamerikanische Länder gegeben. Die Ausrüstung kommt direkt aus den
USA, sehr ähnlich wie in der EU. Beide Regionen lernen da voneinander und
kopieren sich gegenseitig.
taz: In Afrika wenden sich mittlerweile viele Staaten vom Westen ab. Das
unterminiert die EU-Grenzschutzkooperationen. Haben die USA ähnliche
Probleme?
Molnar: Die Menschen gehen nach Nordamerika, das Geld fließt in die andere
Richtung, um sie davon abzuhalten. Das ist ein lukratives Geschäft für
viele der Partnerländer. Deshalb gibt es vielleicht keinen Akteur, der die
USA als Machtfaktor im Migrationsmanagement auf dem amerikanischen
Kontinent entthronen könnte. Russland ist, soweit bekannt, in dieser Region
kaum aktiv. Das soll nicht heißen, dass das nicht passieren könnte. Aber
die Vormachtstellung der USA ist immer noch sehr stark – durch die
Wiederwahl Trumps jetzt umso mehr.
taz: Heute kommen immer mehr Menschen aus Afrika über Lateinamerika in die
USA, statt über die Sahara in Richtung EU. Woran liegt das?
Molnar: Ein Faktor ist wohl, dass die europäischen Migrationsrouten so
tödlich geworden sind. Allerdings ist Sicherheit dabei womöglich nicht
einmal das wichtigste Thema. Diese neuen Routen, die wir hier sehen, zeigen
einmal mehr, dass Menschen in verzweifelten Situationen bereit sind, alles
zu versuchen.
15 Nov 2024
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