# taz.de -- Die Grünen nach dem Ampel-Aus: Grün und gerecht?

> Im anstehenden Wahlkampf wird es um Wirtschaftspolitik und soziale Fragen
> gehen. Wie stellen sich die Grünen beim Thema Umverteilung auf?
Als am Mittwochabend nach 21 Uhr der Bundestagswahlkampf startete, da
wankten die Grünen. Olaf Scholz hatte gerade in der perfekt ausgeleuchteten
Kulisse des Kanzleramts seine fulminante Rausschmiss-Rede auf Christian
Lindner gehalten, [1][ein halbes Wahlprogramm war in seine perfekt
vorbereitete Ansprache] auch schon eingebaut. Die Delegation der Grünen
dagegen musste sich nach Ende des Koalitionsausschusses draußen aufbauen,
im Dunkeln vor dem Zaun, und dann versprach sich in seinem Statement auch
noch Robert Habeck am Ende eines Schachtelsatzes: „Wir wollten den sozialen
Zusammenhalt, den sozialen Frieden und die Zukunft dieses Landes (…)
gefährden.“ Wer mag es ihm verdenken, nach so einem Tag.

Immerhin: Er wird in nächster Zeit noch Gelegenheiten haben, den Satz
korrekt zu formulieren. Und vielleicht erfüllt er dann, auf dem Parteitag
am nächsten Wochenende zum Beispiel, die Erwartung, die in der Partei viele
an ihn haben: dass er seine Vorstellungen zum sozialen Frieden noch mit ein
paar Worten mehr ausführt. Verteilungsfragen waren in den letzten 15 Jahren
im Parteiprogramm in irgendeiner Form immer präsent. Jetzt sollen sie aber
wirklich Priorität werden – nachdem in den Regierungsjahren in der Praxis
so vieles schief ging, wie weite Teile der Partei finden.

Die scheidende Parteichefin Ricarda Lang, prominenteste Verfechterin einer
grünen Sozialpolitik, bezeichnet sich selbst als gescheitert. Die
abtrünnigen Ex-Vorsitzenden der Grünen Jugend sind vor allem gegangen, weil
ihnen bei den Grünen der Mut fehlt, [2][sich mit den Reichen anzulegen.]
Und auch die letzten Reste der Kindergrundsicherung, mit denen sich die
Grünen sozialpolitisch profilieren wollten, haben sich mit dem Ampel-Aus
erledigt.

Laut dem Politbarometer trauen die Menschen den Grünen so wenig zu, für
soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wie zuletzt 2018. Es hat etwas Tragisches:
In der Ampel traten die Grünen oft ambitionierter auf als die SPD,
sträubten sich zum Beispiel am längsten gegen die Verschärfungen beim
Bürgergeld. Von diversen Seiten unter Druck, stimmten sie am Ende aber auch
hier zu.

Vor allem aber: Das große Trauma der Grünen, das Heizungsgesetz, zu dem
Robert Habeck zunächst kein Förderkonzept parat hatte, überstrahlt alles.
Die Grünen könnten in anderen Bereichen noch so viel für
Verteilungsgerechtigkeit tun – es hilft nichts, solange sie in ihrem
Kernbereich, dem Klimaschutz, als unsozial wahrgenommen werden.

## Wundermittel: Verteilungspolitik

Gerade aus diesem Scheitern kommt das Bedürfnis, dass es in Zukunft anders
läuft. Schon der alte Bundesvorstand gab in seiner Analyse zur verlorenen
Europawahl vor: mehr Fokus auf soziale Fragen. Die [3][designierten neuen
Vorsitzenden knüpfen in Interviews daran an]. Ein Papier aus der
Bundestagsfraktion, ein Gemeinschaftswerk des künftigen Wahlkampfmanagers
Andreas Audretsch vom linken Flügel und der Reala Katharina Beck, sieht das
Ende von Steuerprivilegien für Reiche vor. Auf dem Parteitag Ende kommender
Woche wird sich die prominenteste Debatte ebenfalls um solche Fragen
drehen.

Zusammen mit anderen hat der Europaabgeordnete Rasmus Andresen einen Antrag
eingereicht. Unter dem Titel „Gerechtigkeit statt Spardiktat“ fordern sie
ein riesiges Bündel an Maßnahmen. Als in einem Mitgliedervoting entschieden
wurde, welche Anträge auf dem Parteitag tatsächlich zur Abstimmung kommen,
landete dieser auf Platz eins. Ein Zeichen dafür, wie sich die Prioritäten
auch an der Basis verschoben haben.

Grundsätzlich gilt das sogar flügelübergreifend. Unter dem Eindruck der
Inflation und des Gegenwinds der letzten Monate dämmert es auf der einen
Seite den Realos: Neue Milieus zu erreichen, können sie vergessen, solange
es den Menschen nicht gut geht. Auf der anderen Seite wollen die
Parteilinken trotz des Umfragetiefs nicht noch mehr Abstriche bei
Kernthemen wie Klima und Sozialem machen. In einer ambitionierten
Verteilungspolitik sehen sie eine Art Wundermittel. Haben die Leute mehr
Geld, machen sie den Rest auch wieder mit. Doch bei aller Einigkeit im
Grundsatz: Verteilungsgerechtigkeit ist ein großes Wort. Von Steuern über
Sozialleistungen bis hin zu staatlicher Infrastruktur und sogar
Investitionen in die Wirtschaft kann man sehr vieles darunter packen. Was
die Grünen im Wahlkampf im Detail fordern werden, ist umstritten.

So ist im Gerechtigkeitsantrag für den Parteitag zwar einiges Konsens,
etwa die Einführung des Klimagelds. Zu anderen Punkten gibt es aber zig
Änderungsanträge. Auch wenn das Thema bisher unter dem öffentlichen Radar
läuft, könnte die Debatte darüber kontroverser verlaufen als die über die
grüne Migrationspolitik.

## Man wolle kein gesellschaftliches Gegeneinander

Manche in der Partei hoffen nach dem Koalitionsbruch zwar, dass die
umstrittensten Forderungen noch zurückgezogen werden. Im abrupt gestarteten
Wahlkampf käme offener Streit ungelegen. Der Antragsteller Andresen, ein
Parteilinker, gibt sich aber entschlossen: Die Vorstellung, in den
Wahlkampf zu stolpern, ohne das inhaltliche Profil zu stärken, sei
verrückt.

Zur Kampfabstimmung könnte es zum Beispiel beim Thema Vermögensteuer
kommen. Die Reala Katharina Beck möchte diesen Punkt aus Andresens Antrag
streichen und bietet stattdessen ihre Vorschläge aus dem Fraktionspapier
an, unter anderem das Schließen der Steuerschlupflöcher bei großen
Erbschaften. Man müsse taktisch-strategisch erkennen, was durchsetzbar ist,
heißt es in der Begründung.

Bei anderen Änderungsanträgen geht es um die grundsätzliche Haltung. So
will eine Gruppe die Formulierung streichen, dass unter der Inflation
„nicht die Handvoll der reichsten Deutschen“ leide, sondern Millionen
andere. In ihrer Begründung heißt es, man wolle kein gesellschaftliches
Gegeneinander. Die Inflation belaste alle.

Hinter der Diskussion steckt ein Zielkonflikt. Einerseits: Den Grünen hängt
der Ruf der Besserverdienerpartei an. Um im Wahlkampf damit durchzudringen,
dass sie es ernst meinen, wäre Klarheit in der Sache und in der Sprache
hilfreich. Lieber 16 Euro Mindestlohn also, wie es in Andresens Antrag
heißt. Und nicht, wie in einem weiteren Änderungsantrag gefordert, „eine
Lohnuntergrenze von 60 Prozent des mittleren Lohns von
Vollzeitbeschäftigten“. Läuft perspektivisch aufs Gleiche raus, versteht
nur niemand.

Andererseits haben die Grünen aber schon schlechte Erfahrungen damit
gemacht, mit ambitionierten Plänen anzutreten, ohne auf die Fallstricke zu
achten. Vor der Bundestagswahl 2013 warben die Grünen unter Spitzenkandidat
Jürgen Trittin mit einem Steuerkonzept, das die Reichen belastet und die
breite Masse entlastet hätte. Am Wahltag gingen sie damit unter.

## Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld

„Umfragen, in denen sich Mehrheiten für mehr Gleichheit aussprechen, sind
das eine. Wenn es aber ernst wird, wachsen die Widerstände und Ängste“,
erinnert sich Trittin in seiner gerade erschienen Autobiografie. Das liege
nicht zuletzt daran, dass sich in Deutschland viele für reicher halten, als
sie sind – und fälschlicherweise fürchten, sie wären die Leidtragenden
einer Politik für mehr Gleichheit.

Das deckt sich mit Forschungsergebnissen, über die der Soziologe Steffen
Mau mit Kollegen in seinem Buch „Triggerpunkte“ schreibt: 80 Prozent ihrer
Befragten fanden demnach, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland zu
weit auseinandergingen. Viel polarisierter sind allerdings die Antworten
auf die Frage, ob die Erbschaftsteuer für Reiche und die Bürgergeldsätze
für Arme steigen sollten. Die Autoren erklären das auch damit, dass es in
Deutschland parallel zur Ungleichheitskritik einen großen Glauben ans
Leistungsprinzip gebe: Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld.

In der Krise hat sich diese Annahme vielleicht sogar noch verfestigt. Dass
sich die Ampel am Ende genötigt sah, ihr gerade erst eingeführtes
Bürgergeld in Teilen wieder abzuwickeln, hatte auch mit der
gesellschaftlichen Stimmung zu tun. In der grünen Programmdebatte schlägt
sich das jetzt ebenfalls nieder: Anders als noch vor der letzten Wahl geht
es in all den Papieren der letzten Wochen höchstens noch am Rande um
Transferleistungen, die explizit den Ärmsten helfen.

Statt um Bürgergeld und Kindergrundsicherung geht es um verlässliche Kitas
und bezahlbare Mieten. Der Fokus hat sich verschoben bis in die
Mittelschicht, bei der das Geld in der Krise auch knapp geworden ist.
Anders gesagt: In den letzten Jahren hatten die Grünen für ihre
Wähler*innen, von denen ja tatsächlich nur wenige ganz unten stehen, in
Verteilungsfragen ein moralisches Angebot: Wir helfen den Armen. Künftig
könnte die Mittelschicht auch aus Eigeninteresse grün wählen.

## Der Wahlkampf hat begonnen

Bleibt aber noch eine letzte Frage: Mit welchen Gesichtern die Grünen
vermitteln wollen, dass ihnen die finanzielle Lage der Menschen ein
Anliegen ist. Ricarda Lang hätte es sein können, steht jetzt aber nicht
mehr in der ersten Reihe. Familienministerin [4][Lisa Paus sollte es mit
der Kindergrundsicherung] werden, daraus wurde aber auch nichts. Umso mehr
kommt es nun also auf den Kanzlerkandidaten an.

Robert Habeck allerdings ist in diesen Fragen selbst den meisten Grünen ein
Rätsel. Er hatte mal ein soziales Gewissen. Unter ihm als Parteichef legten
sich die Grünen auf eine Grundsicherung ohne Sanktionen fest – der
endgültige Abschied von Hartz IV. Er überzeugte Skeptiker*innen in der
Partei damals davon, dass die Schuldenbremse gelockert werden müsse, und er
setzte die Forderung nach einem Klimageld als Ausgleich für den CO2-Preis
durch.

Seit seinem Umzug ins Wirtschaftsministerium ist davon nur noch wenig
geblieben. Sollte er weiterhin sensibel für die finanziellen Nöte der
Menschen sein, dann verbirgt er das gut. Das Desaster um das Heizungsgesetz
ist dafür nur das prominenteste Beispiel. Den Regierungszwängen – die
knappen Kassen, der Finanzminister, die Sorge um die Harmonie in der
Koalition – setzte Habeck wenig entgegen.

Jetzt ist die Koalition am Ende. Der Wahlkampf hat begonnen. Habeck könnte
wieder umschalten. In seinem Bewerbungsvideo um die Grünen-Kandidatur, am
Freitag online gegangen, deutet er das schon mal an. Er spricht darin über
die Sorgen der Menschen „um den Arbeitsplatz, einen Kita-Platz, eine gute
Schule, eine bezahlbare Wohnung, bezahlbares Pendeln“.

Das eigene Image schnell genug zurückzudrehen, so dass die Wähler*innen
ihm abnehmen, dass ihn als das kümmert, wird aber sportlich. Wie viel Zeit
bis zur Wahl genau bleibt, weiß im Moment niemand. Auf jeden Fall aber:
viel weniger als gedacht.

8 Nov 2024

## LINKS
[1] /Scheitern-der-Ampelkoalition/!6047493
[2] /Ex-Chefinnen-der-Gruenen-Jugend/!6044802
[3] /Felix-Banaszak-ueber-das-Linkssein/!6043942
[4] /Lisa-Paus-Kindergrundsicherung/!6026503
## AUTOREN
Tobias Schulze
## TAGS
Ampel-Koalition
Wahlkampf
Robert Habeck
Bündnis 90/Die Grünen
wochentaz
GNS
Bürgergeld
Ampel-Koalition
Ampel-Koalition
Schwerpunkt Afghanistan
Kolumne Änder Studies
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen: „Die Selbstzweifel sind gewachsen“
5,5 Millionen Menschen beziehen Bürgergeld. Sehr viele wollen arbeiten.
Fünf Menschen erzählen, wie sie das Klischee vom faulen Arbeitslosen
trifft.
Rezession und Neuwahlen: Zeit für große Lösungen
Unternehmen klagen über eine miese Auftragslage. Die anstehenden Neuwahlen
müssen zum Wettbewerb um die besten sozialen und ökonomischen Ideen werden.
Auflösung der Ampel-Regierung: Sag zum Abschied leise „Doof“
Die Kündigungsurkunden an die FDP-Minister sind verteilt, die gegenseite
Enttäuschung zum Ausdruck gebracht – offen bleibt, wie es jetzt weiter
geht.
Untersuchungsausschuss Afghanistan: Ein Horst Seehofer macht keine Fehler
Ex-Innenminister Seehofer (CSU) blieb im Afghanistan-Untersuchungsausschuss
kritikunfähig. Unklar ist, wie der Ausschuss nach dem Koalitionsbruch
weitergeht.
Selbstbestimmungsgesetz: Kein Abschluss, sondern ein Anfang
Das Selbstbestimmungsgesetz ist für viele das Ende eines langen Kampfes.
Elya Conrad hat es Mut gemacht für einen ersten Schritt.