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Zwei Bilderstrecken aus den vergangenen Wochen fassen den Zustand der Welt
zum Zeitpunkt der US-Präsidentschaftswahlen zusammen. Die eine entstand in
Berlin am 18. Oktober, als US-Präsident [1][Joe Biden den deutschen
Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte] und aus Großbritannien und Frankreich
Keir Starmer und Emmanuel Macron dazustießen. Die offiziellen Fotos aus dem
Kanzleramt zeigen die vier Führer des Westens in Posen der Unbekümmertheit,
mal lächelnd, mal diskutierend, immer unter sich. [2][Ein nichtoffizielles
Bild] fällt aus der Reihe: Scholz gestikuliert mit dem Rücken zur Kamera,
Macron guckt ihn völlig entgeistert an, Biden schaut verständnislos in die
Runde und Starmer tut so, als sei er nicht da.
Die andere entstand im russischen Kasan am 24. Oktober, als Russlands
Präsident Wladimir Putin [3][den BRICS-Gipfel der großen Schwellenländer]
ausrichtete und nicht nur seine vier BRICS-Amtskollegen Lula da Silva,
Narendra Modi, Xi Jinping und Cyril Ramaphosa begrüßte, sondern auch
zahlreiche Anwärter und Gäste, vom türkischen Präsidenten Erdoğan bis zum
UN-Generalsekretär António Guterres.
Die offiziellen russischen Gipfelfotos zeigen Putin als souveränen
Gastgeber der ganzen Welt, umgeben von Gefolgsleuten, mal lächelnd, mal
händeschüttelnd, mal weise, mal streng, aber nie allein. [4][Ein Bild,
natürlich auch offiziell], fällt aus der Reihe: Putin steht mit dem Rücken
zur Kamera und begrüßt Guterres, der sich verneigt und mit unsicherem Blick
zum mächtigsten Russen aufblickt.
In dieser Welt muss das nächste US-Staatsoberhaupt seinen Platz finden.
Kamala Harris wäre wahrscheinlich am ehesten im Berliner Kanzleramt zu
orten, im intensiven und ratlosen Austausch mit ihren westlichen
Amtskollegen. Donald Trump passt eher zum Gipfel in Kasan, ein
inhaltsleeres Schaulaufen von Alphatieren, die sich alle jeweils für den
Mittelpunkt der Welt halten.
## Der Rest der Welt kam selten vor im Wahlkampf
Im US-Wahlkampf kam der Rest der Welt wie immer eher selten vor, etwa als
störender Widerspruch arabischer US-Amerikaner und linker Demokraten gegen
Joe Bidens Unterstützung Israels, was Kamala Harris wichtige Stimmen kosten
könnte. Die Zukunft der Ukraine als Schicksalsfrage der Weltordnung – darf
eine Großmacht wieder ungestraft Nachbarländer vernichten und sich
einverleiben, wie vor 1945? – ist kaum Thema gewesen, außer als Vorführung
der wiederholten Weigerung Joe Bidens, der Ukraine uneingeschränkte
Selbstverteidigung mit westlichen Waffen zu erlauben, also militärische
Ziele in Russland zu zerstören.
Die Wirtschaftsdominanz Chinas, das wachsende Selbstbewusstsein des
Globalen Südens, die schwindende Anziehungskraft des Westens – vor diesem
Hintergrundrauschen lamentieren zwar die USA über ihren Niedergang. Aber
das nützt höchstens Donald Trump, der die USA aus ihren internationalen
Verpflichtungen lösen und die US-Außenpolitik auf Eigeninteresse als
Prinzip zurückführen möchte.
Eigeninteresse ist auch das Prinzip all der anderen großen Staatenführer
dieser Tage: in Moskau und Peking, in Jerusalem und Teheran, auch in Ankara
oder Pretoria, letztlich auch in Kyjiw und Paris und sogar in Berlin. Nach
dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren hofften viele auf eine
multilaterale neue Weltordnung, in der alle Länder gemeinsamen Regeln
folgen, für gemeinsame Ziele eintreten und kooperieren.
Stattdessen ist im 21. Jahrhundert eine multipolare Welt entstanden, in der
die Nationalstaaten jeweils nach eigenen Regeln ihre eigene Ziele
verfolgen, mal mit- und mal gegeneinander, ohne Anspruch auf Gemeinsamkeit
oder Universalismus. Es ist die Welt, in der Guterres Putin zuhört statt
andersherum. Und es ist die Welt, in der Donald Trump zu Hause ist, nicht
Kamala Harris – was nicht heißt, dass sie darin nicht auch zurechtkäme.
## Jeder Akteur agiert nach eigenem Gutdünken
Globale Probleme werden in dieser multipolaren Welt nicht mehr gemeinsam
gelöst. Dafür gibt es weder die Instanz – die Vereinten Nationen sind nur
noch eine Bühne, auf der nicht Konsens gefunden, sondern Dissens formuliert
wird – noch die politische Vision und Überzeugungskraft. Jeder Akteur
agiert nach eigenem Gutdünken ohne weitere Verantwortung. Aufrüstung und
Drohgebärden, Handelskriege und Protektionismus, Grenzschließungen und
Flüchtlingsabwehr, digitale und finanzielle Abschottung, „ökonomische
Souveränität“ und Abkehr von universellen Standards – all diese Phänomene
und Schlagworte vereinen inzwischen nicht nur die Autokratien in Ost und
Süd, sondern prägen auch zunehmend die Politik des Westens.
Glaubwürdigkeit in Sachen Demokratie, Menschen- und Völkerrecht hat im
Weltmaßstab sowieso niemand mehr. Der Westen beansprucht diese
Glaubwürdigkeit in Reaktion auf [5][Russlands Angriffskrieg gegen die
Ukraine]. Aber wer heute immer noch Selenskyjs Kriegsführung strengen
Einschränkungen unterwirft, Netanjahus Kriegsführung aber uneingeschränkt
stützt, kann keine Solidarität gegen Putin einfordern und auch ansonsten
keine Einhaltung von universellen Regeln anmahnen. Eine Kluft zwischen
US-Führungsanspruch und den tatsächlichen Möglichkeiten der
US-Außenpolitik ist entstanden. Darauf ist Washington nicht eingestellt.
Auf der anderen Seite stehen die aufstrebenden Mächte in Ost und Süd erst
recht nicht für eine lebenswerte Zukunft. Wenn eines die Regime in China,
Russland und den großen und kleinen Schwellenländern Afrikas, Asiens und
Lateinamerikas vereint, dann dass sie alle von alten Männern regiert
werden, die Klüngelwirtschaft betreiben und ihrer jungen Bevölkerung
Teilhabe weitgehend versagen.
Der türkische Präsident Erdoğan ist 70. Chinas Xi und Südafrikas Ramaphosa
sind 71. Russlands Putin und Nigerias Tinubu sind 72. Indonesiens Prabowo
ist 73. Indiens Modi ist 74. Israels Netanjahu ist 75. Brasiliens Lula ist
77. Der saudische König ist 78. Irans Chamenei ist 85. Nicht alle sind
prinzipienlose Despoten, aber selbst der als progressiv gefeierte Lula lädt
Putin trotz internationalen Haftbefehls in zwei Wochen zum G20-Gipfel nach
Brasilien ein, ein Gründungsland des Internationalen Strafgerichtshofs.
Das Paradox: Nie gab es so viele Jugendliche auf der Welt, aber in Zeiten
des nachlassenden Bevölkerungswachstums und des medizinischen Fortschritts
sind die Alten die am schnellsten wachsende demografische Gruppe der Welt.
Ihre Stunde schlägt jetzt. Ihr greiser Machterhalt ist der Kern des
Machtanspruchs aus dem Osten und dem Globalen Süden, der den Westen alt
aussehen lassen soll. Dieses Paradox, das eine greise Machtelite gegen die
jüngeren 90 Prozent stellt, ist ein Rezept für vertiefte soziale Gegensätze
und explosive politische Spannungen. Auch das ist eher die Welt von Donald
Trump, nicht von Kamala Harris.
## Gefangen in der Trump-Welt
Der 78-jährige Donald Trump macht es sich in dieser Welt einfach. Er
erklärt den US-Wählern, er werde die Kriege in Nahost und Ukraine beenden.
Details spielen keine Rolle, es geht um Deals. Nach bisherigen Erfahrungen
bedeuten Trump-Deals, sich mit dem Stärksten zu verständigen.
Im Klartext heißt das: Selenskyj muss die Waffen strecken, Putin kann
triumphieren. Netanjahu kann seine Nachbarn weiter in Trümmer legen.
Taiwan kann bei der von manchen US-Beobachtern für 2026 erwarteten
Invasion durch die VR China alleine sehen, wo es bleibt. Trump geht davon
aus, dass er von allen Strongmen der Welt am meisten Gehör finden wird,
weil die USA wieder die Nummer eins sein sollen. Dass diese Ära vorbei ist,
nimmt er aber bislang nicht zur Kenntnis.
Kamala Harris (60) hat da kein klares Gegenrezept. Sie erklärt den
US-Wählern, warum die Kriege in Ukraine und Nahost weitergehen müssen, und
zugleich möchte sie Frieden herbeiführen. Bei näherem Hinsehen ist da weder
Strategie zu erkennen noch Führung.
In ihrer TV-Debatte mit Trump behauptete die amtierende US-Vizepräsidentin
sogar, es gebe heute keine US-Truppen in Kriegsgebieten mehr. Sie vergaß
dabei nicht nur Irak und Syrien, wo US-Militäreinheiten immer noch den
Islamischen Staat bekämpfen und aktuell ständig von Verbündeten Irans
angegriffen werden. Sie akzeptierte implizit auch Trumps wünschenswerten
Idealzustand einer USA ohne mühselige ausländische Verstrickungen.
Der Rest der Welt soll bitte draußen bleiben – das eint Trump und Harris,
nur ihre Wege zu diesem Ziel sind unterschiedlich: paktieren mit den
größten Halunken für den einen, Abwälzen der Anstrengungen auf
internationale Partner für die andere. So unterschiedlich ist das gar
nicht, wie die Europäer spätestens beim nächsten Ukraine-Gipfel merken
werden.
Bestenfalls wäre eine Harris-Außenpolitik eine, die internationale
Institutionen stärkt und mehr Multilateralismus praktiziert, ohne den weder
der globale Klimawandel noch die globale Migration noch die globale
Ungleichheit noch die globale Unsicherheit wirklich zu bewältigen sind.
Aber wenn sonst niemand mitspielt und die Welt multipolar bleibt, ist auch
dieses Ansinnen vergeblich.
Die Welt des Jahres 2024 ist eine Trump-Welt, die eigentlich eine
Harris-Politik brauchen könnte. Egal wer diese Präsidentschaftswahl gewinnt
– dieses Dilemma bleibt.
5 Nov 2024
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