|
taz: Herr Wagener, es fühlt sich an, als käme es ständig zu
Jahrhunderthochwassern. Was ist das überhaupt?
Thorsten Wagener: Das ist erst mal eine rein statistische Betrachtung. Aus
Zeitreihen, die oft keine hundert Jahre lang sind, versucht man dabei
abzuleiten, welcher Wasserpegel in einem Zeitraum von hundert Jahren zu
erwarten ist. Dies dient oft als Grundlage für Überschwemmungskarten oder
als Designvariable für Deiche und andere Maßnahmen zum Hochwasserschutz.
Gerade in den vergangenen Jahren traten starke Hochwasser aber immer
häufiger auf, deswegen stellt sich die Frage, ob das so ein glücklicher
Begriff ist.
taz: Warum treten starke Hochwasser häufiger auf?
Wagener: Unser Klimasystem ändert sich. Die statistischen Annahmen, mit
denen wir etwa das Jahrhunderthochwasser berechnen, gehen aber von einem
stationären System aus. Es gab auch in der Vergangenheit Perioden mit
häufigeren Ereignissen, die die Statistik durcheinandergewirbelt haben,
etwa als es in den 1990ern mehrere Jahre hintereinander in den Niederlanden
starke Hochwasser gab. Mittlerweile sind die Auswirkungen des Klimawandels
aber immer stärker sichtbar, und das wirkt sich merklich auf den
Wasserkreislauf aus. Deswegen sehen wir immer mehr Extreme und können
gleichzeitig mit Begriffen wie „Jahrhunderthochwasser“ immer weniger
anfangen.
taz: Also verwenden wir die falschen Begriffe?
Wagener: Gerade in den Medien werden oft Begriffe verwendet, die nicht mehr
angebracht sind. Es ist zum Beispiel oft nicht hilfreich, über
Naturkatastrophen zu reden. Das deutet an, dass die Natur irgendwas macht
und wir dem ausgeliefert sind oder nichts damit zu tun haben. Die
Auswirkungen von Naturkatastrophen sind aber davon abhängig, was wir
machen, zum Beispiel wie und wo wir bauen. Auch der Begriff des
Jahrhunderthochwassers suggeriert erst mal, dass wir nach einem dieser
Ereignisse ein paar Jahrzehnte sicher sind, obwohl sich der gesamte
Wasserkreislauf so stark ändert, dass es immer öfter auftreten kann. Wir
brauchen eine neue Idee von Risiko und Risikokommunikation. Wir können
unsere Einschätzung nicht mehr nur von historischen Daten ableiten. Wenn
Sie sich etwa im Ahrtal die Karten mit den Überschwemmungen und den vorher
ausgewiesenen Hochwasserzonen anschauen, liegen diese weit auseinander.
taz: Was kann dann die Grundlage für Risikoanalysen sein?
Wagener: Wir sollten nicht nur fragen, was wahrscheinlich passiert, sondern
was überhaupt möglich ist. Eine Möglichkeit ist, dass wir einen Computer
viele verschiedene Niederschlagsszenarien berechnen lassen und dann
modellieren, welchen Einfluss diese hätten. Man kann natürlich nicht an
jedem kleinen Fluss einen Damm bauen, aber so kann man sich zumindest des
Risikos etwas bewusster werden und die Menschen entsprechend
sensibilisieren. Es ist schwierig, sich immer richtig zu verhalten, wenn
wir solche Extreme noch nie selbst erlebt haben oder wenn die
Hochwasserzonen zu klein geschätzt sind. Bei der Flut im Ahrtal etwa
starben viele der Opfer in Bereichen, wo sie sich sicher glaubten. Auch
entwickelt sich das Risiko an unterschiedlichen Orten sehr verschieden. In
einigen Regionen steigt die Gefahr, während sie andernorts sinkt.
taz: In Zentralafrika kam es zuletzt zu verheerenden Überschwemmungen, wie
ist das zu erklären?
Wagener: Durch die Erwärmung der Atmosphäre steigt die
Niederschlagsintensität, weil wärmere Luft mehr Feuchtigkeit speichern
kann. Zudem sind die extremen Niederschläge jetzt in dafür ungewöhnlichen
Regionen gefallen. Das hängt mit großräumigen Verschiebungen zusammen, die
durch den Klimawandel zumindest beeinflusst werden. Die Böden dort sind oft
sehr trocken und von Dürren betroffen, weshalb sie Wasser schlecht
aufnehmen. Aus dem abfließenden Wasser bilden sich reißende Bäche und
Flüsse. Das kann die Infrastruktur wie Staudämme zusätzlich belasten und
überfordern.
taz: Wie können die neuen Risiken verständlich kommuniziert werden?
Wagener: Das muss immer mehr Teil der Allgemeinbildung werden. Jeder Mensch
muss ein bisschen was von Hydrologie und vor allem hydrologischen Extremen
verstehen. Wichtig ist dabei, dass alle Menschen dieses Wissen für ihre
Region begreifen. Wir können nicht allgemein sagen, dass 200 Liter Regen in
einer Stunde überall zu einem Riesenunglück führen. Wenige Wochen nach der
Flut im Ahrtal gab es beispielsweise in Potsdam ein ähnliches
Niederschlagsereignis, aber unter komplett anderen Grundbedingungen. Der
Regen hat nicht zu einer Flut geführt, sondern nur lokal die Straßen
blockiert, denen man auf dem Fahrrad ausweichen musste. Deswegen müssen die
Menschen die Besonderheiten ihrer Region kennen. Gibt es gefährliche Täler?
Welcher Fluss hat die größte Hochwassergefahr? Wohin fließt Niederschlag
hier ab?
taz: Gibt es Länder oder Orte, die da Vorbild sein können?
Wagener: Ich war vor Kurzem zu einer Forschungsreise in China. Da habe ich
ein System gesehen, wo die Gullys auf Straßen mit einem Netz unter dem
Deckel versehen werden. Bei starkem Niederschlag kann es vorkommen, dass
der Deckel weggeschwemmt wird, dann entwickelt sich so ein Gully zu einer
kaum sichtbaren Falle. Durch die Netze können Menschen trotzdem nicht
hineinfallen. Solche kleinen Anpassungen können einen wichtigen Beitrag zum
besseren Umgang mit Extremwetter leisten.
taz: Wie gut ist die Infrastruktur hierzulande auf das, was der Klimawandel
in den nächsten Jahren mitbringt, vorbereitet?
Wagener: In den vergangenen Jahren ist mehr investiert und verbessert
worden. Das große Problem ist allerdings, dass unser politisches System oft
nicht vorsieht, dass wir Geld investieren, ohne dass vorher etwas passiert
ist. Immerhin nimmt das Problembewusstsein zu. Ich hoffe sehr, dass wir
bald ganzheitlicher über den Wandel des Wasserkreislaufs nachdenken.
Maßnahmen zur Hochwasserprävention haben auch einen Einfluss auf Dürren.
Das müssen wir alles zusammen neu denken.
taz: In den USA sind durch Hurrikane zuletzt mehr als 200 Menschen
gestorben. Liegt das daran, dass die Menschen es nicht ernst nehmen, wenn
sie aufgefordert werden, ihre Häuser zu verlassen?
Wagener: Jede Person kann mit ihrem Verhalten einen Beitrag zur eigenen
Sicherheit leisten. Die Vorhersage von großen Systemen wie einem Hurrikan
ist inzwischen relativ präzise möglich. Da sind riesige Regionen
betroffen, extremer Niederschlag tritt hingegen oft nur sehr lokal auf. Den
genauen Ort vorherzusagen ist schwierig. Natürlich müssen sich die Menschen
in den Hurrikan-Gebieten dann aber dazu entscheiden, den Empfehlungen der
Behörden zu folgen. Der Sheriff des Taylor County in Florida hat die
Menschen, die trotz aller Warnungen in ihren Häusern bleiben wollten,
gebeten, ihr Geburtsdatum und ihren Namen auf den Unterarm zu schreiben,
damit sie im Todesfall einfacher identifiziert werden können. Ich denke,
das war ein Versuch der Polizei, den Menschen die Gefahr sehr deutlich zu
machen.
taz: Wie verhalte ich mich, wenn es bei mir zu Hause zu Hochwasser kommt?
Wagener: Eine wichtige Regel ist, niemals in den Keller zu gehen. Selbst
wenn das Wasser in einem Kellerraum weniger als einen halben Meter hoch
steht, bekommt man die Tür schnell nicht mehr auf. Dann wird der Keller zum
tödlichen Gefängnis. Dies kam auch im Ahrtal vor. Wichtige Dokumente
sollten daher nicht im Keller aufbewahrt werden.
27 Oct 2024
## AUTOREN
|