# taz.de -- Ein Besuch bei Hexen: Zauber wirken

> Der Glaube an Hexenkunst liegt nicht nur zu Halloween im Trend. Die Rolle
> der Hexe ist für viele Frauen ein attraktives Angebot.
Eine junge Frau in fleischfarbenem Jumpsuit fängt zaghaft an zu tanzen und
bearbeitet dabei ein Tamburin. Ihre Bewegungen werden mit der Zeit
zunehmend ekstatischer, die Klänge des Instruments lauter, der Blick der
Frau immer intensiver.

Während ihrer Performance, die sie Mitte Oktober in einer kleinen Berliner
Galerie in Kreuzberg aufführt, hat sie Elektroden an ihrem Kopf angebracht,
die ihre Gehirnströme messen sollen, deren Ausschläge auf einem Monitor zu
sehen sind. Was sie da aufführt, ist ihre computergestützte
Neuinterpretation eines alten italienischen Tanzrituals, das ausschließlich
Frauen vollführten. Sie glaubten, von einer Tarantel gestochen worden zu
sein, und sahen in dem oft Stunden andauernden Tanz eine Mischung aus
Gegengift und selbst angewandtem Exorzismus. Frauen, die sich derart „wie
von der Tarantel gestochen“ aufführten, wurden gerne verfemt und
pathologisiert, ihr Treiben nannte man „Tarantismus“, „Veitstanz“ oder
„Tanzwut“. Sie wurden teilweise als Hexen diffamiert, die durch den
vermeintlichen Biss der riesigen, schwarzen und haarigen Spinne vom Teufel
besessen wären.

Frauen, einst Virtuosinnen im auch für den süditalienischen [1][Volkstanz
Tarantella] wichtigen Spiel auf dem Tamburin, machten sich irgendwann
verdächtig, wenn sie auf der Rahmentrommel spielten. Die Performerin
Martina Carbone, die in der Kreuzberger Galerie den Tarantel-Tanz
nachstellt und selbst aus Süditalien stammt, erklärt nach ihrer Aufführung,
heute sei das Tamburin in ihrer Heimat ein Instrument, das mehrheitlich nur
noch von Männern in die Hände genommen werde.

Die Tanzperformance findet im Rahmen der Ausstellung „Casting a spell“
statt, was sich mit als „einen Zauber wirken“ übersetzen lässt. Kuratiert
wurde diese von einem Mitglied des deutsch-italienischen Kunst- und
Performance-Kollektivs „Witches are back“, das sich gemäß Eigendefinition
positiv auf Hexen und deren angebliche Befähigung zum Zaubern bezieht. Im
Einführungstext zur Ausstellung heißt es, man wolle mit Kunst und Magie
Alternativen in einer von Pharmariesen und IT-Giganten beherrschten und
wissenschaftshörigen Welt aufzeigen. Von „rituellen Praktiken für eine
trans-feministische Gegen-Apokalypse“ ist die Rede. Eine der gezeigten
Arbeiten lädt zum Beispiel dazu ein, mithilfe einer Open-Source-Software
eine Séance gegen die immer unangenehmer werdenden Machenschaften von
Techmilliardär und Tesla-Chef Elon Musk zu veranstalten.

Die Hexen von heute, sie reiten nicht mehr auf einem Besen und benutzen
keinen Zauberstab, wenn sie bestimmte Zustände mithilfe von Magie verändern
wollen, sondern einen Laptop.

## Die Hexen im Trend

Die Hexe als Metapher und der Glaube an Hexenkunst ist seit ein paar Jahren
ein Trend. Bei TikTok zeigen inzwischen derart viele Mädchen und junge
Frauen in kurzen Clips, wie man sich gegen böse Flüche schützt,
Liebeszauber praktiziert und die Zukunft vorhersagt, dass das Phänomen
einen eigenen Namen bekommen hat: WitchTok.

Friederike Berger vom [2][Frauen*stadtarchiv Dresden], die vor ein paar
Jahren für ein Projekt bereits Hexenverfolgung und aktuelle Entwicklungen
rund um die Selbstbezeichnung als Hexe kritisch untersuchte, erkennt hier
„Realitätsflucht in kriselnden Zeiten.“ Es gehe bei WitchTok vor allem um
eine bestimmte Ästhetik, um „witchy vibes“ und „dunkle Farben,
Herbstanmutung und dampfende Suppenschüsseln“, die eine gewisse Coziness
verbreiten sollen. Das Auftreten als Hexe sei hier „gar nicht unbedingt mit
einer tiefergehenden Überzeugung verknüpft“.

Ganz anders ist das bei Alex von [3][„Witches are back“], die sich auch
Suit Kei nennt und Mitgründerin des Kollektivs ist, das es bereits seit 15
Jahren gibt, also weit vor Tik- und WitchTok. Alex ist also eine
vergleichsweise, nun ja, alte Hexe. Von WitchTok hält sie nicht viel und
nennt das Phänomen eine kapitalistische Aneignung und Vermarktung echter
Hexenkunst. Derartige Auswüchse des Kapitalismus wolle sie als
kapitalismuskritische Hexe eigentlich bekämpfen. Als queer- und
transfeministischer Hexe gehe es ihr aber vor allem um die Abschaffung des
Patriarchats. Alte Feministinnen wie Alice Schwarzer wurden von ihren
Gegnern Hexe genannt, die jungen bezeichnen sich nun selbst als solche.

Transfeministische Cyberhexen, WitchTok-Hexen, Kräuterhexen, Hellseherinnen
– Friederike Berger vom Frauen*stadtarchiv Dresden sagt, die moderne
Hexenszene sei ziemlich heterogen, „es kursieren ganz viele individuelle
Interpretationen, was es bedeutet, eine Hexe zu sein“. Generell erkennt sie
in der heutigen Selbstbezeichnung „Hexe“ eine „Rückaneignung“ des Begriffs.
Der Hexerei bezichtigt zu werden war vor allem in der Frühen Neuzeit und
nicht nur im finsteren Mittelalter, wie immer fälschlicherweise angenommen
wird, ein „Straftatbestand, unter dem Frauen verfolgt, eingesperrt bis
hingerichtet werden konnten“. Das heißt, so Berger: „Alle Frauen, die
irgendwie schräg aufgefallen sind, konnte man so leicht beseitigen.“

## Rückaneignung als feministischer Akt

Schräg heißt in diesem Kontext „unangepasst“. Frauen, „die nicht der
gesellschaftlichen Norm entsprachen, gebildete Frauen, die auf eigenen
Beinen standen und die sich selbst zu helfen wussten“, seien ganz besonders
der Verfolgung als Hexen ausgesetzt gewesen, so Berger. Somit sei die
Rückaneignung dieses Begriffes ein „feministischer Akt“.

Mit zu dieser Rückaneignung gehört die unter modernen Hexen weit
verbreitete feministische Lesart, dass mit der damaligen Verfolgung und
Vernichtung von Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden, auch deren
Wissen weitgehend ausradiert wurde. Von Frauen erdachte Heilmethoden und
Formeln für bestimmte Tinkturen wurden demnach vom patriarchalischen und
misogynen Klerus aus dem Verkehr gezogen. Die heutigen Hexen wollen diese
Geheimwissenschaften, Rituale und Bräuche nun wieder gesellschaftsfähiger
machen. Oder wenigstens darauf aufmerksam machen, welche von Frauen
erdachten Heilverfahren es einmal gab.

Wozu dann auch der in der Kreuzberger Galerie aufgeführte Tarantel-Tanz
gehört. Von dem die Wissenschaft heute übrigens weiß, dass dieser
eigentlich auf den Biss der kleinen, aber ziemlich giftigen Spinnenart
Schwarze Witwe zurückzuführen ist, der zu Krämpfen führen kann im
Gegensatz zum Biss der vergleichsweise harmlosen Tarantel, wie sie in
Süditalien vorzufinden ist.

Dass junge Frauen heute das Bedürfnis haben, Heilmethoden neu zu entdecken,
die von als Hexen diffamierten Frauen erdacht wurden, kann Friederike
Berger durchaus nachvollziehen. „In unserer Medizingeschichte wurden Frauen
immer schon ausgeklammert. Zum Beispiel durften sie nicht Medizin
studieren, als diese als Universitätsfach etabliert wurde. So konnten sie
ihre Perspektiven auf gesundheitliche Probleme nicht auf Augenhöhe
einbringen.“ Wozu auch Fragen rund um die Reproduktion und
Schwangerschaftsabbrüche gehörten. In ihrer Not wandten sich Frauen dann an
angebliche Hexen, die auf diesem Gebiet Wissen angereichert hatten und
Hilfe boten. „Weswegen auch speziell Hebammen schnell in den Verdacht
gerieten, Hexen zu sein“, so Berger.

Das Bemühen, derart verdrängtes Wissen zu rehabilitieren, kann individuell
ziemlich unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Karol Küenzlen-Zieliński
von der [4][SektenInfo Berlin] erwähnt die [5][sogenannten Wicca], die sich
im frühen zwanzigsten Jahrhundert zu einer Art Religionsgemeinschaft der
Hexen entwickelte haben. Hier sei in unterschiedlichen Abstufungen eine
bestimmte Weltanschauung finden, zu der etwa neuheidnische Rituale und eine
betonte Nähe zur Natur gehörten.

## Hexenrituale und ein Hexenbesen

Wie weit das gehen kann, zeigt sich bei einem Besuch von Theresa Anneken in
ihrer Berliner Privatpraxis für Psychotherapie, in der sie auch
„spirituelle Arbeit“ und „spirituelle Beratung“ anbietet. Anneken nennt
sich selbst Hexe durch und durch, hat die Hexenschule in Berlin besucht,
die es tatsächlich gibt und die Hexenrituale lehrt, und in einer Ecke ihrer
Praxis steht ein echter Hexenbesen.

Sie biete ihren Patienten und Patientinnen „Imaginationsreisen“ und
„schamanische Reisen“ an. Sie spricht von einem „höheren Selbst“, mit dem
es sich zu verbinden gelte, um über „Lichtatmung“ an seine „Akasha-Chronik“
heranzukommen. Ahnen müssten dabei „erlöst“ und „ins Licht geführt“ werden.
Derartige esoterische Praktiken sind Teil ihrer psychotherapeutischen
Arbeit mit Patienten und Patientinnen, die beispielsweise über
Depressionen oder Essstörungen klagen.

Hexe zu sein bedeute für sie eine bestimmte „Sicht auf die Welt“. Sie
glaube beispielsweise, dass an Halloween, dieser in die Gegenwart
geretteten Tradierung eines alten keltischen Totenfestes, es einfacher als
sonst sei, Kontakt mit verstorbenen Ahnen aufzunehmen. Dass sie als Hexe
eine „Hüterin der Erde“ sei und in besonderem Kontakt „mit den Elementen,
der Erde, dem Tierreich und den Pflanzen“ stehe. Und „Liebesmagie“ und
ähnlicher „Manifestationszauber“ wirklich funktionieren. Auch von den
hellseherischen Kräften der Leiterin der Hexenschule, die ihre Institution
kurz vor der Coronapandemie von Präsenzunterricht auf Zoom-Meetings
umgestellt hat, weil sie die Ära der Lockdowns vorhergesehen haben will,
ist sie überzeugt. Wenn man selbst etwas schmunzeln muss, als man von
diesen angeblichen Fähigkeiten erzählt bekommt, fängt man sich einen nett
gemeinten Tadel ein.

Karol Küenzlen-Zieliński von der SektenInfo Berlin sagt, dieser Glaube an
die real existierende Wirkung von magischen Ritualen sei im Prinzip nicht
weiter schlimm, auch jede Religionsgemeinschaft beinhalte den Glauben an
Übersinnliches. Problematisch werde es erst, wenn etwa bei ernsthaften
Krankheiten ausschließlich Ritualen vertraut werde.

So sieht das auch Friederike Berger. Sich als geheimgelehrte Frau und
Naturheilkundlerin zu sehen habe etwas „Selbstermächtigendes“ sagt sie:
„Ich nehme meine Gesundheit selbst in die Hand, ohne die sogenannte
Schulmedizin, die Frauen ja tatsächlich ausgeklammert hat aus der
Forschung.“ Es müsse aber unbedingt kritisch reflektiert werden, wie sehr
man selbst daran glaubt, dass ein Ritual womöglich sogar eine
Krebserkrankung heilen kann. „Ein Ritual kann eine Wirkung haben“, sagt
sie, indem man beispielsweise „bewusst entspannt bei einer Teezeremonie mit
Heilkräutern. Aber das heilt natürlich keinen Krebs“. Finanzielle
Interessen sollten bei Angeboten aus der Hexenszene immer hinterfragt
werden: „Was genau wird versprochen und zu welchem Preis?“

Kritisch sieht Berger auch bei einigen Selbstermächtigungsprozessen
moderner Hexen zugrunde liegende bionormative Geschlechterkategorien. Es
gebe teilweise eine Fokussierung auf weibliche „Fruchtbarkeit“, die
geschlechtliche Vielfalt und Menschen mit Erkrankungen ausschließe.

## Die Macht der Hexen

Der allgemeine Boom von Fantasy, Harry Potter und „Game of Thrones“ hat
dazu beigetragen, dass Esoterik und Spiritualität gerade so in Mode sind
und damit auch gute Geschäfte gemacht werden. „Aura“ ist das Jugendwort des
Jahres, und im Internet lassen sich zig Angebote für sogenannte Aurasprays
finden, die einen beispielsweise vor „Energieverlust durch Mitmenschen“
schützen sollen.

In diesem Spannungsfeld aus Esoterik-Hype und feministischem Anliegen ist
die Rolle der Hexe ein attraktives Angebot an vornehmlich junge Frauen.
Hexe zu sein verleihe Macht, sagt Theresa Anneken. „Du kannst Einfluss
nehmen auf Krankheiten und Gesundheit. Und bei einem Anziehungszauber
bewirken, dass eine Person zu dir zurückkommt.“ Und das Gefühl von Macht
schafft Selbstbewusstsein und trägt zur Emanzipation bei.

Auch rein optisch entwerfen sich die neuen Hexen nun nach eigenen
Vorstellungen. Die Imagination der verführerischen Hexe als Femme fatale,
wie sie popkulturell verarbeitet in Filmen oder auf Schallplattencovern wie
etwa „Witchcraft!“ (1965) von Nelson Riddle zu sehen ist, wird übernommen,
indem man sich dann an Halloween als sexy Hexe verkleidet.

Aber genauso wird auch das Zerrbild der Hexe als hässlicher alter Frau mit
krummer Nase im eigenen Sinne umgedeutet. „Viele Hexen entziehen sich
bewusst dem ‚male gaze‘“, so Friederike Berger, „sie stylen sich nicht für
Männer und schaffen so einen Safe Space für Frauen.“ Diese Abkehr vom
männlichen Blickregime reiche dann bis hin zu einer Bewegung wie [6][4B in
Südkorea], bei der Frauen anstreben, sich von der Welt der Männer komplett
abzuschotten. „Die Rückaneignung der Hexenidentität als gefürchtete Frau,
mit der Männer nichts zu tun haben möchten, weil sie so hässlich und
grässlich ist, ist von vielen Frauen auch erwünscht“, so Berger, „sie
wollen die männliche Aufmerksamkeit und Fürsprache gar nicht mehr.“

Die Transformation des Hexenbildes und der Hexenidentität ist also im
vollen Gange. Wobei man aber auch erwähnen sollte, dass es in einigen
Ländern des Globalen Südens weiterhin Hexenverfolgungen gibt, bei denen
Frauen zu Tode kommen.

Zum Schluss aber noch zu der Frage, warum genau Theresa Anneken einen
Hexenbesen in ihrer Praxis stehen hat. Nein, nicht als Fortbewegungsmittel,
sie hat ein Auto. Der Besen diene dazu, Ritualplätze zu reinigen, sagt sie.
Diese werden geschützt durch Reisig, Steine, Salz oder Mehl. Dann werde das
„Feuer der Transformation“ entzündet und „alle Elemente angerufen“. An
Halloween kommt der Hexenbesen wieder zum Einsatz.

31 Oct 2024

## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Tarantella
[2] https://frauenstadtarchiv.de/
[3] https://witchesareback.com/
[4] https://www.berlin.de/sen/jugend/familie-und-kinder/sekteninfo-berlin/
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wicca
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/4B_movement
## AUTOREN
Andreas Hartmann
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