| # taz.de -- Berliner Kitas dürfen nicht streiken: Die Kitastrophe
> Die Arbeitsbedingungen in landeseigenen Berliner Kindertagesstätten
> sind katastrophal. Erzieher*innen sorgen sich um das Wohl der Kinder.
Berlin taz | Es ist eine Nachricht, die vielen Eltern das Fürchten gelehrt
hat. Die Mail oder der Anruf aus der Kita mit der Bitte, das Kind wenn
irgend möglich zu Hause zu behalten. Weil in der Kita so viele
Mitarbeiter*innen aktuell ausfallen, dass sie die vereinbarten
Betreuungszeiten nicht einhalten können. „Im vergangenen Jahr gab es eine
Zeit, da wurden wir gebeten, die Kinder freitags zu Hause zu lassen. Und
das über Wochen“, sagt eine Mutter, deren Kinder in eine landeseigene Kita
in Berlin-Neukölln gehen. Es habe eine Notbetreuung für rund 15 Kinder pro
Gruppe gegeben. „Dazu mussten wir Eltern uns untereinander abstimmen, wer
seine Kinder in die Kita schickt“, sagt sie. Mails mit der Bitte, die
Kinder früher abzuholen, etwa um 15 statt um 17 Uhr, die bekämen sie
ebenfalls regelmäßig. „Ständig ist die Kita unterbesetzt, zu wenig
Erzieher*innen da“, sagt sie.
Aber nicht nur Mails von der Kita lösen bei der Mutter Sorgen aus. „Ich
habe meine Kinder auch schon mal bewusst nicht hingebracht, weil absehbar
war, dass der Betreuungsschlüssel eher 1:15 oder 1:20 sein würde“, sagt
sie. Das bedeutet, dass ein*e Erzieher*in 15 bis 20 Kinder betreut
hätte. So eine Situation würde sie beunruhigen. Und sie sieht es auch als
Entlastung für die Erzieher*innen. „Ich denke, da sind die Kinder zu Hause
einfach besser aufgehoben.“
Die Erzieher*innen an Berlins landeseigenen Kitas wollen solche
Zustände nicht mehr hinnehmen. Deshalb wollten sie von Montag an
unbefristet streiken. Zuvor hatten sie über Monate erfolglos versucht, mit
dem Berliner Senat zu verhandeln. Der hatte gegen den Streik geklagt und in
erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Recht bekommen. Die Erzieher*innen,
vertreten von der Gewerkschaft Verdi, legten dagegen Berufung ein, die am
Freitag in zweiter Instanz vom Landesarbeitsgericht abgewiesen wurde.
Den Erzieher*innen geht es dabei gar nicht um mehr Geld – sondern um
die Arbeitsbedingungen. Dahinter steht ein Grundkonflikt, der derzeit in
unterschiedlichen Branchen verhandelt wird. In den Kitas fordern sie einen
„Tarifvertrag Pädagogische Qualität und Entlastung“ – aus ihrer Sicht eine
logische Reaktion auf den Fachkräftemangel. Wie auch schon die
Krankenhausbewegung der Pfleger*innen, streikende Lehrer*innen und teils
auch Lokführer*innen und Busfahrer*innen argumentieren die
Erzieher*innen: Erst wenn ihre Arbeitsbedingungen besser werden, ergreifen
Menschen diese Berufe, lassen sich dort ausbilden oder kommen (teils nach
Kündigungen aus Frust) zurück. Von der Gegenseite heißt es stattdessen:
Weil es eh schon zu wenige Pfleger*innen, Erzieher*innen,
Lehrer*innen oder Busfahrer*innen gibt, sind entlastende Maßnahmen,
die mehr Beschäftigte erfordern, unmöglich.
Ich bin im ersten Lehrjahr und habe jetzt eigentlich schon keine Lust mehr.
Ich werde als Mitarbeiterin in Ausbildung komplett auf den Schlüssel
angerechnet. Die Zeit, die ich wöchentlich mit meiner Mentorin verbringen
sollte, fällt regelmäßig aus, auch die eine Stunde Studienzeit, die mir pro
Woche zusteht, verbringe ich dann doch in der Betreuung. Letztens war ich
an einem Montag sogar am Anfang ganz allein mit den Kindern. Was eigentlich
gar nicht sein darf. Es sind 23 Kinder – und wenn eins davon gewickelt
werden muss, wären die anderen 22 allein. Ich bin 37 Jahre alt und frage
mich oft, wie es wohl für 19-Jährige in so einer Situation wäre. Inzwischen
bin ich unsicher, ob ich die Ausbildung bis zum Ende durchhalte.
Die Erzieher*innen protestieren unter dem Slogan: „Bildung statt
Aufbewahrung“. Konkret fordern sie, dass das Verhältnis von tatsächlich
verfügbaren Fachkräften und Kindern im Vordergrund stehen soll: Ein*e
Erzieher*in soll demnach maximal 2 Kinder betreuen, die unter einem Jahr
alt sind, oder maximal 3 Kinder von 1 bis 3 Jahren oder maximal 7,5 Kinder
über 3 Jahren bis zur Einschulung.
Wenn dieses Verhältnis real nicht eingehalten werden kann, fordern die
Erzieher*innen Konsequenzen: Die Kita müsste dann die Betreuungszeiten
verkürzen, Eingewöhnungen kleiner Kinder verschieben oder Gruppen
schließen. Für den Fall, dass Erzieher*innen doch mit mehr Kindern
arbeiten, fordern sie Freizeitausgleich. Auszubildende sollen außerdem
nicht auf den Personalschlüssel angerechnet werden und verpflichtend mehr
Zeit mit ihren Mentor*innen bekommen. Nur mit solchen deutlich
verbesserten Arbeitsbedingungen sei eine qualitative pädagogische Arbeit in
den Kitas möglich, sagen die Gewerkschaften Verdi und GEW.
Denn aktuell ist es so, dass im gesetzlich geregelten Personalschlüssel
festgelegt ist, wie viele Erzieher*innen jeweils wie viele Kinder
betreuen sollen. Dieser folgt Berechnungen und bezieht auch etwa einen
erhöhten Förderbedarf von Kindern mit ein. Allerdings sagt der Schlüssel
wenig darüber aus, wie viele Erzieher*innen tatsächlich mit den Kindern
arbeiten. Denn der Schlüssel berücksichtigt nur, wie viele Fachkräfte
eingestellt sind – nicht aber, dass diese ausfallen könnten, etwa wenn sie
krank sind, sich fortbilden, weil sie freigestellt sind oder aber weil sie
andere, etwa verwaltende Tätigkeiten erledigen müssen.
## Zum Nachteil der Kinder
„Der Betreuungsschlüssel steht nur auf dem Papier“, sagt Kathrin P. Sie ist
Erzieherin und Mentorin und engagiert sich bei Verdi. Ihren Nachnamen
möchte die 34-Jährige nicht öffentlich nennen, aus Sorge vor Konsequenzen.
„Wir sind 8 Leute, alle in Teilzeit, und wir sind nie alle gleichzeitig
da“, sagt sie. Es könne durchaus vorkommen, dass sie in die Kita komme und
5 Kolleg*innen seien krank gemeldet. „Dann geht es nur noch darum, zu
gucken, dass Früh- und Spätdienst gesichert sind, eigentlich geplante
Elterngespräche abzusagen und Eingewöhnungen zu verschieben“, erklärt P.
„Und dabei ist klar: Jede Entscheidung, die wir in dieser Situation
treffen, ist zu unserem Nachteil oder zum Nachteil der Kinder.“
Solche Situationen kämen ständig vor, sagt P. – und sie seien sehr
belastend. Nicht nur für sie selbst als erfahrene Erzieherin, sondern auch
für die Auszubildenden, die sie als Mentorin betreut: „Ich spreche mit
ihnen viel darüber, wie sie es überhaupt schaffen können, pädagogische
Arbeit in diesen Rahmenbedingungen umzusetzen – und was sie tun können,
wenn das nicht möglich ist“, sagt P. „Ein großes Thema ist auch, wie sie es
selbst verarbeiten, dass es so oft einfach nicht geht.“ Ständig seien die
Erzieher*innen bereits in der Ausbildung damit konfrontiert, dass das,
was sie lernen, nicht umsetzbar ist. Erzieher*innen kämen im Alltag
viel zu oft in Situationen, in denen sie etwa zu den Kindern sagen: „Du
machst das jetzt, weil ich das sage“, wohl wissend, dass die Situation
pädagogisch viel besser lösbar wäre. „Irgendwie kriegen wir es immer hin –
aber das ist keine hochwertige Arbeit“, sagt P.
„Wir haben Zahlen, die zeigen: Etwa ein Viertel der Fachkräfte verlässt in
den ersten Berufsjahren den Beruf“, sagt Rahel Dreyer. Sie ist Professorin
für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre und leitet
den Studiengang Kindheitspädagogik an der Alice-Salomon-Hochschule in
Berlin. Ein Grund für die Flucht aus dem Beruf sei eben gerade, dass
pädagogische Fachkräfte das, was sie gelernt und wofür sie den Beruf
gewählt hätten, nicht umsetzen könnten. „Die geforderten Entlastungen sind
daher eine ganz, ganz wichtige Maßnahme – um Menschen überhaupt im System
zu halten und auch um mittel- oder langfristig dazu zu ermutigen, in den
Beruf zurückzukehren.“
Wir sind zu zweit, zwei erfahrene Erzieher*innen mit 17 Kindern – alle
unter drei Jahre alt. Meine Kollegin ist gerade mit 5 Kindern ins Bad
gegangen, 2 sind im Flur in Streit geraten, sie schlagen und beißen sich.
Ich bin damit beschäftigt, die beiden zu trennen und zu beruhigen, den
Streit zu schlichten, das dauert ein paar Minuten. Währenddessen sind 9
Kinder allein in einem anderen Raum. Als ich zurückkomme, sehe ich, dass
sie die Tür zu einem anderen Raum geöffnet haben, die normalerweise
geschlossen ist. Sie haben Gläser aus einem Schrank geholt – die sind dort
extra in kindgerechter Höhe, damit sie sich selbstständig eins nehmen
können. Einige Gläser sind kaputt gegangen. Kinder sitzen und krabbeln
zwischen Glassplittern, ein Kind hat Scherben am Mund.
Im September rechnete Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch
(CDU) im Abgeordnetenhaus vor, dass die Ausstattung mit Erzieher*innen
in den Kitas des Landes rechnerisch über 100 Prozent liege – selbst wenn
sie die Ausfälle wegen Langzeiterkrankungen, Beschäftigungsverboten und
Elternzeit herausnehme. Keiner habe gesagt, dass die Situation rosig sei,
räumte sie ein. Und es gäbe einige Kitas, die sehr belastet seien. „Aber
ich verwehre mich dagegen, zu behaupten, dass es sich um einen Flächenbrand
handelt und dass es keine Entlastungs- und Unterstützungsangebote gegeben
hat.“
Um die Gewerkschaftsforderungen zu erfüllen, bräuchte es circa 4.000
Erzieher*innen mehr, aus Sicht der Senatorin „der blanke Hohn“. Das
Verdi-Angebot, bei Unterschreitung von festgelegten Betreuungsverhältnissen
die Öffnungszeiten der Kitas einzuschränken, sei „ein vergiftetes Angebot“.
Sie wolle alles dafür tun, einen unbefristeten Streik zu verhindern, auch
„im Sinne Tausender Berliner Eltern“. Für konstruktive Gespräche sei der
Senat weiterhin jederzeit offen.
## Landesregierung will nicht verhandeln
Die Gewerkschaft selbst zeigte sich zuletzt offen für Vereinbarungen wie
etwa an der Uni-Klinik Schleswig-Holstein, wo eine sogenannte
„Entlastungsvereinbarung“ geschlossen wurde. Berlins schwarz-rote
Landesregierung steht auf dem Standpunkt, dass sie mit den
Erzieher*innen nicht verhandeln könne, weil die Forderungen die
Tarifvereinbarung der Länder (TdL) berühren: Berlin könnte aus der
Tarifgemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn das Land an der TdL vorbei
eigene Tarifverträge abschließt.
Die Erzieher*innen macht diese Haltung zunehmend wütend. „Es kränkt
mich, dass der Senat uns als Lügner darstellt, die die Situation schlimmer
machen, als sie ist“, sagt Erzieherin P. „Wir protestieren, um die
Situation zu verbessern, für die Kinder. Und die politisch
Verantwortlichen lassen uns im Stich. Da überlege ich mir, ob ich so
weiterarbeiten will – oder kann.“ Sie kenne viele Kolleg*innen, denen es
ähnlich ginge. „Wir wollen einfach nicht, dass uns unsere Arbeit krank
macht. Und wir wollen nicht nur aufpassen, dass kein Kind stirbt.“
In die Kita meines Sohns gehen 61 Kinder, und dort arbeiten 9
Erzieher*innen, einige in Teilzeit. Eine von ihnen hat die Fortbildung,
mit der sie bestimmte Förderungen durchführen kann. Nur: Sie ist von
morgens bis abends in der Betreuung. Wie soll sie da individuell fördern?
Damit sie dafür Zeit hätte, bräuchte die Kita mehr Mitarbeiter*innen. Aber
die gibt es nicht. Viele Eltern sind froh, wenn sie einen Platz in der Kita
haben, sie denken, mit der Bildung geht es dann in der Schule los. Andere
arbeiten Teilzeit, weil sie ihre Kinder nicht nur verwahrt wissen wollen.
Aber Kita ist nicht nur Basteln. Da werden die Grundlagen für unser
gesellschaftliches Zusammenleben gelegt. Nur so, wie sie jetzt sind, können
Kitas gar keine Chancengerechtigkeit herstellen oder Werte vermitteln. Das
muss die Politik verstehen, und deshalb unterstütze ich als Vater den
Streik und rede mit vielen Eltern, um die Perspektive der
Erzieher*innen verständlich zu machen.
Wenn Kitas unterbesetzt sind, müssten sie eigentlich an den Träger eine
Gefährdungsanzeige stellen, der Träger muss die an das Jugendamt
weiterleiten. Erzieherin P. sagt, dass diese Anzeigen aus ihrer Sicht
selten Konsequenzen haben.
## Unverständnis unter Eltern
Unter den Eltern gibt es Unterstützung für die streikenden
Erzieher*innen – aber auch viel Unverständnis. Der Konflikt werde auf
ihrem Rücken ausgetragen, sagt etwa Guido Lange, Vorsitzender von Berlins
Landeselternausschuss Kita. Doch warum solidarisieren sich die Eltern nicht
flächendeckend mit dem Streik – in dem es, wie die Erzieher*innen
betonen, um das Wohl der Kinder geht?
„Da ist ganz viel Druck im System“, sagt Erziehungswissenschaftlerin
Dreyer. „Und das nicht erst seit gestern.“ Schon während Corona hätte sehr
viel Last auf den Familien gelegen. „Und bisher wuppen Eltern und
Erzieher*innen das noch irgendwie, über jetzt schon eine lange Zeit
schultern sie die Probleme und gleichen aus und tun alles, damit es
irgendwie doch immer wieder klappt“, beobachtet Dreyer. Das ließe sich aber
nicht unbegrenzt aufrechterhalten. „Studien zeigen, dass Familien seit
Langem an ihre Grenzen gegangen sind, auch Gewalt in den Familien steigt
an“, sagt sie. „Viele wissen nicht mehr weiter.“ Dazu kämen Ängste, den Job
zu verlieren.
Dreyer ist Mitunterzeichnerin eines Brandbriefs, der Missstände in den
Kitas anprangert, nicht nur in Berlin. Sie unterstützt die Forderungen der
Erzieher*innen. „Für eine kindgerechte Betreuung brauchen wir sogar noch
mehr Erzieher*innen, als die gesetzlichen Schlüssel vorgeben“, sagt
sie. „Erst wenn Kinder sich sicher und wohlfühlen, weil ihre Bedürfnisse
nach Dialog, nach Körperkontakt, Spielpartner*innen und individuelle
Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit, Bewegungsdrang gestillt sind, können sie
auch von Bildungsangeboten in der Kita profitieren“, sagt sie. Dafür
bräuchte es erwachsene Bezugspersonen.
Deutlich mehr, als zurzeit unter den gegebenen Bedingungen anwesend sind.
„Pädagogischen Fachkräften würde ich raten, konsequent Belastungsanzeigen
an die Arbeitgeber*innen zu stellen, wenn sie zu viele Kinder betreuen
müssen“, sagt Dreyer. In der Politik bräuchte es mehr Mut, nicht nur in
einer Legislaturperiode zu denken, sondern große Veränderungen anzustoßen.
„Die Probleme sind nicht heute oder morgen lösbar, aber teils werden schon
Besserungen angestoßen.“ Allerdings dauere es eben oft einige Zeit, bis sie
Wirkung zeigten.
11 Oct 2024
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