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Lübeck taz | Lübecks jüngster Friedhof liegt am Rand der dicht bebauten
Altstadtinsel – und beginnt im ersten Stock. Im Sommer hat die Stadt die
Genehmigung erteilt, seitdem dürfen Urnen mit der Asche von Verstorbenen in
einem denkmalgeschützten, umgebauten Kornspeicher beigesetzt werden.
Den Speicher hatte der Vater des Schriftstellers Thomas Mann vor 150 Jahren
erbauen lassen. Es ist ein siebengeschossiges Gebäude aus dem für die
Hansestadt typischen roten Backstein. Auf jeder Etage öffnen sich fünf
gleichgroße Fenster zum Hafen. Über der Tür sitzt ein Holzemblem im
Backstein. „Die Eiche“ steht darauf. Es ist der Name, unter dem der
Speicher damals in der Stadt bekannt war – und der sich nun als Name des
Kolumbariums etablieren soll, so der Fachbegriff für einen Urnenfriedhof
in einem Gebäude.
Die „Eiche“ steht an der Uferstraße, die durch Lübecks altes Hafenviertel
führt. Draußen kräuselt ein leichter Wind die Wasseroberfläche der Trave.
Ein paar Lichtreflexe hellen den Fluss auf, doch selbst bei blauem Himmel
fließt das Wasser meist grau und undurchsichtig durch das Hafenbecken.
Drinnen schmücken marmorierte, leicht spiegelnde Kacheln die Wände des
alten Speicherhauses, sie schimmern silbrig-grau und ähnlich
undurchdringlich wie die Wasserfläche des Flusses, der durch die Fenster
neben den Spiegelwänden zu sehen ist. Vereinzelt stehen schon Namen und
Lebensdaten auf den quadratischen Spiegelkacheln. Viele sind bisher aber
nur mit einem Wort beschriftet: Reserviert.
Die Kacheln sind Klappen zu Urnengräbern. Hinter den kleineren hat genau
eine (speziell angefertigte) Urne liegend Platz, hinter den größeren
öffnen sich Nischen, in die bis zu zwei Urnen hineingestellt werden können.
Auf zwei ehemaligen Speicherböden der Eiche befinden sich nun Grabflächen.
Rund 3.400 Urnen können hier beigesetzt werden – und wer für sich
beschließt, dass er oder sie hier bestattet werden möchte, kann sich
bereits zu Lebzeiten einen Platz sichern.
## Kunst hinter Glasfenstern
Die dunklen, dicken Bodendielen knarren und knarzen, wenn
Besucher*innen sich weiter ins Innere des Speichers bewegen. Die
Seitenwände sind nun mit Holzquadraten vertäfelt. Auch hier liegen
Grabflächen für Urnen hinter den Holzklappen. Vor einigen Nischen sitzen
Glasfenster: Wer hier beigesetzt wird, kann den Raum dahinter mit
Gegenständen oder Kunst gestalten lassen und so an Dinge erinnern, die
ihm*ihr im Leben wichtig waren.
Noch weiter im Innern folgen großzügige Bücherregale, mit Büchern zu
Trauer, Tod und Trost, aber auch über Lübeck, Kunst oder Lebensphilosophie.
Sessel und Sofas stehen bereit, Besucher*innen und Angehörige sind
eingeladen, in den Büchern auch zu lesen. Eine riesige, rund tausend Jahre
alte Holzscheibe verschließt den Eingang zu einem Gemeinschaftsgrab, die
Namen und Lebensdaten der hier Bestatteten sind in einem Buch vermerkt.
In der Mitte sind die Böden weggenommen, wie Galerien öffnen sich die zwei
Etagen zu dem Raum für die Trauerfeiern im Erdgeschoss. Und als hätte
jemand in einen Haufen weiße Papierschnipsel gepustet, so leicht und luftig
schweben Hunderte helle Porzellanplättchen einer Lichtskulptur an
unzähligen Fäden von der Decke.
Zufällige Besucher*innen reagieren teils erst zögerlich, wenn sie vor
der Tür stehen und verstehen, was für ein Ort der Speicher nun ist. Doch
nicht selten seien sie dann sehr angetan, viele würden angesichts des
würdevollen Orts selbst ins Nachdenken und in Gespräche über Tod und
Bestattungen kommen, erzählen Ehrenamtliche, die zu den Öffnungszeiten für
Besucher*innen und Angehörige ansprechbar sind.
Hochwertig und gediegen sind Adjektive, die angesichts von dunklem Holz,
von dickem Briefpapier, großformatigen Erinnerungsbüchern, von der
ausgestellten Kunst (Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen) und dem sorgfältig
arrangierten Blumenschmuck in den Sinn kommen. Ungeachtet des edlen
Eindrucks soll die Eiche aber auch nach dem Tod ein Ort für alle sein: Eine
Bestattung hier kostet ähnlich viel wie ein Urnengrab auf einem kirchlichen
Friedhof.
## Musik zur Geisterstunde
Eine Frau, die inzwischen dort auch bestattet ist, hatte beim Aussuchen
ihrer Grabstätte gefragt, ob es denn eine Geisterstunde gäbe, zu der sie
herauskommen könnte, um mit den anderen Verstorbenen dort zu plaudern.
Seitdem geht um Mitternacht eine kleine Lampe in der Eiche an, und bis 1
Uhr spielt Musik. Ob die Frau und andere Bestattete nun dort umgehen, ist
nicht bekannt. Die Geisterstunde liegt außerhalb der Öffnungszeiten für
lebende Besucher*innen.
12 Oct 2024
## AUTOREN
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