# taz.de -- Theateradaption von Lea Ypis Buch „Frei“: Systemkritik ohne Schärfe

> In Bremen bringen Armin Petras und Nina Rühmeier das Buch „Frei.
> Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ auf die Bühne. Die Umsetzung
> gelingt nicht.
Es ist eine Weltpremiere. Erstmals ist [1][das Buch „Frei. Erwachsenwerden
am Ende der Geschichte“] der albanischen Philosophin Lea Ypi auf einer
Theaterbühne. In einer Fassung von Armin Petras und Nina Rühmeier feierte
das Stück am Theater Bremen Premiere.

Die 45-jährige Ypi erzählt in dem Buch ihre eigene Geschichte: vom jungen
Mädchen, das im Glauben an „Onkel Enver“ und den Kommunismus in der
albanischen Hafenstadt Durrës aufwuchs. Von ihren Eltern, die sich mit
„falscher Biografie“ in Enver Hoxhas Regime durchhangelten, indem sie die
Linientreue vorspielten: Erst mit der Wende 1990 eröffneten Vater, Mutter
und Großmutter, dass alle in einem Freiluftgefängnis aufgewachsen seien und
dass unumstößliche Wahrheiten nun nicht mehr gelten würden. Der damit
einhergehende Verrat lastete schwer auf dem Kind.

Ein spannender Stoff – doch gelingt die Umsetzung auf einer Theaterbühne?
Die Erwartungen vor der Premiere sind hoch: Ypi selbst ist angereist, die
albanische Botschafterin in Berlin, Adia Sakiqi, sitzt im Publikum. Und für
Regisseur Petras war der Stoff wie zugeschnitten: Im Alter von vier Jahren
hatte ihn sein Vater 1968, kurz vor der Enttarnung als Stasi-Agent, im
Sauerland ins Auto gepackt und flog gemeinsam mit ihm und seiner Frau nach
Ost-Berlin. 1988 ging es per Ausreiseantrag wieder kurzfristig in den
Westen. Das Leben in zwei Systemen prägt ihn bis heute.

Viele der Erwartungen werden aber enttäuscht. Schlüsselszenen im Buch
werden so verkürzt und verdreht, dass sie unverständlich sind. Etwa die
Geschichte vom regelmäßigen Sturm der Kinder auf die Keksfabrik auf dem
Heimweg von der Schule. Bis zur Wende ergatterte jedes Kind gerade mal
einen Keks, mit dem Zerfall des Landes gab es bei der sogenannten
„Keksaktion“ ganze Schachteln. Der Sozialismus beruhe auf Gegenseitigkeit,
tadelt im Buch Leas Vater seine Tochter, als sie mit einem Ranzen voller
Kekse heimkehrt. Auf der Bühne aber skandieren die Kinder diese Parole.

So ist es auch mit dem Nachbarschaftsstreit um eine Cola-Dose. Sie landete
bei den Ypis, verziert mit einer Rose, als Quasi-Devotionalie in der
Schrankwand – und schmückt auch das Buch-Cover. Im Buch beschreibt Ypi die
Spitzelei und das Denunziantentum. In der Bremer Bühnenversion fällt das
weg. Und vollends ins Komödienhafte gleitet die Aufführung ab, als ein
holländischer Weltbank-Schurke mit einem überdimensionierten Plastikkäse
zwischen den Beinen über die Bühne hoppelt. Will der gelernte DDR-Bürger
Petras so plump mit dem Kapitalismus abrechnen?

Dramaturgin Rühmeier gab vor der Aufführung zu: „Wir wussten alle sehr
wenig über Albanien.“ Auch die eigene Ignoranz solle zum Thema werden.
Gelungen ist das nur eingeschränkt. Obwohl das 2021 erschienene Buch als
wichtiges Erklärstück für die Transformation Albaniens und den Übergang vom
Stalin- und Hoxha-Kult zum Neoliberalismus gilt.

Ypi lehrt heute als Professorin für Politische Theorie an der London School
of Economics und hat seit 2020 die britische Staatsbürgerschaft. Regelmäßig
wird sie [2][als „moralische Sozialistin“ gehypt.] Trotz der persönlichen
Erfolgsgeschichte warnt sie in Bremen davor, ihr Buch als „Hollywood-Story“
zu lesen, wie es immer wieder geschehe.

Die Zeitsprünge im Buch machten es Petras und Rühmeier nicht leicht. Auch
die 2001 in Moskau geborene Schauspielerin Sofia Iordanskaya, die gerade
erst am Theater Bremen beginnt und Lea spielt, nennt es in einem Interview
mit dem Weser-Kurier herausfordernd, die Entwicklung der Figur zu
vermitteln: „Mal bin ich zehn Jahre alt, dann sechs, dann wieder zwölf,
dann zwanzig.“ Das „fast schon apokalyptische Gefühl des Wandels“ in
[3][Albanien] hat sie dennoch fasziniert – und ihre Rolle hat sie bravourös
gemeistert.

Und immerhin: Petras und Rühmeier haben für die Bühne die Rolle von Leas
Freundin Elona ausgebaut, wofür Ypi ausdrücklich dankt. Elona war, als
Albanien 1991 völlig im Chaos versank, eines Tages nicht mehr zur Schule
gekommen. Die geliebte Mitschülerin war nach Italien entkommen, dort
landete sie als Sexarbeiterin auf der Straße.

Dass sie im Theater zu einem der Hauptcharaktere geworden ist, ist jedoch
Stärke und Schwäche zugleich. In Bremen prangert die Ypi beim
Publikumsgespräch „Doppelstandards“, „Heuchelei“ und eine „verstörende
Rhetorik zum Thema Freiheit“ an. Der Westen habe Staaten, die die
Bewegungsfreiheit ihrer Bürger:innen einschränkten, als kriminell
betrachtet und Revolutionen in Ost-Berlin und im kommunistischen Albanien
gefordert. Menschen, die bei der Flucht etwa aus der DDR halfen, seien im
Westen als Helden gefeiert worden. Heute spreche man von Schleppern und
Wirtschaftsflüchtlingen, es gebe „eine komplette Umkehr alles Gesagten“.

Auf die Bühne fungiert Elona als einzige Stellvertreterin für diese
Systemkritik. Damit wird ihr die Schärfe weitgehend genommen.

14 Oct 2024

## LINKS
[1] /Lea-Ypi-ueber-ihre-Jugend-in-Albanien/!5849309
[2] /Philosophin-ueber-radikale-Systemkritik/!6021416
[3] /Albanien/!t5007963
## AUTOREN
Matthias Meisner
## TAGS
Theater Bremen
Albanien
Autobiografie
Kapitalismus
Theater
Kindertheater
Theater
Westbalkan-Staaten
Freiheit
Sozialismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theater über Fremde und Freundschaft: Es war einmal ein Migrationshintergrund
Machtkampf im Einwanderungswald: Das Theater Bremen bringt das Kinderbuch
„Funklerwald“ auf die Bühne.
Regisseur über Überlegenheitsnarrative: „Wir lernen, auf vermeintlich Schwächere herabzuschauen“
„Mia san Mia“ heißt ein Stück des Regisseurs Marco Layera an den Münchner
Kammerspielen. Ein Gespräch über Parallelen zwischen Deutschland und Chile.
Osteuropa-Experte über Westbalkan: „Die EU setzt Doppelstandards“
Osteuropa-Experte Ulf Brunnbauer über die Lage im Westbalkan und den
EU-Beitrittsprozess. Deutschland hat besonderes Interesse an Serbien.
Philosophin über radikale Systemkritik: „Vielen geht es gar nicht gut“
Die Philosophin Lea Ypi will einen „moralischen Sozialismus“ etablieren.
Der helfe auch gegen rechts. Ein Gespräch über Freiheit und Verantwortung.
Lea Ypi über ihre Jugend in Albanien: Erbin der Dissidenten
Lea Ypi schildert fesselnd ihre Desillusionierung vom Sozialismus. Sie
vertraut weiterhin darauf, dass der Kampf um eine bessere Zukunft
weitergeht.