| # taz.de -- Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Der schwarze Shabbat
> Am 7. Oktober 2023 ermordete die Hamas 364 Menschen beim Nova-Festival.
> Ein Jahr später leiden Überlebende immer noch an den Folgen dieses Tages.
Um 6.29 Uhr geht die Musik aus. Dann Sirenen, Explosionen, Schreie. Omer
Hadad und seine Freunde sind erst drei Stunden vorher angekommen, in
wenigen Minuten soll die Sonne aufgehen – der berauschte Höhepunkt des
Psytrance‑Raves. Doch als Hadad einen mit Schusslöchern übersäten Fiat
sieht, fühlt er sich plötzlich stocknüchtern. Ob die blutenden Insassen des
Autos zu diesem Zeitpunkt schon tot sind, kann er nicht sagen. Er rennt um
sein Leben.
Sechs Monate nach dem Massaker vom 7. Oktober, das Israel erschüttert hat,
wird Omer Hadad immer noch von diesen Szenen heimgesucht. Es ist ein warmer
Aprilabend in Tel Aviv. Der 24-Jährige ist Friseur, er hat gerade
Feierabend und sitzt auf einem Ledersessel im Salon. Er trägt eine
militärische Erkennungsmarke um den Hals mit Davidstern – ein
Solidaritätszeichen für die Geiseln in Gaza. Seine dunkelbraunen Augen
sehen müde und traurig aus.
Hadad hat noch nicht oft gesprochen, über das, was er an diesem Tag
erlebte. Und es fällt ihm merklich schwer. Er zeigt ein Video seiner Flucht
vor Hamas-Terroristen, aufgenommen versehentlich, in Panik: Hunderte
spärlich bekleidete Menschen fliehen über Felder, Hadad selbst trägt ein
weißes Outfit, irgendwas zwischen Cape und Bademantel. Schüsse sind zu
hören. „Wir waren im Überlebensmodus“, sagt er mit schüchterner Stimme.
Eine Freundin stolpert in der Handyaufnahme immer wieder beim Laufen, weil
sie sich übergeben muss, aus schierer Angst, bevor sie auf dem Boden
zusammenbricht. „Überall um uns herum lagen Menschen auf dem Boden“, sagt
Hadad. „Wir dachten, dass auch sie Panikattacken hätten.“ Erst später wird
klar: Sie sind bereits tot.
Die Entscheidungen, die die größtenteils jungen Menschen in den nächsten
Minuten und Stunden treffen, bestimmen, ob sie leben oder sterben: links
oder rechts, sich verstecken oder fliehen, mit dem Auto oder zu Fuß.
Dass Hadad das [1][Massaker beim Nova-Festival] überlebt, ist Zufall. Oder
etwas anderes. Er schaut nach oben, obwohl er, wie er sagt, nicht besonders
gläubig ist. Er findet schließlich sein Auto und fährt über die Felder nach
Netiwot, einer Stadt knapp 20 Kilometer entfernt, die von den Gräueltaten
vom 7. Oktober wie durch ein Wunder verschont bleibt. Zwei von Hadads
Freunden schaffen es nicht.
## 38 Geiseln werden vom Nova-Festival entführt
Israelis nennen den 7. Oktober inzwischen den „schwarzen Shabbat“. So viele
Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an einem Tag getötet
worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und anderer Gruppen wie
Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“
ermorden fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon Zivilisten.
Das Nova-Festival in der Negevwüste, das Omer Hadad und seine Freunde
besuchten, ist der blutigste Schauplatz des Angriffs. 364 Menschen kommen
dort ums Leben, fast die Hälfte aller getöteten Zivilisten an diesem Tag.
Sie werden mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Granaten ermordet. Es
ist der tödlichste Angriff auf ein Musikfestival aller Zeiten. Auch das
kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wird angegriffen.
Dort ermorden die Terroristen 17 Menschen.
Von den rund 250 Geiseln, die palästinensische Terroristen nach Gaza
verschleppen, werden mindestens 38 vom Nova-Festival entführt. Fünf von
ihnen kommen im November durch einen Deal mit der Hamas frei, die
israelische Armee befreit weitere vier im Juni.
Ende August werden die Leichen von fünf Festival-Besucher*innen sowie einer
weiteren Entführten in einem Tunnel unter Rafah gefunden, die kurz zuvor
per Kopfschuss hingerichtet wurden. Sechs weitere Menschen sind bislang in
Geiselhaft ums Leben gekommen. 18 Menschen, die vom Nova-Festival entführt
wurden, hält die Hamas bis heute in Gaza fest.
Der Angriff vom 7. Oktober wird mit einer Raketensalve aus dem Gazastreifen
eingeläutet. Palästinensische Terroristen brechen durch den Grenzzaun zu
Israel. Mit Gleitschirmen und Pickup-Trucks erreichen sie das Nova-Gelände
beim Kibbuz Re’im, wo fast 4.000 Menschen aus über 30 Ländern am jüdischen
Feiertag Simchat Torah unter freiem Himmel tanzen – eine Zusammenarbeit des
brasilianischen Universo Paralello und des israelischen Nova-Teams.
## Viele Besucher stehen unter Drogen
Mit GoPros filmen die Terroristen das Blutbad, das sie dort anrichten. In
einem Video schießen sie auf eine Reihe Dixi-Klos, in denen sich Menschen
verstecken, Tür für Tür, als sei das ein Ego-Shooter-Spiel. Eine Dashcam
auf dem Parkplatz zeigt, wie ein Terrorist einen auf dem Boden liegenden
Mann, der sich tot stellt, aus nächster Nähe hinrichtet.
In einem Video werfen sie eine Granate in einen kleinen Luftschutzbunker,
auf Hebräisch Migunit genannt, in dem rund 30 Menschen Schutz suchen. Nach
der Explosion erschießen sie die wenigen Überlebenden. Einen jungen Mann
verschleppen sie nach Gaza. [2][Er heißt Hersh Goldberg-Polin] und gehört
zu den hingerichteten Geiseln, die Ende August in einem Tunnel unter Rafah
gefunden werden.
Manche Gäste rennen zu ihren Autos und fahren Richtung Ausgang, doch sie
landen in einer Falle. Terroristen blockieren die Regionalstraße 232, die
parallel zum Gelände verläuft, von beiden Seiten. Die fliehenden Besucher
geraten unter schweren Beschuss. Heute nennen Israelis sie die „Straße des
Todes“, weil hier Dutzende Menschen ums Leben gekommen sind. Bis heute sind
Brandspuren auf dem Asphalt zu sehen. Ein Denkmal aus Hunderten von
ausgebrannten Autos erinnert daran.
Viele der Nova-Besucher stehen unter dem Einfluss von Drogen wie MDMA,
Kokain oder Amphetaminen. Bei Menschen, die LSD genommen hatten, sei ein
„Überlebensinstinkt“ eingetreten, sagt der Psychologe Ran Sapir, der
Überlebende des Festivals behandelt hat, im Interview mit der israelischen
Zeitung Ha’aretz. Eine dachte, sie sei ein gejagtes Tier, das den Jägern
entkommen müsse. Menschen, die Ketamin genommen hatten, hätten schlechtere
Überlebenschancen gehabt.
Auch die Terroristen sind im Rausch: Sie haben Captagon-Tabletten dabei,
die wie Amphetamin wirken und ihnen dabei helfen, lange wach zu bleiben und
Menschen ruhig und konzentriert abzuschlachten oder ihnen sexualisierte
Gewalt anzutun.
Viele der [3][bislang dokumentierten Vergewaltigungen] ereignen sich beim
Nova-Festival. Videos der Erstversorger zeigen tote Frauen mit entfernter
Unterhose oder blutigem Schritt. Die Hände mancher Opfer sind festgebunden.
Die Ha’aretz berichtete im April von 15 Überlebenden des Festivals, die
Vergewaltigungen oder Gruppenvergewaltigungen gesehen hätten, fünf von
ihnen haben bislang öffentlich darüber gesprochen.
## Vergewaltigungen und Verstümmelungen
Eine Zeugin vom Festival schildert gegenüber der New York Times, wie
schwerbewaffnete Männer mindestens fünf Frauen vergewaltigt und getötet
hätten. Während eine Frau vergewaltigt worden sei, habe einer der Männer
ihre Brust mit einem Teppichmesser abgeschnitten und diese zu einem anderen
Mann geworfen. Die Zeugin habe auch gesehen, wie die Männer die Köpfe
dreier enthaupteter Frauen mit sich getragen hätten.
Viele der bekannten Vergewaltigungsfälle finden am Rande des
Festivalgeländes statt, beobachtet von Überlebenden, die sich gut
verstecken konnten. Wie viele Menschen an diesem Tag tatsächlich sexuell
missbraucht worden sind, ist unklar. Erstversorger der ultraorthodoxen
Organisation Zaka beerdigen die Leichen aus religiösen Gründen schnell, sie
werden teilweise mit Lastwagen abtransportiert.
Heute sieht das Nova-Gelände aus wie eine Mischung aus Friedhof und
Freiluftattraktion. Am Eingang stehen reihenweise weiße Autos in der
prallen südisraelischen Sonne. Dutzende Menschen schlängeln sich trauernd
und nachdenklich über die trockene Fläche, von Bäumen umrahmt, die einst
eine Tanzfläche war. An Stangen hängen die Fotos und Namen der Ermordeten
mit blau-weißen Israel-Flaggen, die im warmen Wind leicht flattern. Vorne
steht eine DJ-Pult-Attrappe, um an Kido zu erinnern, einen bekannten
israelischen Trance-DJ, der beim Anschlag ermordet wurde.
Es sind insgesamt vielleicht 200 Menschen auf dem Gelände – trauernde
Eltern, eine diplomatische Delegation, eine Gruppe von Soldaten,
Ultraorthodoxe der Chabad-Bewegung, die in einem Bus Shabbat-Kerzen und
koschere Snacks verteilen. So viele Menschen, dass sie ein
Sicherheitsrisiko darstellen. Denn im Gazastreifen, nur fünf Kilometer
Luftlinie entfernt, tobt der Krieg zwischen Hamas und Israel, am Horizont
sind leichte Rauchspuren zu sehen. Auf dem Festivalgelände wurden
inzwischen zwei mobile Migunit-Bunker und eine Luftsirene eingebaut. Wenn
schon wieder Raketen aus dem Küstenstreifen fliegen, hat man hier nur
Sekunden Zeit, um Schutz zu suchen.
## Nicht alle wollen erinnern
Das Nova-Gelände ist zum Denkmal geworden, zur Erinnerung an ein Massaker,
das für die Menschen in Israel noch immer eine offene Wunde ist. Zwei
israelische Dokumentarfilme zum Festival sind bereits entstanden: „Black
Sunrise“ und „#Nova“. Zum israelischen Unabhängigkeitstag im Mai
produzierte das Büro für Staatszeremonien und Veranstaltungen einen Clip,
der für Kontroversen sorgte – eine Art Musikvideo mit Tanzsequenzen,
gedreht am Tatort des Massakers, das Angehörigen der Ermordeten als
„beschämend“ und „entsetzlich“ empfanden.
Positiver rezipiert wird eine Ausstellung der Festival-Organisatoren mit
dem Titel „06:29 – The Moment the Music Stood Still“, die im April in der
Tel Aviver Messehalle Expo eröffnet wurde, bevor sie nach New York und Los
Angeles wanderte. Sie stellt das Gelände direkt nach dem Massaker nach, mit
ausgebrannten Autos, Dixi-Klos mit Schusslöchern und den Sachen, die
fliehende oder verstorbene Besucher*innen hinterließen – Schuhe,
Sonnenbrillen, Taschen.
Auch beim diesjährigen Burning Man Festival, das von Ende August bis Anfang
September in der Nevada-Wüste stattfand, wurde der Ermordeten des Nova mit
einer Kunstinstallation gedacht – einem Nachbau der
psychedelisch-farbenfrohen Bühne mit den Worten „We will dance again“.
„Das war für uns sehr wichtig“, erzählt Nova-Veranstalter Omri Sasi, der
beim Angriff über 100 Freund*innen sowie seinen Onkel und Cousin verlor.
Auf der Nova-Bühne beim Burning Man legte er mit DJ Captain Hook auf, von
6.29 Uhr bis zum Nachmittag. „Leute haben geweint“, sagt der 35-Jährige,
der die Nova-Reihe vor drei Jahren ins Leben rief. Auch nächstes Jahr soll
das Nova beim Burning Man vertreten sein, sagt er. „Wir wollen nicht
aufgeben und werden weiter tanzen. Der Terrorismus darf nicht gewinnen.“
Doch [4][nicht alle wollen erinnern]. Vor der Nova-Ausstellung in New York
organisierten im Juni Hunderte antiisraelische Aktivisten einen Protest.
Sie zündeten Rauchtöpfe und skandierten „long live the intifada“ – es lebe
die Intifada. Eine Aktivistin begründete die Aktion auf X (ehemals Twitter)
damit, dass das Nova „neben einem Konzentrationslager“ stattgefunden habe.
Ähnliche Kommentare waren in den Tagen und Wochen nach dem Massaker in den
sozialen Medien tausendfach zu lesen. Die Botschaft: Die Opfer des
Massakers seien selbst schuld.
In der globalen Festival- und Clubszene ist seit dem 7. Oktober Solidarität
mit den Ermordeten, Verschleppten und Überlebenden des Novas [5][kaum
hörbar]. Stattdessen fasst die antiisraelische Boykottbewegung BDS dort
immer mehr Fuß – und die Szene radikalisiert sich immer weiter. Eine
Benefizparty in New York, nur eine Woche nach dem Massaker, nannte sich
„Intifada Fundraver“ und warb mit einem Foto, in dem die Hamas mit einem
Bagger den Grenzzaun zu Israel durchbricht.
Im Februar wurde die Kampagne „DJs Against Apartheid“ gestartet, die
inzwischen über 3.000 DJs weltweit unterstützen. In dem Aufruf wird die
Gewalt der Hamas als „natürliche“ und „unausweichliche“ Reaktion
bezeichnet. Und [6][in Berlin] sieht sich das renommierte Berghain einer
Boykottkampagne ausgesetzt, nachdem der Club einen DJ auslud, der zuvor
eine Instagram-Story geteilt hatte, in der die Vergewaltigungen beim
Nova-Angriff geleugnet wurden.
## Mit Panzerfäusten beschossen
Über all das kann Yarin Illovich nur mit dem Kopf schütteln. Der 29-jährige
Israeli ist besser bekannt als der Psytrance-Künstler Artifex. Als die
Terroristen das Nova-Festival überfallen, steht er am DJ-Pult – er ist der
Headliner zum Sonnenaufgang. „Das war ein Genozid bei einem verdammten
Musikfestival“, sagt er via Zoom. „Wäre nicht die jüdische Community hier
betroffen, wäre zum Beispiel Tomorrowland oder Electric Daisy Carnival
angegriffen, würde die Welt ganz anders reagieren.“
Anfang September, elf Monate nach dem Angriff. Illovich sitzt zu Hause in
Kfar Yona, eine Stunde nördlich von Tel Aviv, er trägt ein T-Shirt der
Fernsehserie „Rick and Morty“. Einige Bookings seien für den international
tourenden DJ inzwischen weggebrochen, weil Veranstalter [7][aus Protest
gegen den Gaza-Krieg] Israelis nicht mehr einladen wollen würden, sagt er.
Den letzten Track, den Illovich am 7. Oktober auflegte, der von Sirenen,
Explosionen und Schreien unterbrochen wurde, hat er inzwischen den
Ermordeten gewidmet und kostenlos zur Verfügung gestellt. Mit einem
Spendenaufruf will er die Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers
unterstützen. „Nova Tribute – The Angel’s Last Dance“, so nennt er nun
seinen Remix von Pixel und Space Cats „Clear Test Signal“ – ein
energischer, trippiger Psytrance-Knaller. „Es war für die Ermordeten der
letzte Moment des Glücks“, sagt er.
Illovich habe seit dem Angriff gute und schlechte Tage. Heute scheint ein
guter Tag zu sein, er redet offen über das Massaker, bei dem er 70
Freund*innen verlor. Nachdem er um 6.29 Uhr die Musik ausmachte, sei er
über Felder geflohen, sei mit Panzerfäusten beschossen worden und habe sich
fünf Stunden lang hinter einem Auto versteckt, als die Terroristen sich ein
Feuergefecht mit der Polizei lieferten. Zehn Stunden habe es gedauert, bis
er endlich in Sicherheit gewesen sei.
Doch je näher der erste Jahrestag rückt, umso schlechter gehe es ihm. Für
den 7. Oktober 2024 habe er alles abgesagt. „Ich will hier in Israel sein,
mit meiner Familie, mit Freunden, mit den anderen Nova-Überlebenden“, sagt
er.
## Viele Überlebende sind stark traumatisiert
Die psychischen Folgen des 7. Oktober belasten die Überlebenden bis heute,
viele sind stark traumatisiert. Laut der Tribe of Nova Foundation, einer
NGO, die von Omri Sasa und den anderen Organisatoren direkt nach dem
Angriff gegründet wurde, sind drei Viertel der fast 4.000 Besucher in
psychologischer Behandlung. Die Stiftung plant Wochenend-Retreats und
vergibt kleine Zuschüsse, um mit den Kosten für Therapien oder
Rehabilitation zu helfen. Sie organisiert auch ein wöchentliches Treffen
für Überlebende in einem Park in Tel Aviv.
Secret Forest, ein abgelegenes Resort in den zyprischen Bergen, das von
Israelis betrieben wird, organisiert kostenlose Therapiewochen für die
Überlebenden. Bereits 700 von ihnen waren schon dort, auch Yarin Illovich.
„In den ersten vier Monaten nach dem Massaker wollte ich weder auflegen
noch ins Studio“, sagt er. Ein fünftägiger Aufenthalt mit über 150 anderen
Überlebenden habe ihm geholfen, mit dem Trauma umzugehen.
Auch Chen Malca nahm an einen Retreat im Secret Forest teil, nur drei
Wochen nach dem Massaker. „Es war nicht nur Therapie“, erzählt die
25-Jährige aus Jerusalem mit mahagonifarbenen Haaren und gelb lackierten
Nägeln. „Sie organisierten auch eine kleine Party für uns, weil das wichtig
ist, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.“
Malca hat nach dem 7. Oktober ihren Job gekündigt und ihre Studienpläne auf
Eis gelegt, stattdessen spricht sie mehrmals die Woche auf Veranstaltungen
über das Nova-Festival, das sie nur knapp überlebte. Auf dem
Festivalgelände erzählt sie regelmäßig ihre Geschichte vor kleinen Gruppen
– wie sie in Panik fast erstarrt sei, wie sie und ihr Freund mit dem Auto
nur mit Glück entkamen. Bis heute falle es ihr schwer, darüber zu sprechen,
sagt Malca. Sie vergisst ständig Wörter und wechselt zurück ins Hebräische,
wenn sie darüber redet – aus Aufregung, obwohl sie akzentfreies Englisch
spricht.
Malca sei inzwischen wieder auf kleine Festivals gegangen, das sei wichtig,
sagt sie, aber auch belastend. „Auf einem Festival sah ich am Himmel
Drohnen und Menschen, die mit Gleitschirmen geflogen sind“, erzählt sie.
„Ich hatte eine Angstattacke, wollte aber meinen Freunden, die auch
Nova-Überlebende sind, nicht zeigen, dass ich in Panik bin, um sie nicht zu
beunruhigen.“
## „Viele Suizide“ unter Nova-Besucher*innen
Für manche Überlebende kommen psychologische Angebote zu spät.
Nova-Veranstalter Omri Sasa sagt, dass der israelische Staat nicht genug
tue, um Therapieplätze bereitzustellen. „Der Regierung ist nur der Krieg
wichtig“, sagt er.
Und das hat tragische Folgen. Bei einer Anhörung in der Knesset im Dezember
sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, die zum
Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“ unter
Nova-Besucher*innen. Auf taz-Anfrage konnte sie allerdings nicht sagen, wie
viele Fälle es genau gegeben hat. In einer weiteren Anhörung in der Knesset
im April behauptete ein Nova-Besucher, dass sich seit dem 7. Oktober fast
50 Menschen das Leben genommen hätten.
Das israelische Gesundheitsministerium widersprach dieser Zahl. „Uns sind
nur wenige Fälle von Selbstmord bekannt. Wir müssen vorsichtig sein mit
Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad
Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im
Ministerium, bei der Anhörung. In einer Pressemitteilung des Ministeriums
im Januar heißt es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es
weniger Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf
taz-Anfrage will das Ministerium jedoch keine genauen Zahlen geben.
Dass nicht offen über dieses sensible Thema gesprochen wird, hat auch
Gründe. In Israel ist Suizid ein Tabu, im Judentum ist er nicht erlaubt.
Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung
der Anonymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Fällen unter
Nova-Überlebenden aus, wollte aber keine konkrete Zahl nennen.
Omer Hadad, der Friseur aus Tel Aviv, kennt einen Fall aus erster Hand.
Eine Frau, die er auf dem Festival kennenlernte, habe er auf einem Treffen
für Nova-Überlebende wiedergesehen. Er habe sich gefreut, dass sie es auch
in Sicherheit geschafft habe. „Aber es ging ihr nicht gut.“ Im April habe
sie sich das Leben genommen, so Hadad.
Auch deshalb fühlt sich das Jahr nach dem 7. Oktober für Hadad und viele
andere Überlebende an wie der ewige Tag danach. „Ich bin traurig“, sagt
Hadad im September am Telefon. „Traurig, dass so viel Zeit vergangen ist
und sich nichts geändert hat – es herrscht immer noch Krieg, die Geiseln
sind immer noch nicht zurück.“
Zum ersten Jahrestag wolle er mit seinen Freunden, die den Angriff überlebt
haben, denselben Weg jenes Tages zurücklegen: mit dem Auto die
Regionalstraße 232 entlangfahren, die Straße des Todes, zum Nova-Gelände.
Zum ersten Mal seit dem Massaker, seit dem 7. Oktober 2023. Seit dem Tag,
der Israel für immer verändert hat.
6 Oct 2024
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