# taz.de -- Eskalation im Nahen Osten: Diplomatie ist gefragt

> Die Ausweitung des Krieges im Libanon wird keine Sicherheit bringen. Es
> braucht am Völkerrecht orientierte Anstrengungen für einen
> Waffenstillstand.
Tag und Nacht erschüttern [1][Bombardements der israelischen Luftwaffe
derzeit Beirut]. Die aktuelle Eskalationswelle zwischen Hisbollah und
Israel begann mit israelischen Pager-Angriffen, die mehr als 30 Menschen
töteten, 300 erblinden ließen und 3.000 verletzten. 80 Tonnen Bomben
töteten wenig später Hisbollahs Generalsekretär Hassan Nasrallah und
Parteikader in einem unterirdischen Kommandoraum und die zivilen Bewohner
sechs darüberliegender Wohnblöcke.

Die Realität des Kriegs im Libanon ist nicht mehr zu leugnen: Israel ist im
Süden einmarschiert; verheerende Luftangriffe treffen alle Landesteile,
und weit über eine Million Menschen wurden vertrieben. Wie blickt die
libanesische Bevölkerung angesichts dessen auf die Hisbollah, Gaza und
die Ausweitung des Kriegs?

Seit einem Jahr schießt Hisbollah ungebrochen Raketen auf Ziele in Israel,
mit dem erklärten Ziel, durch militärischen Druck und Abschreckung Israels
Streitkräfte zu binden und das Land zu einer Verhandlungslösung mit der
Hamas in Gaza zu drängen. Jeder dieser Angriffe gefährdet Menschenleben;
bisher töteten sie über 50 Menschen, darunter mindestens 28 Zivilisten.

Die Mehrheit unabhängiger Analysten attestierte Hisbollah und dem Iran
angesichts des Ausbleibens umfassender Vergeltungsschläge und der
Begrenzung auf „symbolische Antworten“ wie das Abfeuern einzelner
Mittelstreckenraketen auf militärische Ziele in Tel Aviv lange eine
relative Zurückhaltung. Diese scheint mit Irans unangekündigtem Abschuss
von über 180 Raketen auf Ziele in Israel in der vergangenen Woche nun
vorüber; der regionale Krieg droht.

## Trauer und Wut eint

Israels erfolgreiche Schläge gegen Hisbollah, insbesondere die Tötung
Nasrallahs, haben Netanjahu innenpolitisch massiv gestärkt. Sein
Kriegskabinett zieht militärische Optionen diplomatischen
Verhandlungslösungen in Libanon und Gaza weiterhin vor. Libanons
vielfältige Gesellschaft, die durch das konfessionalistische politische
System entlang politisch-religiöser, ideologischer sowie klassen- und
regionalspezifischer Gräben gespalten und polarisiert ist, lehnt mit großer
Mehrheit die aktuelle Ausweitung des Krieges ab.

Es eint sie die Trauer und Wut über die Getöteten und Verwundeten, die
fortschreitende Bombardierung des Landes und dass Israels westliche
Verbündete neben diplomatischen Lippenbekenntnissen Israel durch
kontinuierliche Waffenlieferungen zugestehen, das Recht des Stärkeren
Verhandlungslösungen vorzuziehen.

Bereits vor dem 7. Oktober vergangenen Jahres war die öffentliche Meinung
zur Hisbollah polarisiert. Rund die Hälfte der Bevölkerung, besonders
Menschen aus dem Südlibanon und ein beträchtlicher Teil der historisch
marginalisierten Schiiten, unterstützen sie wegen ihrer Befreiung des bis
2000 von Israel besetzten Südlibanons, ihr militantes Eintreten gegen eine
regionale US-israelische-Hegemonie, sowie aufgrund tiefer religiöser wie
moralischer Überzeugungen. Seit den 1990ern wurde die Partei zunehmend Teil
des konfessionalistischen politischen Systems Libanons, eine wichtige Kraft
in Parlament und Regierung und baute wie alle Parteien ihr
klientelistisches Unterstützungsnetz aus – so etwa im Gesundheits- und
Bildungswesen.

Die andere Hälfte der Bevölkerung steht ihr aus ebendiesen und weiteren
Gründen kritisch bis ablehnend gegenüber. Die libanesische Revolution 2019
und der Staatskollaps zeigten, dass Hisbollah das System der korrupten
konfessionellen Eliten mittrug und gewaltsam verteidigte. Auch ist sie für
Gewalt und Morde an Oppositionellen und Intellektuellen verantwortlich.
Doch die zentrale Kritik lautet: Als einzige bewaffnete Miliz im Land
unterlaufe sie Libanons Souveränität und suche für Entscheidungen über
Krieg und Frieden wie ihren Eingriff in den syrischen Bürgerkrieg auf
Seiten Baschar al-Assads keine demokratische Legitimierung.
Fundamentalkritik an Hisbollah dient Mitgliedern der korrupten politischen
Kaste allerdings auch dazu, ihre eigene Mitschuld an Libanons Lage
zurückzuweisen.

## Destabilisierung Libanons

Israels Militäreinsatz in Gaza wird im Libanon, wie auch von vielen
internationalen Organisationen und Experten, [2][als genozidal wahrgenommen
und führte zu einer massiven Zunahme] an Solidarität mit den
Palästinensern. Das Scheitern diplomatischer Verhandlungen für Gaza, die
einseitige US- wie deutsche Parteinahme und die Untätigkeit arabischer
Staaten verschaffte Hisbollahs lokal begrenztem militärischem Einsatz zum
Erzwingen einer Verhandlungslösung zeitweise einen gewissen
Legitimationszuwachs.

Hisbollahs zunehmende Schwächung besonders durch die Tötung hoher Kader
destabilisiert Libanons kompliziertes Machtgleichgewicht der
konfessionalistischen Parteien – mit unabsehbaren Folgen. Während
vereinzelte politische Gegner dies feiern, drängen zivilgesellschaftliche
Akteure auf gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozesse – auch, da sonst
inter- und intrakonfessionelle Gewalt drohen könnte. Doch zuerst muss der
Krieg beendet werden, den die breite Mehrheit der Bevölkerung nicht will.

Israels Bombardements und der Einmarsch im Libanon treffen eine
solidarische, aber von Katastrophen und Leid gebeutelte Gesellschaft.
Bisher wurden über 2.000 Menschen getötet, darunter ganze Familien und über
100 medizinische Rettungskräfte, allein 40 in der vergangenen Woche. Diese
Ausweitung des Krieges wird langfristig keine Sicherheit bringen, das haben
die vergangenen Jahrzehnte gezeigt.

Die Hisbollah scheint zu Verhandlungslösungen bereit zu sein. Es braucht
daher umgehend neue, ernstgemeinte und am Völkerrecht orientierte
diplomatische Anstrengungen für einen Waffenstillstand gerade westlicher
Akteure wie Deutschlands und der USA, um das Leid zu minimieren, die Kriege
zu beenden, Sicherheit herzustellen und Vertriebene sowie israelische
Geiseln aus Gaza zurückzubringen.

8 Oct 2024

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## AUTOREN
Jan Altaner
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