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Berlin taz | Der Vorwurf, auf Kosten der Allgemeinheit nicht arbeiten zu
wollen, hat sich auch nach 20 Jahren kaum abgenutzt: 2023 wurde Hartz IV
durch das Bürgergeld ersetzt, die populistischen Debatten aber sind
geblieben.
Die Bundesregierung [1][will die Sanktionsmöglichkeiten verschärfen], die
Union stichelt weiter. Am Montag erklärte [2][Sachsens Ministerpräsident
Michael Kretschmer (CDU) in der Welt], „Tausende“ könnten zwar arbeiten,
bekämen aber Geld vom Staat, „für das die Steuerzahler hart arbeiten“. Vor
20 Jahren gingen in Ostdeutschland Tausende gegen solche Vorwürfe auf die
Straße.
„Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr“. Diese Parole hatte der
arbeitslose Kaufmann Andreas Ehrholdt mit Filzstift auf Pappschilder
gemalt, als er Ende Juli 2004 in Magdeburg zu Protesten aufrief. Am 1.
Januar 2005 sollte das Hartz-IV-Gesetz in Kraft treten. Der Kern der nach
dem VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannten Reformpakets: fördern und
fordern.
Die Menschen sollten bei der Jobsuche unterstützt, also gefördert werden.
Doch sollten [3][über Sanktionen jene Menschen diszipliniert werden, die
sich angeblich zu wenig um einen Job bemühten]. Viele Menschen fühlten sich
zu Almosenempfänger*innen des Staates degradiert.
## 200.000 Menschen auf der Straße
Am 26. Juli waren es noch wenige hundert Menschen, die Ehrholdts Aufruf
folgten und in Magdeburg auf die Straße gingen. Doch das sollte sich
schnell ändern. Im Laufe des Augusts beteiligten sich in immer mehr
ostdeutschen Städten Menschen an den immer Montags stattfindenden
Demonstrationen, oft in vierstelliger Zahl. Auf dem Höhepunkt der
Anti-Hartz-Proteste am 30. August waren in über 200 Städten bundesweit, vor
allem aber im Osten mindestens 200.000 Menschen auf der Straße.
Die Zahl der Protestierenden hielt sich über mehrere Wochen und ging erst
im Oktober zurück. Inzwischen aber beschäftigten sich alle großen Medien
der Republik mit der Frage, was die Menschen in Ostdeutschland immer
Montags auf die Straße trieb. Mit Staunen beobachteten auch linke Gruppen,
dass ganz ohne ihr Zutun in Ostdeutschland Menschen protestieren, die
bisher nie demonstriert hatten.
Lutz Neuber von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) war als
einer der wenigen organisierten Linken am 26. Juli 2004 in Magdeburg auf
der Straße. „Als unser Häufchen von sieben bis acht Leuten mit unseren
Transparenten und den Parolen gegen Nazis, Staat und Kapital zur vielleicht
300 Teilnehmer*innen zählenden Demo stieß, wurde es freudig begrüßt“,
erinnert sich Neuber nach 20 Jahren an die euphorische Stimmung. „Unsere
Sprechchöre gegen Niedriglöhne und Zwangsarbeit wurden beklatscht. Wir
dachten, jetzt geht es los.“
Doch schon auf der zweiten Montagsdemonstration in Magdeburg folgte die
Ernüchterung: Mit über 6.000 Versammelten habe sich die Menge vervielfacht,
erzählt Neuber. „Doch diesmal hatten sich Gruppen der extremen Rechten an
die Spitze gestellt und auch sie wurden von der Masse verteidigt. Man
wollte niemanden ausschließen.“
## Der Funke sprang nicht über
In vielen Städten hingegen weigerten sich die Demonstrant*innen, mit
Neonazis auf die Straße zu gehen. „Abgrenzung von Faschist*innen war
einer der beschlossenen Grundsätze der Montagsdemonstrationen“, sagt der
Sozialwissenschaftler Harald Rein, der seit Jahrzehnten in der unabhängigen
Erwerbslosenbewegung aktiv ist.
Dass Hartz IV nicht verhindert werden konnte, habe auch daran gelegen, dass
der Funke nicht nach Westdeutschland übergesprungen sei. Dort initiierten
linke Gruppen in verschiedenen Städten Proteste gegen Hartz IV, die aber
überschaubar blieben. „Einzig die Montagsdemonstrationen 2004 im Osten
Deutschlands können als spontaner Massenprotest gegen Hartz IV bezeichnet
werden“, so Rein.
Dabei gab es durchaus Potenzial: Am 1. November 2003 beteiligten sich über
100.000 Menschen an einer bundesweiten Demonstration gegen Hartz IV in
Berlin, die von wenigen Aktivist*innen auf die Beine gestellt worden
war. Mitten in der sommerlichen Nachrichtenflaute gingen dann in
Ostdeutschland spontan zahlreiche Menschen gegen Hartz IV auf die Straße.
Zwar versuchten linke Gruppen für den Herbst 2004 weitere Proteste auch im
Westen zu organisieren. Doch nur selten konnten sie mehr als die linke
Szene mobilisieren – eine Ausnahme bildete eine Demonstration vor der
Bundeszentrale der Agentur für Arbeit in Nürnberg mit rund 10.000 Personen
im November.
## „Welche Arbeit ist zumutbar für welchen Lohn“
Einen weiteren Grund dafür, dass die Proteste ihr Ziel nicht erreichten,
sieht die Soziologin Mag Wompel im unklaren Gerechtigkeitsbegriff vieler
Montagsdemonstrant*innen. Viele hätten sich darüber empört, behandelt
zu werden wie Sozialhilfeempfänger*innen – und damit die Spaltung
zementiert.
„Die breit verankerte Ideologie der Leistungsgerechtigkeit hat durch die
latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das
Genick gebrochen“, urteilt Wompel, die vor 20 Jahren als Redakteurin der
Onlineplattform Labournet an zahlreichen Protesten beteiligt war.
Die Einführung von Hartz IV sei ein massiver Einschnitt gewesen, sagt die
Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), seit mehr als 40 Jahren in der
Erwerbslosenbewegung aktiv. „Welche Arbeit zumutbar ist für welchen Lohn,
wie weit der Schutz der Privatsphäre gewährleistet wird, welche Wohnungen
angemessen sind, wie Betroffene und ihre Kinder versorgt werden, mit wie
viel Angst und der Erwartung von Demütigungen sie in Jobcenter und
Sozialämter gehen müssen – das hat Maßstäbe gesetzt nicht nur für die
Betroffenen selbst, sondern für das gesamte Zusammenleben in dieser
Gesellschaft“, resümiert die Selbsthilfe-Gruppe. In einem solchen Klima
hätten die meisten Menschen wenig Kraft und Zeit gehabt, sich an
Protestdemonstrationen zu beteiligen.
Doch es gab solidarische Aktionen. So entstanden in vielen Städten
Initiativen, die Erwerbslose bei ihren Terminen im Jobcenter begleiteten,
damit sie nicht allein dem bürokratischen Prozedere ausgeliefert waren.
Auch die Klagen [4][gegen verhängte Sanktionen] nahmen rapide zu und waren
oft erfolgreich. Für die im letzten Jahr verstorbene Erwerbslosenaktivistin
Anne Allex war das auch eine Spätfolge der Proteste vom Sommer 2004: „Viele
Menschen haben damals gelernt, sich zu wehren.“
5 Aug 2024
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