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Mein persönlicher Olympiamoment war, als [1][Alfreð Gíslason] zu Beginn
einer Auszeit sagte: „Wir spielen Überzahl, okay?“ und Juri Knorr (der im
Gegensatz zu Gíslason im übrigen gar nicht knorrig wirkt, sondern strebsam
und nett) dann antwortete: „Wir sind Unterzahl“ und Gíslason dann hoch zur
Anzeigetafel nicht etwa lugte, sondern spähte, um dann, nach drei Sekunden,
die seine alten Augen brauchten, um sich zu justieren, zu sagen: „Stimmt.
Scheiße.“
Und besonders schön finde ich das „Stimmt“.
Dahinter stehen zwei Geschichten. Die eine ist jene, wie sich diese
Mannschaft überhaupt für [2][Olympia] qualifiziert hat und dann auch der
Weg, den sie genommen hat, um ins Finale zu kommen. [3][Handball] ist eine
jener Sportarten, in denen immer alles am seidenen Faden hängt, eine
Sportart, in der der Konjunktiv zwei zu seinem Recht kommt: Es könnte auch
ständig anders gekommen sein. Früher war diese Art der Spannung dem
[4][Fußball] vorbehalten, als einer der ganz wenigen Sportarten, in denen
auch hoffnungslos unterlegene Mannschaften gegen sehr viel bessere
Gegner*innen gewinnen können.
Die verschiedenen Fußballverbände haben in ihrem Willen, aus zwei, drei
Handvoll Clubs jeweils eigene weltweit scheinende Marken zu machen, dieses
chaotische Moment vollständig drangegeben (weswegen Fußballfans inzwischen
lieber über die Performance ihrer Manager diskutieren als über den Zauber,
der von irgendeinem Spieler ausgeht). Der Kapitalismus neoliberaler
Spielart hat den Fußball furchtbar profanisiert.
Im Handball ist es so: Schwächere Mannschaften verlieren auf jeden Fall,
wenn aber Mannschaften ungefähr gleich stark sind, entscheiden so
kryptische Merkmale wie die Tagesform. Auch eine Tagesform ist ein
komplexes Gebilde, aber immerhin wurde das Thema „Spielglück“ noch nicht
völlig aus dem Spielgeschehen entfernt. Dass die deutsche
Nationalmannschaft überhaupt bei Olympia antrat, ja antreten durfte,
verdankt sie einem denkbar knappen Sieg gegen Österreich. Dieser ganze Hype
hing an zwei, drei Würfen; zwei, drei Reflexen. Mehr nicht.
Es stimmt, dass diese Mannschaft sich a posteriori den Platz bei Olympia
verdient hat, auch die Medaille verdient hat; sie hat sich gegen eine Menge
Mannschaften durchgesetzt, die sie in den vergangenen Jahren immer wieder
vor unlösbare Probleme stellten, und das mit einem relativ jungen Team, das
seine Prime vermutlich erst noch vor sich haben wird (wenn es Glück hat).
Der fantastische Sieg gegen Frankreich im Viertelfinale, der bis eine
Zehntelsekunde vor Abpfiff völlig unwahrscheinlich schien, war genau so ein
Moment, den Handballfreund*innen so sehr schätzen: Die Peripetie eines
Spiels kann wenige Momente vor dem Schlussakt zuschlagen. Sport ist
modernes Drama. Handball ist Ibsen.
Das ist das eine: Diese Mannschaft hat deswegen überzeugt, weil sie gar
nicht überzeugend war. Sie hat ihre Spiele nicht runtergespielt, sondern
musste immer wieder strampeln, sich immer wieder neu erfinden. Und das ist
die zweite Geschichte dieser Silbermedaille: Alfreð Gíslason hat das aufs
Prächtigste gemanagt.
Aus einer Mannschaft, die vom Potenzial vielleicht Viertelfinale war, hat
er einen Finalteilnehmer gemacht, nicht, indem er sie tyrannisierte oder
bestimmte, was Sache ist, sondern indem er sie führte, mit Nachsicht und
Präsenz, Strenge und Güte. Wer Gíslason vor 15 Jahren erlebte, kann das
kaum glauben: Damals war er ein dumpfer Diktator, besoffen von all den
Titeln, die er holte, getragen von den besten Handballern der Welt, die man
ihm zur Verfügung stellte. Inzwischen ist er viel weicher geworden, ohne
altersmilde zu sein, und auch das ist eine dieser schönen Geschichten, die
Olympia geschrieben hat.
Gewonnen hat freilich am Ende Dänemark, es hätte aber jede Mannschaft
gewonnen, die Mathias Gidsel in ihren Reihen hat. Schade, scheiße, aber
stimmt schon so.
14 Aug 2024
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