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In René Aguigahs Buch über James Baldwin gibt es eine Reihe von Fotos des
Schriftstellers, die man sich sehr gern und lange anschaut. In „James
Baldwin mit Kindern in New Orleans um 1963“ hockt der Autor in einem
offensichtlich winterlichen New Orleans auf einem trostlosen Bürgersteig,
von zwei Kindern sowie einer stehenden und einer umgestürzten Mülltonne
umgeben.
Er trägt einen gefütterten Wildledermantel und schaut aus der trüben leeren
Stadtlandschaft heraus, an dem Fotografen Steve Schapiro vorbei durch die
fast kreisförmigen Gläser seiner Sonnenbrille in irgendeine melancholische
Ferne. Der kleine Junge zu seiner Rechten folgte dem Blick dieses zugleich
explosiv und intensiv wirkenden, eigenartig kauernden, scheinbar zum Sprung
bereiten Mannes mit der exzentrischen Brille.
Denselben Mantel trägt er auch indoors, 163 Seiten weiter, wieder mit einem
traurigen Kind, wieder 1963, aber nunmehr in North Carolina vor einem
Wandteppich mit einem Jesus, der mit einem Handy zu telefonieren scheint.
Das Größte ist aber der einen auf dem Fußboden liegenden Text von der Couch
aus redigierende Baldwin, ebenfalls 1963, der dramatisch erstaunt in die
Kamera schaut, als hätte man ihn bei etwas richtig Schlimmen erwischt.
Alle drei Bilder erzählen von einem Mann, der eine starke Wirkung auf seine
Umgebung ausgeübt hat, einen Blickfänger und Kommunikator, der zugleich
etwas Erratisches hatte. Auch sein Biograf Aguigah schreibt das aktuelle
Interesse an Baldwin neben Raoul Pecks erfolgreichem Film [1][„I Am Not
Your Negro“] den zahlreichen [2][in Social Media kursierenden Schnipseln]
aus Talkshows und öffentlichen Auftritten zu, die Baldwin als pointierten,
scharfzüngigen Charismatiker zeigen.
Baldwin war ein Medienprofi, ein öffentlicher Intellektueller, auch wenn
Aguigah ihn eher als „spezifischen Intellektuellen“ im Sinne Foucaults
sieht, da er sich Zeit seines Lebens immer wieder zu einem Themenkreis
geäußert hat, Race und Rassismus.
## Er drängt ins Bild
Aber den öffentlichen Intellektuellen alter Schule machte ja vor allem aus,
dass sein Charisma auch denjenigen half, ihn zu verstehen, mindestens aber
zu respektieren oder zu kennen, die seine geschriebenen Ideen nie angefasst
hätten – ob aus intellektuellen oder weltanschaulichen Beschränkungen, wäre
egal. Baldwin überwindet die soziale Schranke des Symbolischen, des
Textes. Wie viele der neuen Stars der 1960er drängt er ins Bild.
Baldwin selbst wusste das, war aber auch kein reiner Aktivist. Er
unterscheidet die Situation des öffentlichen Auftritts, in der man etwas
sehr genau wissen muss und sich dessen sicher sein, von der Situation des
Schreibens, in der man nichts weiß.
Oft zog er sich zurück, verließ die USA und lebte in Paris, Istanbul,
schließlich in Südfrankreich, ausdrücklich um dem Schicksal seiner Figur
Rufus zu entgehen, die in New York von einer Brücke sprang: Gründe für
Verzweiflungsakte des bildungsfern in Harlem aufgewachsenen Hochbegabten
gab es genug.
Auch wenn er arm, schwul und Schwarz zu sein als einen „Hauptgewinn“
bezeichnete. Weniger für eine „Expertise“, so Baldwins Worte, zu der ihm
die „Hautfarbe“ verholfen habe, sondern eher als Leitplanken eines
humanistischen Existenzialismus, dessen Hauptgegner das Stereotyp war:
ethisch wie ästhetisch.
Romanfiguren sollten komplex, unvorhersehbar, in Entwicklung befindlich
sein. Aber auch der Rassismus wird vor allem als Quelle von Stereotypen
gehasst und bekämpft. Alle anderen Benachteiligungen ergeben sich daraus.
## Erniedrigung der Existenz
Spätere Rassismustheorien sind da weniger humanistisch, aber auch Baldwin
waren strukturelle und ökonomische Einschätzungen nicht fremd – aber sie
waren für den Dichter nicht so ohne Weiteres zu adressieren. Der andere
Mensch mit seinen „Vorurteilen“ (wie man damals sagte) schon.
Aguigahs übersichtlicher, gewinnend geschriebener biografischer Essay
richtet sich nicht an Spezialist_innen, sondern hat das große Verdienst,
den Autor von sechs Romanen und zahlreichen Essays, darunter einigen sehr
langen, die eigene und sehr einflussreiche Buchpublikationen wurden wie
„The Fire Next Time“, nicht so sehr auf Thesen, aber doch auf
wiederkehrende Motive und Grundideen zu bringen.
Dass nicht nur die Afroamerikaner_innen, sondern auch die weißen
Amerikaner_innen als Opfer des (eigenen) Rassismus zu gelten hätten,
ist eine(s) davon. Rassistisch zu denken und zu fühlen, beschränkt und
erniedrigt die menschliche Existenz fast so wie die rassistische
Unterdrückung selbst.
Weder Aguigah noch Baldwin sprechen das so aus, aber im Kern ist der
Maßstab der Humanität die existenzialistische Wahl in Freiheit –
Strukturen, Systeme, Verhältnisse und andere Determinismen spielen eine
nachgeordnete Rolle.
Es macht Spaß, Baldwin wieder zu lesen, wenn man Aguigahs instruktive
Beobachtung im Kopf hat, dass Baldwin in der ersten Person Singular als
Afroamerikaner, in der ersten Person Plural aber als Amerikaner spricht.
Das ist tatsächlich seine Alternative zu der berühmten Formel von der
„Double Consciousness“, die auf W. E. B. Du Bois zurückgeht und als
Problem beschreibt, dass die „Souls of Black Folks“ (Du Bois) nicht nur von
Selbst- und Fremdbild, sondern zwischen Selbst- und zwei verschiedenen
antagonistischen Fremdbildern bedrängt werden.
Der Kollektivsingular „Ich“ – wie in „Ich habe die Baumwolle gepflückt“ –
und das „Wir“ einer Gesellschaft, die sich vom Kommunismus bedroht fühlt
oder über Integration diskutiert, können ohne große Erklärungen in virtuos
geführte Auseinandersetzungen als Schnitt- und Teilmengen eingeführt werden
– ohne absolute Gegensätze zu bilden.
## Afroamerikanische Musikkultur als Ressource
Wenn ich aber Einwände dagegen habe, Baldwin einen Aktivisten zu nennen,
meine ich nicht, dass er kein extrem engagierter Autor war, ein Autor, der,
wie Aguigah immer wieder vorführt, buchstäblich die Welt verbessern
wollte.
Aber er war kein Typ wie etwa Amiri Baraka, der sich gern mit Verve in oft
sehr radikale neue Bewegungen und Auseinandersetzungen stürzte, seine
Position ebenso oft zuspitzte wie dann wieder aufgab, der Beatnik, Maoist,
Muslim oder Panafrikanist wurde und – auch anders als Baldwin – in den
großen Traditionen afroamerikanischer Musik- und Performance-Kultur nicht
nur ein seelisch-kulturelles Reservoir, eine tiefe Ressource sah (wie
Baldwin), sondern auch ein aktuelles Tool im Kampf.
Während Baraka in die Free-Jazz-Entwicklung verwickelt war und Schwarze
Theater und Zeitschriften gründete, hörte man bei Baldwin zu Hause das
Modern Jazz Quartett oder Louis Armstrong – allerdings auch Nina Simone.
Baldwin lernte den jungen Baraka kennen und schätzen, noch als Studenten,
der unter dem Namen LeRoi Jones Gedichte und Theaterstücke schrieb. In den
60ern brach Baraka mit Baldwin, den er beleidigte und dem er den
ungerechten Vorwurf machte, pro weiß zu schreiben.
In den 80ern, als auch Baldwin wieder skeptischer gegenüber der
Lernkapazität der weißen Bevölkerung geworden war, haben sich beide wieder
freundschaftlich angenähert. Bei Baldwins Beerdigung hält Baraka eine
feurige Rede auf den Älteren.
Bei Aguigah kommt Baraka nicht vor, Baldwins Konflikte mit Jüngeren und
Radikaleren erscheinen eher als die Debatte eines Einzelnen mit den
nachwachsenden Bewegungen. Dabei legt er nahe, dass Baldwins differenzierte
Auseinandersetzung mit der Nation Of Islam (NOI) vorbildlich für heutige
Streits mit „Identitätspolitik“ sein könne.
Das stellt, denke ich, den so bezeichneten Aktivismen der Gegenwart ein zu
pathologisches Zeugnis aus. Niemand vertritt heute den Unsinn, aus dem die
politische Theologie der NOI bestand. Umgekehrt kommt die Black Panther
Party zu schlecht weg, wenn Aguigah dem späten Baldwin etwas mehr Distanz
zu der Partei empfiehlt, die für einige Schießereien, an denen sie
beteiligt war, doch eine gewisse Mitschuld trage.
## Pendeln zwischen Integrationismus und Pessimismus
Dabei war die vielfach zerstrittene und gespaltene Partei, die im Laufe
ihrer Geschichte ein Spektrum zwischen dem irrlichternden
Linksradikalismus eines Eldridge Cleaver und der eher bieder
sozialdemokratischen Lokalpolitik des späten Bobby Seale in Oakland
umfasste, genau die marxistisch-internationalistische Alternative zum
religiösen Wahn der NOI und damit ein Fortschritt, an dem Baldwin nicht
vorbeikam. Es reichte nicht, Stokeley Carmichael als Romanfigur auftreten
zu lassen.
Doch diese Pendelbewegungen zwischen den Polen eines kritischen, niemals
naiven („Wer will in ein brennendes Haus integriert werden?“), aber in
letzter Instanz optimistischen Integrationismus und einem Pessimismus, der
auch in der Separation nicht ernsthaft eine Lösung sehen kann, nimmt bei
Baldwin, der keine der beiden Positionen verabsolutiert hat, oft eine
dialektische Wendung: Die Bitterkeit des enttäuschten Pessimismus wird dann
gerade zum Elixir der Hoffnung, denn nur wer ihren Geschmack kostet, kann
ihre Ursache überwinden.
Dass Baldwin, der der unumstrittene Poet der sogenannten
Bürgerrechtsbewegung (die er lieber „Sklavenaufstand“ nannte) war, später
von einer jüngeren radikaleren afroamerikanischen Intelligenz als überholt
durchgewunken wurde, wird bei Aguigah auch in die Diagnose einer gewissen
stilistischen Disziplinlosigkeit (oder Transdisziplinarität) bei Baldwin
eingefügt.
Seine Romane kippten ins Argumentative und Essayhafte, seine
argumentierenden Essays würden immer wieder sehr persönlich. Damit konnten
weder die genrefixierte größere Öffentlichkeit noch an Differenzierungen
desinteressierte Radikale umgehen.
## Bekanntester afroamerikanischer Autor in der BRD
Natürlich korrespondieren gerade diese Eigenheiten mit Baldwins Claim, als
Schreibender eben nichts von vornherein genau zu wissen. Sein
Existenzialismus fordert einen Experimentalismus – keinen Avantgardismus
wie etwa bei Baraka, aber ein offenes Kunstwerk, weniger aus ästhetischen
als aus ethischen Gründen, aber nicht minder radikal.
Diesen Baldwin legt uns Aguigah optimal zurecht. Die in dichter Folge bei
dtv erschienenen [3][neuen Übersetzungen] durch Miriam Mandelkow
vervollständigen den runden Geburtstag, den James Baldwin am 2. August
begeht.
Er war schon mal der bekannteste afroamerikanische Autor in der alten BRD,
zum Glück ist er in der Belletristik schon lange [4][nicht mehr so allein]
wie damals in den 1970ern. Was die afroamerikanische Essayistik und
Geisteswissenschaft betrifft, fehlt noch immer sehr viel. Und auch Baldwins
Essays liegen bei mir zum größeren Teil in langsam zerfallenden Ausgaben
der lange vergessenen Rowohlt-Reihe „das neue buch“ vor.
1 Aug 2024
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