# taz.de -- Autor James Baldwin neu bewerten: Auf Twitter verdreht

> Schriftsteller James Baldwin ist oft in falsches Licht gerückt worden.
> Früher von der weißen Mehrheitsgesellschaft, heute durch Tweets.
Spätestens seit Beginn [1][der Black-Lives-Matter-Proteste] ist der
US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin wieder präsent. Ins Deutsche
werden seine Bücher seit 2018 neu übersetzt. Baldwin, der in seinen Romanen
und Essays [2][Rassismus und Sexualität] behandelt, war in den 1960er und
1970er Jahren einer der prominenten Wortführer der schwarzen
Bürgerrechtsbewegung.

Doch wie wurde aus dem mittellosen, queeren Schwarzen aus Harlem die Ikone
James Baldwin? Das fragt sich der Literaturkritiker und
Gender-Studies-Professor Robert Reid-Pharr. Reid-Pharr arbeitet an einer
neuen Biografie über den 1987 gestorbenen Schriftsteller. Er glaubt, dass
Baldwin schon zu Lebzeiten nicht richtig rezipiert wurde.

Eindrücklichstes Beispiel ist die 1963 erschienene Titelgeschichte im Time
Magazine, aus der Reid-Pharr in einem Online-Vortrag der American Academy
in Berlin am Dienstag zitiert. „Er ist eine nervöse, aufbrausende, fast
zerbrechliche Figur, voller Ängste und Sorgen. Er ist verweichlicht in
seinem Auftreten, trinkt beträchtlich, raucht unablässig und verliert sein
Publikum oft mit seinen überzogenen Argumenten.“ Trotzdem sei kein anderer
Autor damals besser in der Lage gewesen, die Lebensrealität der Schwarzen
darzustellen. Reid-Pharr habe die Feindseligkeit des Journalisten gegenüber
Baldwin überrascht und sieht dahinter Methode.

Immer wieder wurde der Autor auch als Mittler zwischen den „races“
dargestellt, der Weißen die Möglichkeit eröffne, ihre schwarzen
Mitbürger:innen zu verstehen. Dabei ist Baldwin in seinen Texten alles
andere als versöhnlich. „Und das ist das Verbrechen, das ich meinem Land
und meinen Landsleuten anlaste und das weder ich noch die Zeit noch die
Geschichte ihnen jemals vergeben wird –, dass sie hunderttausendfach Leben
zerstört haben und immer noch zerstören und nichts davon wissen und nichts
davon wissen wollen“, schreibt Baldwin etwa in „Mein Kerker bebte“, einem
Brief an seinen Neffen.

## Ein Film, der grandios misslingt

Auch in den Filmen, die zuletzt über Baldwin erschienen, zeigt sich der
Schriftsteller pessimistisch. In „I Am Not Your Negro“ (2017), für den
Regisseur Raoul Peck Archivmaterial aus vier Jahrzehnten zusammengetragen
hat, trauert Baldwin um seine getöteten schwarzen Freunde. An eine Welt, in
der Schwarze und Weiße in Frieden zusammenleben, glaubt er nicht.
Eindrücklicher zeigt sich Baldwins Haltung noch in „Meeting the Man: James
Baldwin in Paris“, einem erst im letzten Jahr wiederentdeckten
Dokumentarfilm von 1970.

Bemerkenswert ist der Film vor allem, weil er so grandios misslingt.
Baldwin widersetzt sich der Erzählung, die die weißen Filmemacher über ihn
stülpen wollen, und hält ihnen ihre Ignoranz vor. „Ihr kommt nicht umhin,
das Gefühl zu haben, dass ihr etwas für mich tun könnt, dass ihr mich
retten könnt. Ich kann keinen Augenblick eurer Erlösung mehr ertragen!
Dabei könnte ich euch erlösen, denn ich weiß etwas über euch. Ihr wisst
nichts über mich“, schleudert er den Filmemachern in Gegenwart von anderen
Schwarzen in Paris entgegen.

Die Entscheidung Baldwins, im Jahr 1948 nach Paris zu ziehen, habe auch
persönliche Gründe gehabt, sagt Reid-Pharr. In einem bislang
unveröffentlichten Interview habe Baldwin erzählt, er sei nach Paris
gekommen, um sich über seine Sexualität klar zu werden. In „Giovannis
Zimmer“, das er in Europa schrieb, sorgt sich der Protagonist nicht darum,
Sex mit einem Mann zu haben, sondern wie andere Menschen ihn deswegen
anschauen. Über seine Wirkung nach außen habe auch Baldwin sich viele
Gedanken gemacht, meint Reid-Pharr.

Die Ikonisierung Baldwins scheint also vor allem über Brüche funktioniert
zu haben; Baldwin als brillanter, sexuell orientierungsloser, eloquenter,
kettenrauchender Sprecher seiner Generation. Reid-Pharr will mit seinem
Buch Baldwins Rolle in der Gesellschaft neu bewerten.

Denn die Missinterpretation Baldwins gehe heute auf andere Art weiter.
Aufgrund seiner neuerlichen Popularität fänden sich Zitate des
Schriftstellers immer häufiger auf Twitter, meist aus dem Kontext gerissen.
So würden seine Ideen selbst simplifiziert, sagt Reid-Pharr. „Dabei dachte
Baldwin sehr kompliziert.“ 280 Zeichen würden ihm einfach nicht gerecht.

4 Mar 2021

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## AUTOREN
Julia Hubernagel
## TAGS
Afroamerikaner
Literatur
Queer
Spike Lee
Schwerpunkt Rassismus
Spielfilm
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