# taz.de -- Holocaust und Kolonialismus: Die Mythen der Anderen

> Ein Blick auf deutsche Befindlichkeiten von Togo aus: Beobachtungen bei
> einer Tagung zur Erinnerungskultur an der Universität Lomé.
Wir werden beobachtet. Wie geht Deutschland mit seiner Geschichte um, mit
seiner doppelten Gewaltgeschichte? Die Beobachter sind keineswegs nur Essay
schreibende New Yorker Intellektuelle, sondern – viel leiser, viel weniger
beachtet – auch afrikanische. Ich komme gerade aus Togo zurück, von einem
internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis
und nachkoloniales Erinnern.

Eingeladen hatte die Germanistik der Universität Lomé, es kamen
GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste, aus Brasilien sowie
von deutschen Unis. Was ich da zu suchen hatte? Schon springen wir ins
Erstaunliche: Eine Forschungsgruppe in Lomé diskutierte ein Semester lang
mein Buch „[1][Den Schmerz der Anderen begreifen]“ und lud mich dann ein,
zur Eröffnung der Tagung zu sprechen.

Ein Fall von „regards croisés“, sich kreuzenden Blicken: Die Tonlage meines
Buchs, für ein verunsichertes deutsches Publikum geschrieben, enthielt für
LeserInnen in Togo auch ethnografische Hinweise. Wie sorgsam Deutschlands
geschichtspolitische Debatten verfolgt werden, registrierte ich mit einer
gewissen Beschämung. Schon mir, der Eingeweihten, erscheint manches kaum
rational vermittelbar. Wie wirkt dies alles auf Menschen aus Cotonou,
Abidjan oder Yaoundé, die an einer eigenen intellektuellen Kartografie der
Welt arbeiten?

Sie waren höflich, blieben es auch, als etwas Seltsames geschah. Die Tagung
kam mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Akademischen
Austauschdiensts zustande, doch der deutsche Botschafter mochte sein
Grußwort plötzlich nicht mehr halten, der Repräsentant des DAAD erkrankte
abrupt. Weil im Titel eines Vortrags [2][die Buchstaben BDS] vorkamen, war
offensichtlich aus dem Mutterland „Alle Mann auf Tauchstation!“ gekabelt
worden.

## Differenziertes Geschichtsverständnis

Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei
irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen –
ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer
ehemaligen deutschen Kolonie. Ein Kameruner spöttelte über die „Mythen der
Anderen“, die es zu dechiffrieren gelte.

Togo ist nicht Südafrika – Gaza und Israel spielten in Lomé kaum eine
Rolle. Palästina dient dort nicht als Folie, um darauf die Befreiung von
diversen Abhängigkeiten zu projizieren. Als Gegenpol zum aufgebrachten
[3][Südafrika, das mit Palästina die Traumata der eigenen Geschichte
verbindet], mag das stille Togo gleichfalls exzeptionell sein. Oder
illustrieren beide Extreme womöglich, wie heterogen der Globale Süden
tatsächlich ist, allein im Spektrum Afrikas?

Von Lomé aus betrachtet wirkten die „Global South United“-Slogans auf
Berliner Pro-Palästina-Demonstrationen wie Fabrikate romantischer Wünsche.
Aber auch die gegenteilige, feindselige Pauschalisierung in manchen
Feuilletons ist ja von Begierden getrieben: Wer alles Postkoloniale als
antisemitisch stilisiert und den Globalen Süden als judenfeindlich, will
ins Wanken geratene Hierarchien restaurieren, auf eine sehr deutsche Weise.

Zivilisatorischer Dünkel kleidet sich heute in die Rede, nur der Holocaust
sei ein Zivilisationsbruch; das lag für meine afrikanischen
GesprächspartnerInnen auf der Hand. Sie drückten Empathie für die jüdische
Leidensgeschichte aus, akzeptierten damit jedoch kein Geschichtsbild, das
die Tragödien des Kontinents auf hintere Plätze verweist. Einige hatten zu
den Verflechtungen zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus
gearbeitet; ihnen war bewusst, wie toxisch die deutsche Debatte dazu ist.

## Nostalgie für die deutsche Kolonialzeit

Gleichwohl zeigen sich eben in den Biografien von Männern, die ihre
Erfahrungen als Kolonialbeamte in Togo anschließend in den Dienst des
NS-Machtapparats stellten, personelle und ideologische Kontinuitäten. Sie
zu erforschen, hieß es in Lomé, parallelisiere keineswegs die Verbrechen.
Jenseits der Universität ist Togo für das Bemühen um ein gerechteres
Weltgedächtnis ein schwieriges Pflaster.

In der Bevölkerung fungiert eine gewisse Nostalgie für die deutsche
Kolonialzeit als imaginäre Plattform, um die fortdauernde Abhängigkeit von
Frankreich, der zweiten Kolonialmacht, zu beklagen. Historische Gräueltaten
der Deutschen werden bislang auch in Schulbüchern eher beschwiegen, doch
tritt allmählich die Realität ans Licht: Strafexpeditionen, Deportationen,
[4][Raub von Schädeln], Experimente an Kranken.

Aufklärend an dieser Front wirken nicht Historiker, [5][sondern
Germanisten]: Sie können die Kolonialakten lesen, identifizieren Geraubtes
in deutschen Museen und Depots. Bald sollen erstmals menschliche Gebeine zu
Gemeinschaften in Nordtogo zurückkehren. Der Kampf richtet sich also nicht
nur gegen eine deutsche Larmoyanz, die vom Bild der vermeintlichen
Musterkolonie ungern lassen möchte, sondern ebenso gegen einheimische
Widerstände.

Togo ist eine Art Familiendiktatur, der profitable Beziehungen nach Europa
wichtiger sind als irgendein postkolonialer Impuls. Und viele junge
Menschen wollen nur weg, träumen von Migration und lernen massenhaft
Deutsch als vermeintliches Ticket in ein besseres Leben. Der Dekan der
philosophischen Fakultät, der mich eingeladen hatte, sieht das mit Trauer.
Postkoloniale Abhängigkeit zu überwinden bedeutet aus seiner Sicht:
Lebensumstände zu schaffen, die jungen Leuten das Bleiben ermöglichen.

Wir saßen vor meiner Abreise lange in einer Bank, auf Euros wartend, in die
ich meine Barschaft zurückwechseln wollte. Der westafrikanische Franc ist
außerhalb der regionalen Währungszone nicht konvertierbar. Ein koloniales
Spielgeld zugunsten französischer Interessen, eine tägliche Demütigung. Sie
wird von den Menschen, die ich kennenlernte, ertragen, nicht akzeptiert.

9 Mar 2024

## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=cYbd9YhxEMg
[2] /Kommentar-BDS-Votum-im-Bundestag/!5596313
[3] /Voelkermordklage-gegen-Israel-in-Den-Haag/!5982867
[4] /Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616
[5] /Germanist-aus-Togo-ueber-Rassismus/!5978996
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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