|
Sie heißen Klara, Michelle, Solene und Susana, Daria, Rita oder Amélie.
Fünfzehn Synchronschwimmerinnen [1][mit Kaderstatus] trainieren im
Deutschen Schwimmverband für Großereignisse. Und [2][dann gibt es diesen
einen Mann], der auch mitmacht seit gut einem Jahr: Frithjof. Frithjof
Seidel. Während seine weiblichen Kolleginnen „Perspektivkader“ sind sowie
„Nachwuchskader“, muss Seidel als Einziger mit dem gemeinen Zusatz
„Ergänzungskader“ leben. In der Beschreibung des Verbandes heißt es: Solche
Sportler unterstützen die Olympiaaspirantinnen „wesentlich als wichtige
Trainingspartner“.
Diese Stellenbeschreibung schreckt Seidel nicht. Er ist neu. Er muss
lernen. Sich Dinge aneignen, die andere schon mit zehn gelernt haben. „Ich
musste erst das Gefühl fürs Wasser entwickeln“, sagt der 26-Jährige, „vor
allem die Paddeltechniken, die im Synchronschwimmen üblich sind, müsste ich
erst einüben.“ Und dann die langen Tauchphasen unter Wasser. Puh.
Bei den European Games tritt Seidel am Samstag in einer schwarzen Badehose
mit grünen Blätterapplikationen ans Becken der Schwimmhalle von Oswiecim,
Auschwitz. Das Vernichtungslager der Nazis ist Luftlinie drei Kilometer
entfernt, das Verbrechen hüllt den Ort für immer ein in eine toxische
Wolke. Seidel schlägt, noch außerhalb des Pools, einen Purzelbaum, seine
Partnerin im „Mixed Duett Free“, also einer Zweier-Kür, ist Michelle
Zimmer, die Seidel schon seit 2016, der EM in London, ganz gut kennt.
Sie trägt einen knappen Badeanzug in ähnlichem Look. Sie geben eine
Tarzan-und-Jane-Interpretation, jedenfalls lassen das Musik und Outfit
erahnen. Die Halle ist nicht besonders gut besucht. „Ich habe neben
Freunden und Familie der Schwimmerinnen ein paar polnische Zuschauer
gesehen, das fällt hier relativ klein aus“, sagt er.
## Japsender Neuling
Die Berliner legen los, springen ins Wasser, Seidel bleibt lange unter der
Oberfläche, hebt seine Partnerin in die Höhe und taucht dann, nun ja,
japsend auf. Der Mund ist weit offen, gierig saugt er Luft ein. Man sieht
ihm die Mühen des Novizen an. Aber die Darbietung ist durchaus gelungen,
hier und da hapert es in der Synchronizität, und die akrobatischen
Elemente, die katapultartigen Hebungen, hätten höher ausfallen können, weiß
eine Expertin, aber selbst der Viertelwissende erkennt: Das ist guter,
solider Leistungssport auf ansprechendem Niveau.
Das gemischtgeschlechtliche deutsche Duo landet dann nur auf dem sechsten
Platz, wird Vorletzter. Seidel hatte „im Mittelfeld“ ankommen wollen. Und
auch im anderen Zweier-Wettkampf, „Mixed Duett Technical“, reichte es am
Donnerstag nur für eine hintere Platzierung.
Aber der große Auftritt Seidels beziehungsweise jener mit der größten
medialen Wirkung erfolgte am Freitagvormittag, als er mit dem Team eine
Silbermedaille gewann. Drei Mannschaften waren nur am Start, weil die
Disziplin „Team Free Routine Combination“ nicht olympisch ist. Die
Italiener hatten vorm Wettkampf zurückgezogen, und so gewann Israel die
Goldmedaille, die Türkei Bronze. Die Presseagenturen vermeldeten eilig:
„Ein kleiner Schritt für Seidel, ein großer für den Sport: EM-Medaille für
den Synchronschwimmer.“ Er habe als „Pionier“ nun „Historisches“ geleistet.
Für den Verband, wird telegrafiert, sei es die erste Synchron-Medaille seit
40 Jahren gewesen.
Frithjof Seidel reagiert bescheiden auf die Komplimente. Überall werde
jetzt geschrieben, erster Mann und so, dabei sollte nicht vergessen werden,
„dass da auch neun Mädels dabei waren“, sagt er. „Aber na klar, Silber
bedeutet mir sehr viel nach so einer kurzen Zeit in dem Sport.“ Viele Jahre
ist Seidel als Leistungssportler der Bundeswehr vom Einmeter- und
Dreimeterbrett ins Wasser gesprungen, [3][hat Medaillen bei der Universiade
und bei Weltcup-Veranstaltungen gewonnen], aber er wollte mehr, höher
hinaus. „Da tat sich vor mir eine unüberwindliche Mauer auf. Es ging nicht
mehr so voran, wie ich mir das vorgestellt habe, was letztlich zu einer
großen Unzufriedenheit geführt hat, die ich lange mit mir herumgetragen
habe“, erklärt er. Selbst Gespräche mit einer Sportpsychologin hätten die
Blockade nicht lösen können, also kam der Entschluss: Leistungssport-Aus,
Abtrainieren, Tschö.
## Integration in Wasserspiele der Frauen
Bei einem Gespräch mit Michelle Zimmer erwähnte sie, dass Männer fürs
Synchronschwimmen gesucht werden. Immerhin können die seit 2015 bei
Weltmeisterschaften im Duett mitmachen, und heuer verkündete das
Internationale Olympische Komitee, dass im olympischen Teamwettbewerb zwei
Männer integriert werden dürfen in die Wasserspiele der Frauen. Frithjof
Seidel war sich nicht zu fein, in den Sport hineinzuschnuppern, probierte
aus, fand Gefallen daran. Und steht nun in einer Traditionslinie männlicher
Synchronschwimmer, die über 100 Jahre zurückreicht, dann verschütt ging und
erst mit den echten Pionieren dieses Sports, dem US-Amerikaner Bill May
[4][oder dem Deutschen Niklas Stoepel], eine Renaissance erlebt.
Die Funktionäre ließen sich erweichen, öffneten den Sport, der über
Jahrzehnte Domäne der Grazien war. Seidel, der offen über seine sexuelle
Orientierung spricht, mutmaßt, dass homosexuelle Athleten wegen des
„ästhetischen und ausdrucksstarken Sports vielleicht ein gewisses Händchen“
dafür hätten, aber er will das auf keinen Fall pauschalisieren, denn
Heteros tummeln sich ja auch im Becken, etwa der Italiener Giorgio Minisini
oder der Serbe Ivan Martinovic. Seidel wünscht sich nun schnell einen
Struktur- und Sinneswandel: „Sichtbarkeit schafft Bewusstsein. Je mehr
Männer man in diesem Sport sieht, desto mehr reift die Erkenntnis, dass
Synchronschwimmen eine für alle zugängliche Sportart ist.“
Einfach ist das nicht: Hallenzeiten sind rar, der Ergänzungskader vom SC
Wedding 1929 muss von seinem Ersparten leben, sich karg durch sein Studium
des Verkehrswesens, Vertiefung Luft- und Raumfahrttechnik, an der TU Berlin
und harte Trainingsstunden beißen. Und jeder, der sich lustig macht über
ihn und diesen Sport, solle nur mal zu einer Trainingseinheit kommen: „Die
Anforderungen sind wirklich immens, ich bin bis zu vier Stunden am Stück im
Wasser.“
25 Jun 2023
## LINKS
|