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Bonn/Berlin taz | Eigentlich hatten sich die Grünen auf eine Nachtschicht
eingestellt. In ihrem Ablaufplan gingen die Verantwortlichen davon aus, am
ersten Tag des Bundesparteitags bis mindestens um Mitternacht im Bonner
Konferenzzentrum zu verbringen. Als die Beratungen am späten
Freitagnachmittag beginnen, bittet das Tagungspräsidium noch mal explizit
um die Einhaltung der Redezeitbegrenzung – „damit wir nicht bis 3 Uhr hier
sitzen“. Am Ende wird es aber ganz anders kommen: Schon um 22:32 Uhr ist
Schluss, die letzte Abstimmung des Tages absolviert.
Wer hätte das gedacht. Debatten um unpopuläre Entscheidungen gab es in der
Partei zuletzt ja wieder vermehrt. Ein Abnicker-Verein wollen die Grünen
explizit weiterhin nicht sein. Kaum ein Redner, kaum eine Rednerin kommt in
Bonn ohne die Beteuerung aus, wie ernsthaft man doch um die richtigen Wege
in der Krise hadere, ringe, streite und diskutiere.
Da ist einerseits was dran. Andererseits sind die Grünen im Jahr 2022 aber
doch eine disziplinierte Partei: Bis kurz vor Beginn des Parteitags
verhandelten Antragssteller*innen, Antragskommission und Bundesvorstand
über Kompromisse, um offen ausgetragene Konflikte und Kampfabstimmungen zu
vermeiden. In den meisten Fällen gelang das, so dass etliche Streitfragen
auf der Parteitagsbühne gar nicht mehr verhandelt werden müssen.
Möglich wurde das zum Teil durch Abschwächungen ursprünglicher Forderungen,
zum Teil aber auch durch die Bereitschaft des Vorstands zu harten
Formulierungen – nicht zuletzt bei dem Thema, dass derzeit für den
[1][meisten Ärger mit dem Koalitionspartner FDP sorgt: der Atomkraft.]
## „Eine Zumutung“
Den Ton in dieser Debatte setzt Umweltministerin Steffi Lemke, die auch für
nukleare Sicherheit zuständig ist. Die Vorlage des Bundesvorstands sei
„eine Zumutung“, sagt sie – und dürfte damit vielen im Saal aus der Seele
gesprochen haben. Lemke betont die Gefahren der Atomkraft, teilt gegen die
Unionsspitze aus, die diese Gefahren verharmlose – und wirbt dann dafür,
den Antrag des Bundesvorstands anzunehmen.
„Jetzt stehe ich hier vor einem Grünen-Bundesparteitag und werbe um eure
Zustimmung für diese Zumutung“, sagt sie. Angesichts einer möglichen Krise
im Winter halte sie die Einsatzreserve aber für vertretbar.
Diese „Zumutung“ hatte zuvor Parteichefin Ricarda Lang vorgestellt und
dabei die Delegierten beschworen, nicht zu vergessen, warum die Grünen sich
dieser Debatte nun stellen müssten. „Wir führen diese Diskussion, weil
Wladimir Putin sich entscheiden hat, Energie als Waffe einzusetzen“, so
Lang. In den Antrag des Bundesvorstands waren kurz vor Beginn des
Parteitags noch zahlreiche Änderungen eingearbeitet worden, allein der
ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin hatte acht Änderungseinträge
gestellt – unter anderem für ein festes Enddatum eines möglichen
Streckbetriebs.
Jetzt sieht der Antrag vor, dass die beiden süddeutschen Atomkraftwerke
Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und
bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden. Das dritte noch
verbleibende AKW Emsland soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet
werden. Die Beschaffung neuer Brennstäbe, wie es FDP und Union fordern,
schließt der Antrag aus. „Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner
gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der neue Brennelemente, noch dafür
notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden sollen“, heißt es.
## Zähneknirschend zugestimmt
Der Gegenentwurf, der später auch zur Abstimmung stehen wird, will am
Atomausstieg zum Jahresende festhalten und spricht sich gegen Streckbetrieb
und Laufzeitverlängerung aus. „Wer garantiert uns, dass wir den 15.4. nicht
auch kippen?“, sagt einer der Unterstützer, der Delegierte Karl-Wilhelm
Koch aus der Vulkaneifel. Es sei gefährlich, den mühsam ausgehandelten
Ausstieg aus der Atomkraft aufzulösen.
Doch schon während der Debatte wird klar, dass die meisten Delegierten sich
– wenn auch zähneknirschend – hinter den Antrag des Bundesvorstands
stellen. Was bleibt ihnen auch? Mit einer Ablehnung würden sie nicht nur
ihre Bundesspitze, die gerade erst seit acht Monaten im Amt ist, massiv
schwächen, sondern auch Robert Habeck, ihren wohl wichtigsten Minister, auf
offener Bühne demontieren. Dieser hatte die AKW-Reserve vorgeschlagen und
zuletzt deutlich gemacht, dass er davon ausgeht, dass ein Weiterbetrieb
nötig werden wird.
Habeck greift auch selbst in die Debatte ein. Die beiden Atomkraftwerke,
sagt er, könnten im kommenden Winter einen sehr begrenzten Beitrag zur
Sicherung der deutschen Stromversorgung leisten. Deshalb bitte er „als
Minister, der am Ende für die Versorgungssicherheit zuständig ist“, um
Zustimmung.
Am Ende nehmen die Delegierten mit großer Mehrheit den Antrag des
Bundesvorstands an. Damit stärken sie Habeck den Rücken, lassen ihm aber
auch keinen Spielraum für weitere Zugeständnisse an die FDP. Die
Parteispitze hatte kurz vor dem Beginn des Parteitages betont, dass die
Entscheidungen für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend seien.
„Warum sollen wir sie sonst beschließen?“, sagte Parteichef Omid Nouripour.
## Solidarität und Wut
Noch mehr zu tun als zum Tagesordnungspunkt Atomkraft hatte die
Antragskommission vorab mit dem Leitantrag des Vorstands zu Inflation,
Wirtschaftskrise und sozialem Ausgleich. Zu ersterem waren 22
Änderungsanträge eingegangen, zu letzterem ganze 75. Bis zum Beginn des
Parteitags gelang es aber in allen Fällen, einen Kompromiss auszuhandeln.
Mögliche Streitpunkte sind weitestgehend abgeräumt, als die Debatte am
Freitag beginnt.
„Machen wir aus dem Winter der Wut einen Winter der Solidarität“, fordert
Co-Parteichefin Ricarda Lang in ihrer halbstündige Rede. Standing Ovations
wird sie danach erhalten, ihr Beitrag kommt gut an in der Halle.
In der Rede zählt sie auf, was die Ampel bisher an Entlastungsmaßnahmen auf
den Weg gebracht hat. Sie betont, dass die Grünen vieles davon
vorangetrieben hätten und nicht etwa die SPD. Sie bekennt, dass das bisher
beschlossene trotzdem noch nicht reiche. Und sie versucht sich an einer
Erzählung, in der Verteilungsfragen zentraler Teil grüner Politik sind: Im
Kern gehe es Grünen um Gerechtigkeit, das gelte beim Geld genauso wie beim
Klima oder im Feminismus.
Lang, seit Jahresbeginn im Amt, setzt seit langem auf ein sozialpolitisches
Profil. Sie entwickelt sich zum Gesicht der Partei in einem Bereich, indem
den Grünen traditionell wenig Vertrauen entgegengebracht wird, was ihr
wiederum gerade jetzt in der Krise Probleme bereiten kann. Ganz zutreffend
ist das Image der Grünen als Partei für Wohlhabende zwar nicht mehr, das
beweisen auch viele andere Beiträge in der Debatte auf dem Parteitag.
## Unterschiedliche Akzente
Andererseits gibt es aber auch Spitzengrüne, die ihre Akzente ganz anders
setzen als Lang. „Ricarda hat von der sozialen Not gesprochen und so ist
es“, sagt zwar Robert Habeck in seiner Rede zum Inflations-Antrag. Viele
Menschen wüssten nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Dann ist
das Thema bei ihm aber auch schon erledigt und er, ganz
Wirtschaftsminister, geht über zu den Problemen der Wirtschaft, Noch
aufmerksamer als bei Habeck muss man bei einer Videobotschaft von
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann zuhören, um
zumindest einen Halbsatz zur Sozialpolitik zu erhaschen.
Was aber beschließt der Parteitag am Ende? In den Leitantrag übernommen
wird zum Beispiel die Forderung nach einem Mietmoratorium: In Städten mit
angespanntem Wohnungsmarkt sollen Mieterhöhungen in der Krise für sechs
Monate verboten werden. Die Grünen wollen auch höhere Regelsätze für das
neue Bürgergeld. Eine konkrete Summe wird im letztlich beschlossenen Antrag
zwar nicht genannt, dafür aber eine grundlegende Neuberechnung der Sätze.
Und die Grünen fordern jetzt, dass in der Krise „auch Menschen mit sehr
hohen Vermögen etwas abgeben“. Auf einen [2][Änderungsantrag von
Bundestagsvizepräsidenten Katrin Göring-Eckardt] geht dieser Beschluss
zurück. Wegverhandelt hat der Bundesvorstand allerdings die konkrete
Benennung des Instruments, das sich die Ex-Fraktionschefin gewünscht hatte:
eine Vermögensabgabe.
Allein schon für den Antrag war die Bild-Zeitung die Grünen angegangen. Aus
der FDP kamen Warnungen vor „Arbeitsplatzvernichtung“ und „Ideologie“. Auch
hier noch einen harten Konflikt einzugehen: Das wagen die Grünen bei aller
Liebe zur Gerechtigkeit offenbar nicht.
15 Oct 2022
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