# taz.de -- Forschung für Alzheimer-Medikamente: Eine Theorie zum Vergessen

> Trotz der jüngsten Zulassung eines Mittels gegen Alzheimer: Es ist
> höchste Zeit, sich der schweren Demenzerkrankung nochmals neu zu nähern.
Es war am 10. Juni dieses Jahres, als Aaron Kesselheim das Spiel nicht mehr
mitspielen wollte. Als dritter Experte verließ der Medizinprofessor der
Harvard University in Boston, Massachusetts, ein Beratungsgremium, das die
US-Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) zu neuen Therapien für
neurodegenerative Erkrankungen berät. Kurz zuvor hatte sich das Komitee
fast geschlossen gegen die Zulassung eines Alzheimermedikaments
ausgesprochen, dem ersten Mittel gegen die [1][gefürchtete und häufige Form
der Demenz], das seit vielen Jahren auf den Markt drängte.

Doch die FDA ignorierte das Votum seiner eigenen Experten – und ließ die
Arznei mit dem Markennamen Aduhelm in einem beschleunigten Verfahren zu.
Während viele Patient:innen und Ärzt:innen jubelten, schrieb
Kesselheim in einem Brief an die FDA, das grüne Licht für Aduhelm sei die
„schlimmste Entscheidung über eine Medikamentenzulassung in der jüngeren
US-Geschichte.“ Was war da passiert?

Es geht um mehr als eine Fehlentscheidung und es geht um mehr als ein
Medikament, das umstritten ist, weil robuste Belege für seine Wirksamkeit
fehlen. Aduhelm mit seinem schwer auszusprechendem Wirkstoff Aducanumab
vereint vielmehr alle Probleme, unter der die Alzheimerforschung derzeit
leidet.

Da ist der Druck, einer wachsenden Zahl von Patienten nach drei Jahrzehnten
intensiver Forschung [2][endlich eine mehr oder weniger effektive Arznei]
anzubieten und die horrenden Forschungsgelder wieder wettzumachen. Da
waren, nicht nur im Fall von Aducanumab, zuletzt viele klinische Studien
mit niederschmetternden Resultaten. Vor allem aber ist da ein Tunnel, in
den sich die Forschung schon vor langer Zeit hineinbegeben hat und aus dem
sie trotz wachsender Kritik in den vergangenen Jahren nicht mehr
herauszufinden vermochte.

## Eine über 100 Jahre alte Idee

Fast alle Medikamente, die seit den 1990er Jahren gegen Alzheimer
entwickelt werden, fußen auf der immer gleichen Idee, Eiweißablagerungen im
Gehirn von Erkrankten seien für den geistigen Verfall der Erkrankten
verantwortlich. Entdeckt hatte diese Ablagerungen schon Alois Alzheimer
höchstselbst, als er vor mehr als 100 Jahren das Gehirn seiner toten
Patientin Auguste Deter untersuchte. Schon Alzheimer glaubte, der heillose
mentale Zustand von Auguste und die Zerstörungen in ihrem Hirngewebe
müssten von den Plaques, den Ablagerungen herrühren.

Es sollte zwar noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Eigenschaften der
Plaques, die sich auch im Gehirn vieler anderer Demenzkranker fanden,
genauer analysiert werden konnten. Heute sind jedoch sehr viele molekulare
Details bekannt: zu dem Eiweiß selbst, das Beta-Amyloid heißt und den
wasserunlöslichen Rest eines abgebauten größeren Eiweißes darstellt. Zu den
Enzymen, die an der Entstehung von Beta-Amyloid beteiligt sind. Oder zu den
Genen, welche die Enzyme und andere beteiligte Biomoleküle kodieren.

An der Vermutung, die Ablagerungen seien die Ursache der von Alzheimer
entdeckten Demenz, änderte sich dabei wenig. Entsprechend suchte man
Arzneien, die Beta-Amyloid beseitigen oder seine Entstehung gleich ganz
verhindern – und damit auch Alzheimer stoppen.

Aducanumab ist nicht das erste Mittel, das dieses Versprechen in den
vergangenen Jahren einlösen sollte. Andere heißen Solanezumab, Lecanemab,
Donanemab, Crenezumab und Gantenerumab. Die Ähnlichkeit der
zungenbrecherischen Namen verrät, dass es sich bei all diesen Medikamenten
um sogenannte Antikörper handelt. Es sind Biomoleküle, wie sie auch
natürlich im menschlichen Körper vorkommen. Sie heften sich jeweils
hochspezifisch an sehr kleine Strukturen und lassen sich mittlerweile
gezielt im Labor als Medikament herstellen, zum Beispiel, um Coronaviren im
Körper abzufangen – oder um Eiweißmüll im Gehirn einzusammeln.

## Müllsammler im Gehirn

Letzteres tun Aducanumab und Co tatsächlich. Schon in den ersten Studien an
Patient:innen zeigten Scans einen Rückgang der
Beta-Amyloid-Ablagerungen. Die Euphorie kannte fast keine Grenzen. Die
Enttäuschung allerdings auch nicht. Wie sich zeigte, kann der Räumeffekt
Alzheimer nicht wie erwartet stoppen.

Zahlreiche Wirksamkeitsstudien zu den „mabs“ mussten vorzeitig abgebrochen
werden. Sowohl Solanezumab von Eli Lilly als auch Gantenerumab von Roche,
Crenezumab von Genentech und schließlich auch Aducanumab von Biogen
versagten in den entscheidenden Tests an echten Patient:innen. Der geistige
Verfall wurde trotz Plaqueräumung nie zum Halten gebracht, geschweige denn
umgekehrt. Und während die Hersteller nicht aufgeben wollten und weiter
versuchten, aus ihre Daten zulassungsrelevante Mini-Effekte
herauszurechnen, zogen nicht wenige den Schluss, dass der Angriff auf
Beta-Amyloid gescheitert sei, zumindest als alleiniger Ansatz.

Viele Wissenschaftler:innen des Felds fordern schon länger ein
Umdenken. Einer von ihnen, der Neurobiologe Karl Herrup, hat seine Kritik
an der verbohrten Alzheimerforschung sogar als Buch aufgeschrieben. „Wie
man eine Krankheit nicht erforscht“ lautet der Titel, es ist erst [3][vor
wenigen Wochen erschienen (MIT Press)] und beschreibt detailliert, an
welchen Punkten die Forschung auf ihrem Weg zu einem Alzheimermedikament
entscheidende Abzweigungen verpasst hat. Zugleich versucht Herrup, der an
der University of Pittsburgh School of Medicine lehrt und selbst zu
Alzheimer forscht, Wege zu neuen Ansätzen zu zeigen. Wege, die dem
Charakter der schwer zu definierenden Krankheit Alzheimer womöglich sehr
viel gerechter werden als die Suche nach der besten pharmakologischen
Müllabfuhr.

Herrup ist nicht allein mit dem Wunsch, die simpel gestrickte
Beta-Amyloid-Hypothese durch ein holistisches Modell der
Alzheimerentstehung zu ersetzen, eines, in dem das komplexe Zusammenspiel
vieler verschiedener Zellen im Gehirn angemessen berücksichtigt wird.
Darunter sind Zellen, die Entzündungen bekämpfen, die Nervenzellen stützen,
ernähren und Ordnung schaffen. Sie kommunizieren über Botenstoffe, sorgen
für Nachschub an lebenswichtigen Ionen und transportieren auch den Müll aus
dem Gehirn. Bislang wurden sie im Zusammenhang mit Alzheimer kaum beachtet.

## Zweifel bereits seit Jahren

Bart de Strooper und Eric Karran von der Universität Leuven und dem
University College in London [4][schrieben allerdings schon vor fünf Jahren
im Fachblatt Cell], es müsse nach Jahrzehnten der Forschung an
symptomatischen Alzheimerpatient:innen nun darum gehen, die
biochemischen Prozesse der frühen Erkrankungsphase zu verstehen – jener
Phase, in der das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Zellen im Gehirn
zu wanken beginnt.

Dazu seien Methoden jenseits der Genetik und der Proteinbiologie
erforderlich. „Alzheimer ist tatsächlich kein biochemisches oder
molekulares Problem, sondern ein physiologisches Problem der gestörten
Konnektivität zwischen Zellen“, schreiben die Neuroforscher in ihrem Text.
„Die Krankheit kann deshalb nur im Kontext dieser komplexen zellulären
Interaktionen verstanden werden, die das Gleichgewicht im Gehirn bewahren.“
Single-Cell-Techniken und Netzwerkanalysen seien die Zukunft.

Die Zulassung von Aduhelm könnte angesichts der heftigen Kritik deshalb
wohl etwas ganz anderes zeitigen, als Big Pharma es sich erträumt hatte.
Nicht den Beginn einer neuen therapeutischen Zeit, sondern das durchaus
bittere Ende einer Forschungsära, auf das nun endlich ein guter Neuanfang
folgen muss. Die Beseitigung von Beta-Amyloid wird in diesen umfänglichen
Modellen sicher weiterhin eine Rolle spielen, aber nur ein Puzzleteil von
vielen sein. Und wenn es gut läuft, gibt es in naher Zukunft dann eine
Zulassung, die auch von den zu Rate gezogenen Experten empfohlen wird.

20 Nov 2021

## LINKS
[1] /Internationale-Studie-der-WHO/!5798637
[2] /Kein-Mittel-gegen-Alzheimer/!5721146
[3] https://mitpress.mit.edu/books/how-not-study-disease
[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26871627/
## AUTOREN
Kathrin Zinkant
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